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Das geheime Buch

Herrn Maiteufels wundersame Reise in die Wirklichkeit

von

Annette Kautt

 

Vorgeschichte, die Herrn Maiteufel vorstellt und erklärt, was ein
Mensch mit Visionen ist

"Ich wär' so gern ein Butterbrotpapier", seufzte Herr Maiteufel und biss in eine Wurstsemmel.
Herr Maiteufel wusste, wovon er redete.
Seit fünfzehn Jahren arbeitete er in Herrn Knobels Butterbrotpapierfabrik und lauschte dem verheißungsvollen Gesang der Butterbrotpapiere. Für gewöhnlich stand er am Ende einer großen, silbernen Maschine und sah nach, ob das Papier knitterfrei aus der Maschine kam. Butterbrote, die in knittriges Butterbrotpapier eingepackt waren, schmeckten nicht gut, so viel stand fest.
Als Herr Maiteufel vor einigen Jahren in der Fabrik zu arbeiten angefangen hatte, gefiel ihm seine Arbeit sehr. Denn anders als ihr vielleicht denkt, war es in dem Raum, in dem Herr Maiteufel hinter der Maschine stand und auf das Papier wartete, ganz still: Man hörte nur das sanfte Rauschen und Knistern der Papiere, die sich auf ihr großes Leben in der Welt vorbereiteten. Wenn man der Maschine genau zuhörte, konnte man sogar die feinen Stimmen der Papiere erlauschen.
Herr Maiteufel empfand dann so ein Gefühl, wie er sonst nur bei einem Waldspaziergang im Frühling hatte: Er hörte für eine kleine Weile das erste, fröhliche Vogelgezwitscher des Jahres und roch den erwachenden Waldboden. Er spürte die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht und wusste in diesem Augenblick, dass jetzt alles wieder neu beginnen würde.
Doch dann war meist das Waldfrühlingsgefühl vorbei und Herr Maiteufel wieder in seiner alten Umgebung. Auf die Dauer wurde ihm dieses Waldfrühlingsgefühl deshalb unerträglich. Denn er fand es äußerst ungerecht, dass er tagaus tagein um 9 Uhr 20 in der Frühstückspause seine Wurstsemmeln essen, um 12 Uhr Herrn Knobel freundlich "Mahlzeit" zurufen, und den ganzen Tag hinter dieser dämlichen Maschine (das meinte Herr Maiteufel sicher nicht ganz ernst) stehen musste. Und dass er außerdem jeden Abend mit seiner freilich liebenswürdigen, aber doch allzu bekannten Schwester Odette im Winter alle möglichen Kohl- und im Sommer verschiedene Gurkensorten verspeisen musste. Dass aber die Butterbrotpapiere immer erwartungsfroh und fröhlich der ersten Stunde ihres Lebens entgegenfieberten.
War es bei solchen Gedanken nicht selbstverständlich, dass sich Herr Maiteufel schließlich nichts sehnlichster wünschte, als ein Butterbrotpapier zu sein?

