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Salon Albert

Hallo alle zusammen!

Es ist toll, euch wieder zu sehen! Wie ich sehe, kommen mit jedem Mal mehr Zuhörer.
Wenn ihr das Intro gelesen habt, wisst ihr, dass es mir in der Sahara eindeutig zu heiß und trocken ist. Um mich ein bisschen abzukühlen, möchte ich euch deshalb heute einen Autoren vorstellen, der über den großen Seefahrer und Entdecker John Franklin ein Buch geschrieben hat. Der Autor heißt Sten Nadolny und das Buch Die Entdeckung der Langsamkeit.
Obwohl der Titel etwas abschreckend klingt, zumindest wenn man Renn- oder Weltraumfahrer ist, hatte das Buch bisher einen riesigen Erfolg. Es wurde in alle Weltsprachen übersetzt und erhielt einige Preise. Als es 1983 mit seiner Erstveröffentlichung für Aufsehen sorgte, wollte plötzlich jeder zu den Langsamen gehören: "Was, du läufst 100 Meter in 11 Sekunden? Spare dir die 11 Sekunden lieber für etwas Wichtigeres auf!"

Im Unterschied zu den Autoren, die ich euch die letzten Male vorgestellt habe, lebt Sten Nadolny immer noch. Er ist gerade mal 62 Jahre! Das ist gar nichts im Vergleich zu E.T.A. Hoffmann, der heute 228 Jahre alt wäre. Trotzdem gehört Nadolny vom Alter her natürlich eher eurer Großeltern- als eurer eigenen Generation an. Die ersten drei Jahre seines Lebens hat er immerhin noch die unruhige, chaotische und angstvolle Atmosphäre des zweiten Weltkriegs mitbekommen. Danach erlebte er die entbehrungsreiche Nachkriegszeit, dann die prallen Wirtschaftwunderjahre, bis er schließlich mit euch im Jetzt angekommen ist.
Während ich euch das erzähle, fällt mir auf, dass auch Nadolnys Seefahrer Franklin all dies erlebt hat: Chaos, Krieg, Entbehrung und Reichtum.

Vielleicht interessierte sich Nadolny aus diesem Grund für John Franklin und er hatte Lust, ein Buch über ihn zu schreiben?
Vielleicht - und das entspricht nun eher der Meinung Nadolnys selbst - ist es aber auch genau umgekehrt: Das noch ungeschriebene Buch mit der Geschichte von John Franklin hat sich den Autor Sten Nadolny ausgesucht, um von ihm geschrieben zu werden!
Das ist natürlich schwer zu verstehen. Wenn man ehrlich ist, hört es sich auf den ersten Blick sogar wie ein unglaublicher Quatsch an!
Zugegeben, auch auf den zweiten Blick kann man diese Logik erst verstehen, wenn man die postmoderne Theorie, die hinter dieser Auffassung steckt, ein bisschen kennt.
Eine Hauptthese der postmodernen Literaturtheorie besagt nämlich: Der Autor ist tot. Es lebe der Text. Damit ist natürlich nicht der reale Autor gemeint, sondern nur die Idee eines Autors, die den Autor als originellen Schöp
fer der Texte darstellt.
Wichtig ist in der Postmoderne also nicht mehr der Autor, sondern der konkrete Text, der Erzählstoff. Der Erzählstoff ist natürlich je nach Zeit und Thema anders. Die Ereignisse der Zeit prägen den Erzählstoff und das Thema wesentlich, und der Autor schreibt es nur auf. Ob das der Autor X oder Y macht, ist aus dieser Sicht völlig egal.
Vor diesem Hintergrund ist Nadolny also zu verstehen, wenn er meint, dass der Erzählstoff den Erzähler lenkt und nicht umgekehrt.

Warum Anhänger der Postmoderne überhaupt auf die Idee gekommen sind, dass der kreative Autor tot ist, kann ich euch hier nicht in zwei Sätzen erklären.
Ich kann euch nur so viel verraten: Wenn ihr euch für jemand anderen als euch selbst haltet, seid ihr in der Postmoderne angekommen!