"So ein Quatsch!" rief seine Schwester jedes Mal, wenn er ihr wieder von seinem großen Wunsch erzählte. "Welcher normale Mensch wünscht sich denn, ein Butterbrotpapier zu sein?"
"Du hast noch nie dem Gesang der Papiere gelauscht", antwortete Herr Maiteufel dann für gewöhnlich. "Du weißt nicht, was es bedeutet, ein Butterbrotpapier zu sein."
Nein, das wusste Odette nicht. Und deshalb war Odettes sehnlichster Wunsch, dass Herr Maiteufel endlich von seiner fixen Idee lassen und wieder zur Vernunft kommen würde.
Eines Tages, als Herr Maiteufel seiner Schwester mal wieder vorjammerte, wie schön es wäre, ein Butterbrotpapier zu sein, sagte seine Schwester deshalb ungeduldig: "Ich kann es nicht mehr hören! Manchmal wünschte ich mir tatsächlich, du würdest endlich in deine Butterbrotmaschine hineinkriechen und erst wieder als Butterbrotpapier herauskommen! Dann müsste ich mir wenigstens nicht länger deine verrückten Ideen anhören."
"Was hast du da gesagt?" fragte Herr Maiteufel aufhorchend. "Ich selbst soll in die Butterbrotpapiermaschine hineinkriechen?"
"Ach Friedrich", meinte Odette "das habe ich doch nicht ernst gemeint."
"Doch, doch das hast du!" rief Herr Maiteufel ganz aufgeregt. "Und du hast ganz Recht! Weißt du was? Das war sogar dein bester Einfall seit langem! Ich frage mich nur, warum ich nicht selbst schon lange darauf gekommen bin. Was ich brauche, ist tatsächlich nur eine Butterbrotpapiermaschine, in die ich selbst hineinpasse. Ich krieche hinein und schwupps - schon werde ich zum Butterbrotpapier!"
"Rede doch keinen Unsinn!" sagte seine Schwester. "Kein Mensch wird einfach so zum Butterbrotpapier. Außerdem hast du nun mal keine Butterbrotpapiermaschine, in die du hineinpasst."
"Das macht nichts", erwiderte Herr Maiteufel und funkelte dabei gefährlich mit den Augen. "Dann baue ich mir eben eine! Eine riesige, wunderschön silbern glänzende Maschine! Du wirst schon sehen!"
Odette wollte gar nichts sehen. Sie ging aus der Küche und schlug wütend die Tür hinter sich zu.
Herrn Maiteufel machte das nichts. Denn er hatte jetzt die Vision einer riesigen, silbernen Maschine im Kopf! Er wollte eine Maschine bauen, in der er das Waldfrühlingsgefühl so oft erleben konnte, wie er nur wollte. Eine Maschine, bei der man nur auf den An-Knopf drücken musste und sich schon in einer anderen Welt befand! Eine Butterbrotpapier-Waldfrühlingsgefühl-Hervorlockungs-Maschine!
Ja, er, Herr Maiteufel, wollte einfach den umgekehrten Weg der Papiere gehen: Während die Papiere sich nämlich auf das noch unbekannte Leben außerhalb der Maschine freuten, wollte Herr Maiteufel ab sofort das noch unbekannte Innere seiner Maschine erforschen und die Quelle des Waldfrühlingsgefühls entdecken! Hätte er die erst einmal entdeckt, wäre es sicher ein Leichtes, das Waldfrühlingsgefühl so oft zu bekommen, wie er nur wollte.
Und weil Herrn Maiteufel diese Idee so begeisterte, besorgte er sich noch am selben Abend bei Herrn Knobel, seinem Chef, den Konstruktionsplan für die Butterbrotpapiermaschine. Denn genau so eine wollte er ja für sich bauen. Für sich ganz alleine.
Herr Knobel hatte zwar anfangs seine Bedenken, Herrn Maiteufel den Konstruktionsplan mit nach Hause zu geben. Nicht, weil er sich um Herrn Maiteufels Verstand sorgte, sondern weil er fürchtete, Herr Maiteufel könne heimliches Kapital aus dem Plan schlagen. Als Herr Maiteufel aber nicht von ihm abließ, fiel ihm zum Glück ein, dass jede anständige Butterbrotpapierfabrik bereits die Lizenz für die Maschine von ihm gekauft hatte. Deshalb händigte er schließlich Herrn Maiteufel den Plan doch aus. Allerdings mit dem Vorbehalt, den Plan nicht zweckzuentfremden oder zu Geld zu machen. Denn in diesem Fall würder er Herrn Maiteufel fristlos kündigen!
Herr Maiteufel nickte nur zerstreut und nahm hastig die Planrolle unter den Arm. Dann lief er mit großen Schritten und klopfendem Herzen zum nächsten Copyshop, wo er ihn peinlichst genau und maßstabsgetreu kopierte.

Das war inzwischen beinahe ein Jahr her. Aber Herr Maiteufel hatte die Maschine immer noch nicht fertiggestellt.
Es fehlte ihr noch irgend etwas. Dieses Etwas musste so unbeschreiblich klein sein, dass Herr Maiteufel nicht einmal wusste, worum es sich dabei eigentlich handelte. Er wusste nur eins: Seine Maschine funktionierte nicht.
Er hatte schon alles ausprobiert: Das rote, weiche Liegepolster in der Maschine, das ihm die Stunden darin noch gemütlicher machen sollte, hatte er wieder herausgenommen. Denn die echte Maschine hatte ja auch keins. Aber es hatte nichts genützt (worauf er das Sitzkissen selbstverständlich wieder einbaute). Dann hatte er sowohl die Besprenkelungsanlage, die die Papiere feucht machte, als auch den Fön, der die Papiere zum Schluss wieder trocknete, in unterschiedliche Stärken eingestellt. Außerdem hatte er den Walzendruck, der für das Glätten der Papiere so wichtig war, immer wieder verändert.
Aber nichts. Es half alles nichts.
Als er deshalb tagelang auf seinem Sitzkissen saß und traurig über seine nicht funktionsfähige Maschine nachdachte, fiel ihm plötzlich ein, dass ihm auf dem Plan ja ein klitzekleines Detail entgangen sein konnte. Ein Detail, das so winzig war, dass er es mit bloßem Auge gar nicht erkennen konnte.
Nach diesem (eines Visionärs würdigen) Einfall kaufte er sich die stärkste Lupe, die er in der Stadt ausfindig machen konnte. Und mit dieser Lupe suchte Herr Maiteufel seitdem seinen Plan Millimeter für Millimeter ab, um das kleine Ding irgendwo finden zu können.