Doch jetzt will ich euch nicht länger mit meinen Vorträgen verwirren und lese euch deshalb lieber schnell einen Auszug aus dem Roman Die Entdeckung der Langsamkeit vor. Und zwar beginne ich ganz vorne, am Anfang des ersten Teils "John Franklins Jugend":

Das Dorf

John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte. Er hielt für die anderen die Schnur. Vom tiefsten Ast des Baums reichte sie herüber bis in seine empor gestreckte Hand. Er hielt sie so gut wie der Baum, er senkte den Arm nicht vor dem Ende des Spiels. Als Schnurhalter war er geeignet wie kein anderes Kind in Spilsby oder sogar in Lincolnshire. Aus dem Fenster des Rathauses sah der Schreiber herüber. Sein Blick schien anerkennend.
Vielleicht war in ganz England keiner, der eine Stunde und länger nur stehen und eine Schnur halten konnte. Er stand so ruhig wie ein Grabkreuz, ragte wie ein Denkmal
. "Wie eine Vogelscheuche!" sagte Tom Barker.
Dem Spiel konnte John nicht folgen, also nicht Schiedsrichter sein. Es sah nicht genau, wann der Ball die Erde berührte. Er wusste nicht, ob es wirklich der Ball war, was gerade einer fing, oder ob der, bei dem er landete, ihn fing oder nur die Hände hinhielt. Er beobachtete Tom Barker. Wie ging denn das Fangen? Wenn Tom den Ball längst nicht mehr hatte, wusste John: das Entscheidende hatte er wieder nicht gesehen. Fangen, das würde nie einer besser können als Tom, der sah alles in einer Sekunde und bewegte sich ganz ohne Stocken, fehlerlos.
Jetzt hatte John eine Schliere im Auge. Blickte er zum Kamin des Hotels, dann saß sie in dessen oberstem Fenster. Stellte er den Blick aufs Fensterkreuz ein, dann rutschte sie herunter auf das Hotelschild. So zuckte sie vor seinem Blick her immer weiter nach unten, folgte aber höhnisch wieder hinauf, wenn er in den Himmel sah.
Morgen würden sie zum Pferdemarkt nach Horncastle fahren, er fing schon an sich zu freuen, er kannte die Fahrt. Wenn die Kutsche aus dem Dorf fuhr, flimmerte erst die Kirchhofsmauer vorbei, dann kamen die Hütten des Armenlandes Ing Ming, davor Frauen ohne Hüte, nur mit Kopftüchern. Die Hunde waren dort mager, bei den Menschen sah man es nicht, die hatten etwas an.
Sherard würde vor der Tür stehen und winken. Später dann das Gehöft mit der rosenbewachsenen Wand und dem Kettenhund, der seine eigene Hütte hinter sich herschleifte...(Albert legt
das Buch kurz aus der Hand, um einen Schluck Wasser zu trinken und fährt dann an einer anderen Stelle fort zu lesen.)
"Tranfunzel", hörte John sagen. Tom Barker stand vor ihm, beobachte ihn durch halbgeschlossene Augen und zeigte Zähne. "Lass ihn!" rief der kleine Sherard dem schnellen Tom zu, "der kann doch nicht wütend werden!" Aber das wollte Tom eben herausfinden. John hielt die Schnur wie zuvor und sah Tom ratlos ins Auge. Der redete nun mehrere Sätze, so rasch, dass kein Wort zu verstehen war. "Verstehe nicht", sagte John. Tom deutete auf Johns Ohr, und weil er schon so nahe dran war, packte er es und zog am Ohrläppchen. "Was soll ich?" fragte John. Wieder viele Worte. Dann war Tom weg, John versuchte sich umzudrehen, obwohl ihn jemand festhielt. "Lass doch die Schnur los!" rief Sherard. "Ist der blöd!" schrieen die anderen. Jetzt traf der schwere Ball gegen Johns Kniekehlen. Er fiel um wie eine zu steil gestellte Leiter, erst langsam und dann mit Wucht. Von der Hüfte und vom Ellenbogen her breitete sich Schmerz aus. Tom stand wieder da, nachsichtig lächelnd. Halblaut sagte er, ohne den Blick von John abzuwenden, etwas zu den anderen, wieder mit dem Wort "schläft". John brachte sich wieder in die Höhe, die Schnur immer noch in der empor gestreckten Hand, daran wollte er nichts ändern. Vielleicht stellte sich die vorige Lage wie durch ein Wunder wieder her, und was dann, wenn er die Schnur hatte sinken lassen. Die Kinder kicherten und lachten, es klang wie Federvieh. "Hau ihm mal eine rein, dann wacht er auf!" "Der tut nichts, der glotzt nur." Dazwischen stand immer irgendwo Tom Barker und sah unter den gesenkten Wimpern hervor. John musste seine Augen weit aufreißen, um alles im Blick zu behalten, denn der andere wechselte ständig den Standort. Behaglich war das nicht, aber weglaufen wäre feige gewesen, auch konnte er gar nicht rennen, und außerdem hatte er nicht die geringste Angst. Schlagen konnte er Tom aber nicht. Blieb also nur übrig, ihm nachzugehen. Ein Mädchen rief: "Wann lässt der endlich die Schnur los?" Sherard versuchte Tom festzuhalten, aber er war zu klein und zu schwach. Während John das noch zu sehen meinte, zog ihn jemand von hinten an den Haaren. Wie war Tom dorthin gekommen, da fehlte schon wieder ein Stück Zeit. Er drehte sich um, stolperte, und auf einmal lagen sie alle beide am Boden, denn Tom war mit dem Bein in die Schnur verheddert, und die hielt John jetzt wieder fest. Tom wandte sich um und stieß John die Faust gegen den Mund, kam wieder frei und tauchte weg. John fühlte, dass in der oberen Zahnreihe einer wackelte. Das war der Friede nicht! Er tappte energisch hinter Tom her wie eine ferngelenkte Puppe. Nutzlos fuhrwerkte er mit den Armen, als wolle er den Feind nicht schlagen, sondern fortwedeln. Einmal hielt ihm Tom das Gesicht richtig hin mit höhnischer Miene, aber Johns Hand blieb in der Luft stehen wie gelähmt, wie das Denkmal einer Ohrfeige. "Der blutet ja!" "Geh doch nach Hause, John!" Den Kindern wurde es peinlich. Auch Shrerard mischte sich wieder ein: "Der kann sich doch nicht richtig wehren!" John ging weiter hinter Tom her und angelte nach ihm, aber ohne Überzeugung. Sie waren vielleicht nicht alle gegen ihn auch wenn sie lachten und gespannt zusahen, aber einen Moment lang konnte John nicht mehr einsehen, warum die Gesichter von Menschen so aussahen: fletschende Zähne, seltsam geweitete Nasenlöcher, auf- und zuklappende Augenlider, und einer wollte immer noch lauter sein als der andere. "John ist wie eine Hobelbank", rief einer, vielleicht Scherard, "wenn er einen packt, dann hält er ihn fest!" Aber eine Hobelbank kriegt keinen der sich dünn macht. Es wurde langweilig.
Tom ging einfach weg, hoheitsvoll und nicht zu rasch, von John gefolgt, soweit die Schnur reichte. Dann gingen die anderen. Sherard sagte noch tröstend: "Tom hat Angst gekriegt!"
Die Nase war verkrustet und schmerzte. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er den Milchzahn, nach dem die Zunge in der Lücke noch vergebens tastete. Der Kittel war blutig. "Guten Tag, Mr. Walker!" Der alte Walker war längst vorüber, als John das herausbrachte."

Albert klappt das Buch zu und schaut in die Runde. Niemand sagt etwas.

Erst nach einer Weile seufzt Palmina: "Ich stelle mir Johns Leben schrecklich vor! So in der Welt zu stehen und nichts zu begreifen. Das ist wie in einem Alptraum, wenn man die Augen nicht öffnen kann, obwohl einer einen verfolgt. Und es war 1983 wirklich chic, so langsam zu sein?"

"Na ja. Das nicht gerade", gibt Albert zu. "Sicher wollte niemand so sein wie John Franklin als er jung war. Aber später wurde er immerhin ein weltberühmter Seefahrer und Entdecker!"

"Was hat er denn entdeckt?" fragt Palmina vorwitzig. "Die Langsamkeit?"

"Tatsächlich!" antwortet Albert erstaunt. "Du bist wirklich klug, Palmina! John Franklin hat wirklich die Langsamkeit entdeckt. Oder besser gesagt: Er hat entdeckt, dass er sich mit seiner eigenen Langsamkeit abfinden muss. Dass er sie zu seinem ganz persönlichen Prinzip machen muss, wenn er überleben und erfolgreich sein will."

"Das mag für ihn selbst ja stimmen. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die andern ihn deshalb plötzlich nicht mehr so lahm und begriffsstutzig empfunden haben."

"Ich lese am besten noch ein Stück aus dem Buch vor. Vielleicht verstehst du dann besser, warum man mit Langsamkeit auch ans Ziel kommen kann."

Albert blättert ein bisschen im Roman herum, räuspert sich und liest schließlich weiter:

"...John fing das Bild eines hellen, fremden Stiefels auf, der plötzlich hereinfuhr und Halt fand, eine schnelle, bedrohliche Bewegung, über der John, weil das Bild in ihm stehen blieb, alle weiteren Vorgänge nicht erfasste. Sein Kopf dachte automatisch: Wir zeigen es ihnen!, denn dies war die Situation, an die er gedacht hatte, als er dem Satz zum erstenmal begegnet war. Das nächste, was er sah, war der geöffnete Mund ebendieses Mannes und seine, Johns, Daumen an dessen Hals. Irgendein Zufall hatte den anderen zum Unterliegen gebracht, jetzt konnte er ihn fassen, er!
Wenn John einen gepackt hatte, gab es kein Entkommen. Nun sah er an der unteren Peripherie seines Blicks die Pistole auftauchen. Das lähmte sofort. Er sah gar nicht hin, behielt lieber seine starken Daumen im Auge, als könnte er ihnen damit den Sieg über die Pistole erzwingen, die sich, nicht zu leugnen, auf seine Brust richtete. Im Kopf begann sich eine einzige Sorge gegen alle anderen durchzusetzen, sie wuchs und wuchs. Sie hielt keinerlei Grenzen ein, sie explodierte: der konnte sofort abdrücken und ihn töten, dass er sterben musste oder langsam brandig zugrunde ging. Das war jetzt da, kein Ausweichen möglich. Es stand bevor und war nicht abzuwandeln. Ganz klar fühlte John plötzlich, wo sein Herz saß, wie jeder, der weiß, dass der Tod perfekte Sache ist. Warum konnte er nicht die Pistole wegschlagen oder sich zur Seite werfen? Unerfindlich, aber er konnte nicht! Er hatte den da an der Kehle und dachte nur, dass einer, der erstickt ist, keine Pistole mehr abfeuert. Dass aber einer, der noch nicht erstickt ist, sondern am Ersticken, weil ihn ein anderer würgt, die Pistole erst recht abfeuert, ja, das wollte John vielleicht denken, konnte aber nicht, denn hier stellte sich sein Gehirn bereits tot. Lebendig blieb nur die Vorstellung, durch fortgesetztes äußerstes Würgen jener Kehle die Gefahr zu bannen. Der andere schoss immer noch nicht.
Es war ein Mann, für einen Soldaten alt, bestimmt über vierzig. John hatte noch nie auf jemandem gekniet, noch nie auf jemanden heruntergesehen, der sein Vater hätte sein können. Die Kehle war warm, die Haut weich. John hatte noch nie einen Menschen so lange angefasst. Jetzt war das Chaos wirklich da, die Schlacht innerhalb seines Körpers. Denn die Nerven, die zu seinen Fingern gehörten, fühlten während des Zudrückens ein Entsetzen über diese Wärme und Weichheit. Sie fühlten, wie die Kehle - schnurrte! Sie vibrierte, zart und elend, ein tief elendes Schnurren. Die Hände waren entsetzt, aber der Kopf, der die Erniedrigung des Getötetwerdens fürchtete, dieser Verräterkopf, der dabei noch falsch dachte, tat, als verstünde er nichts.
Die Pistole fiel herunter, die Beine hörten auf zu treten, der Mann rührte sich nicht mehr. Schusswunde an der Schulter, helles Blut."

"Alles, was ich daraus sehen kann", sagt Palmina triumphierend, "ist, dass er inzwischen das Töten gelernt hat. Aber das ist kein Erfolg. Das ist sogar ganz im Gegenteil ein Misserfolg!"

"Das stimmt", meint Albert: "Das hat er sogar selbst so gesehen und jahrelang darunter gelitten. Aber er hat immerhin gelernt sich zu verteidigen. Er hat inzwischen gelernt, die meisten Dinge, die in kurzer Zeit um ihn herum passiert sind, einfach auszublenden und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. John nennt das seinen starren Blick."

"Das war nicht sein starrer Blick. Das war Zufall, dass er den anderen erwischt hat. Das hast du selbst vorgelesen."

"Du willst es einfach nicht wahrhaben, dass er seine Langsamkeit zu gebrauchen lernt."

"Und dir gelingt es nicht, mich mit den vorgelesenen Auszügen zu überzeugen! Lese mir die richtigen Textstellen vor und ich werde noch einmal über dein Prinzip Langsamkeit nachdenken."

Albert schaut etwas säuerlich. Er ist es zwar gewohnt, dass Palmina anderer Meinung ist als er. Aber dass Palmina ihn für unfähig hält, die richtigen Stellen aus dem Buch vorzulesen, findet er doch etwas ungehörig.
Er blättert ausgiebig in seinem Buch, trinkt einen Schluck Wasser, rückt seine Brille zurecht und sagt dann: Ich lese euch jetzt eine Stelle vor, in der John Franklin bereits Kapitän ist und mit drei Schiffen zum Nordpol aufgebrochen ist. Das Schiff "Dorothea" droht im Packeis zerdrückt zu werden. Die Textstelle erzählt, wie er das Schiff und die Mannschaft durch seine Langsamkeit rettet:

"Wie konnte man der Dorothea helfen? Erst einmal hinaufkommen über die Glaswände! Der erste sprang von der vorderen Bramrah auf die Eiskante hinüber, Spink natürlich, laut lachend. Er schlug eine Talje an, mit der Menschen Gerät, loses Tauwerk und vor allem das gesamte Ankertau der Trent hinaufgehievt werden konnten. John Franklin hatte wieder einen Plan, daran gab es keinen Zweifel. Niemand hielt es für nötig, irgendwelche Fragen zu stellen. Nur Beechey, der beim Schiff bleiben musste, sagte kurz: "Viel Glück, Sir! Ich wette, Sie kriegen alle aus dem Wrack." "Aber nein", antwortete John, "wir kriegen das Schiff in Sicherheit. Hundert Schritte vor ihrem Bug ist eine Einfahrt wie die unsrige." Back hatte zugehört: "Woher wissen Sie das?"
"Sir. Ich werde mit Sir angeredet", antwortete John betont langsam. "Die Einfahrt habe ich gesehen."

Eine halbe Stunde kämpften sie sich über die zerklüfteten Hochfläche des Eises, dann waren sie auf der Klippe über der Dorothea. Tief unten wälzte sie sich noch immer gegen die Eiswand, längst umgeben von den Trümmern ihrer Rahe und Spieren und eines ihrer Boote - wie viele mochten bereits umgekommen sein?
In großer Eile wurde das Ende des Ankertaus zur Dorothea gefiert und einige Zeit später ein Widerlager rund um die mächtige Kuppe jenseits der Fjords ins Eis gehackt. Gut, dass Buchan rasch verstand. Die Ankerseile wurden zu einem verspleißt, am Fuß des Fockmastes belegt und droben im Eis durch die Führung des Widerlagers gezogen. Der Sturm ließ etwas nach, aber die Dünung war furchtbar wie zuvor.
Fünfundzwanzig Mann standen in den vorgehackten Trittlöchern und stemmten sich ins Seil. Das Schiff rührte sich kaum von der Stelle. Allenfalls zollweise. John teilte zwei Schichten ein und zog die Uhr aus der Tasche. Jede Gruppe schuftete zehn Minuten, dann war die andere dran. Wer das Seil losließ, sank um wie bewusstlos, einige erbrachen sich. Vermutlich wurde das Schiff durch das einströmende Wasser immer schwerer. John ließ alles vorbereiten, um die Überlebenden vom Wrack zu holen, und die erschöpfte Mannschaft fand, man sollte lieber gleich damit anfangen.
"Schon zwei Stunden!" keuchte Kirby mit fahlem Gesicht. "Wir müssen sie aufgeben."
"Er hat kein Zeitgefühl!" keuchte Reid zurück. Wenn er Atem gehabt hätte, hätte er noch mehr gesagt. Eine Stunde später konnte er auch den ersten Satz nur noch denken, reden war keinem mehr möglich. Die ganze Zeit zog John mit am Seil, obwohl es sich für einen Offizier nicht schickte. Aber ihn fror an seinem nackten Arm.
Mit einem Mal kam das Schiff! Länge um Länge schob es unter der Klippe weiter voran. Jetzt ließ Buchan vorn die Segel klarmachen und, als die Dorothea vor der Lücke lag, entfalten. Mühsam schlurfte die halbzerschlagenen Brigg in die Einfahrt, einem vollgesogenen Schwamm ähnlicher als einem Schiff Seiner Majestät.
Gerettet! Ein einziges Boot verloren, aber zwei Schiffe gerettet und alle Mann wohlauf.
Back ging zu John Franklin und sagte: "Sir, ich bitte Sie um Entschuldigung. Wir verdanken Ihnen das Leben."

"Ich glaube, jetzt verstehe ich, was du meinst", sagte Palmina nachdenklich, als Albert das Buch zuschlägt. "Schnelligkeit hat auch etwas mit Ungeduld zu tun. Wenn etwas nicht klappt, gibt man auf oder rennt in die falsche Richtung."

"Hm!" stimmt Albert zu. "Man will sich gar nicht auf die Dinge einlassen. Man rennt und rennt und merkt gar nicht, dass man dabei vieles übersieht. Wenn einem dann später etwas fehlt, muss man den Weg nochmals zurückgehen und hat im Vergleich zum Langsamen überhaupt keine Zeit gespart! Manchmal ist der Schnelle langsamer am Ziel als der Lahme!"

"Das erinnert mich an Momo von Michael Ende. Zu Meister Hora kommt man auch umso schneller, je langsamer man geht. Deshalb ist auch Meister Horas Schildkröte immer am Schnellsten bei ihm."

"Eine schnelle Schildkröte gibt es auch in der Sage vom Wettrennen zwischen Achill und der Schildkröte", fügt Albert hinzu: "Achill, der schnellste Läufer der Welt, gibt der Schildkröte einen Vorsprung. Sie laufen zur gleichen Zeit los, aber als Achill am Startpunkt der Schildkröte antrifft, ist sie schon wieder bei einem neuen Punkt angelangt. Er läuft nun wieder zum neuen Punkt, aber die Schildkröte ist schon wieder weitergekrochen. So geht es immer weiter und Achill holt sie nie ein."

"Selbst die Schildkröte will demnach schneller sein als Achill!" stellt Palmina nüchtern fest. "Es geht den Langsamen also gar nicht um die Entdeckung der Langsamkeit, sondern um die Umkehrung des Begriffs! Was vorher schnell war, soll plötzlich langsam und das Langsame schnell sein."

"So habe ich es noch gar nicht gesehen!" ruft Albert verblüfft aus. "Aber man kann es tatsächlich auch so auffassen."

"Man kann es nicht, man muss es so auffassen!" sagt Palmina überzeugt: "Und in diesem Fall ist es auch klar, warum Nadolnys Leser zu den Langsamen gehören wollten: Sie wollten einfach die Ersten sein, die nach John Franklin und seinem Autor Sten Nadolny die Langsamkeit entdeckten!"

***

Die Auszüge aus Sten Nadolnys Buch "Die Entdeckung der Langsamkeit" durfte Rossipotti mit der freundlichen Genehmigung Sten Nadolnys ins Netz stellen.

Die Auszüge findet ihr in dem abenteuerlichen Roman:

Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit. R. Piper & Co. Verlag. München 1983.

Wenn ihr Lust habt, könnt euch das Buch übrigens beinahe druckfrisch kaufen. Es ist im Mai 2004 wieder neuerschienen.

 

355 Seiten.

 © Rossipotti No. 4, Juli 2004