Erstes Kapitel, in dem die Geschichte erst richtig beginnt, weil Herr Maiteufel ein Paket erhält

Eines Mittwochmorgens, als Herr Maiteufel wegen schon geleisteter Überstunden zu Hause bleiben durfte und er die freie Zeit wieder einmal dazu nutzte, mit der Lupe auf dem Plan herumzukriechen, klopfte es an seiner Zimmertür.
Herr Maiteufel seufzte: "Meine liebe Schwester Odette weiß zwar ganz genau, dass ich unter keinen Umständen gestört werden möchte. Aber bitte, bitte ... mit mir kann man es ja machen. Wenn meine Maschine doch nur schon funktionieren würde ..." Dann rief er jedoch freundlich zur Tür: "Ja, Odette, ich weiß, dass du heute morgen kleine Gürkchen auf dem Markt holen gehst und deshalb kein Mittagessen kochen kannst. Es macht mir auch gar nichts aus. Ich bin sehr beschäftigt. Adieu."
Aber Odette lachte nur hinter der verschlossenen Tür. Sie sagte, dass er von ihr aus ruhig in seinem Zimmer bleiben könne, bis er unter seine Lupe falle. Sie wolle ihm eben nur kurz mitteilen, dass ein Paket für ihn angekommen sei. Und dann hörte Herr Maiteufel nur noch ein lautes "Rums" und die fortlaufenden Schritte seiner Schwester.
Erstaunt schaute Herr Maiteufel zur Tür: Es war schon so lange her, dass er ein Paket erhalten hatte, dass er nicht einmal mehr wusste, wie es sich anfühlte, eins zu bekommen.
Ängstlich schlich er sich deshalb zur Tür, drehte den Schlüssel um und machte sie nur einen Spalt weit auf.
Da stand tatsächlich ein Paket! Und es war ein hübsches Paket. Das Packpapier war mit blauen Punkten bemalt und außen herum war eine rote Schleife gebunden.
Herr Maiteufel öffnete die Tür deshalb ganz und beugte sich zum Paket hinunter. Vorsichtig strich er mit den Fingern über die seidige Schleife und die blauen Punkte. Sie hoben sich etwas vom Papier ab und knisterten, wenn man darüber fuhr. Das Knistern erinnerte ihn an seine Butterbrotpapiermaschine, und er spürte wieder etwas von dem Waldfrühlingsgefühl. Behutsam hob er das Paket hoch und trug es in sein Zimmer. Hinter sich verschloss er die Tür.
Er stellte das Paket auf seinen kleinen Schreibtisch und suchte darauf nach dem Absender, doch er war nirgends zu entdecken.
Nun hätte Herr Maiteufel zwar einfach das Paket öffnen und drinnen nach dem Absender suchen können. Aber er streichelte lieber noch etwas das Papier und träumte von dem Unbekannten, der ihm das Paket geschickt hatte.
Vielleicht war es von einem seltsamen Onkel aus Amerika? sinnierte Herr Maiteufel. Von seltsamen Onkeln hatte er schon oft in Geschichten gelesen. Sie schickten ihren Verwandten in Europa für gewöhnlich kleine, unscheinbare Tiere zu. Und kurze Zeit später verwandelten sich dann die Tiere in unberechenbare Monster.
Aber Herr Maiteufel konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass es in seiner Familie jemals einen Onkel aus Amerika gegeben hätte. Er verwarf also diese Idee, obwohl er sonst niemanden kannte, der ihm ein Paket zusenden würde.
Doch dann fiel ihm ein, dass er beim letzten Betriebsfest einen Gasluftballon mit einem persönlichen Brief in die Luft fliegen lassen hat. Es war ein roter Ballon mit einer weißen Werbeaufschrift gewesen: "Nur mit Knobels Brotpapier / schmeckt mein Butterbrot noch mir". Der Ballon hatte am Himmel sehr schön ausgesehen und Herr Maiteufel hatte ihm so lange nachgeschaut, bis er ihn nicht mehr hatte sehen können.
In seinem Briefe hatte gestanden:

"Lieber Finder,
sei es in der Nähe von Oberfischen - wo ich wohne - sei es in Deutschland, in der Schweiz oder Österreich oder eben da, wo man meinen Brief versteht, so schreibe mir bitte, wo Du wohnst und wie Du meinen Luftballon gefunden hast."

Darunter schrieb er noch seine Adresse und ein "Vielen Dank".

Herr Maiteufel hatte schon lange nicht mehr an seine Luftballonnachricht gedacht. Aber jetzt, als er mit dem Paket von dem Unbekannten in seinem Zimmer saß, war er sich mit einem Mal ganz sicher, dass der Finder seines Briefs der Absender des Pakets sein musste. Denn, wer sonst?
Aufgeregt machte sich Herr Maiteufel nun daran, das Paket auszupacken. Zuerst löste er die Schleife und legte sie sorgfältig zusammen. Dann versuchte er die Klebestreifen vorsichtig von dem Papier zu lösen, damit es nicht riss, da er es später wiederverwenden wollte.
Als er auch das Papier zusammengelegt hatte, nahm er eine Schere und schnitt den Karton an einer Falzstelle auf. Herrn Maiteufels Herz klopfte stark und seine Finger zitterten.
Vielleicht lud ihn der Briefefinder zu sich nach Hause ein? Vielleicht hatte er einen schönen Bauernhof mit vielen Tieren? Vielleicht könnte er dem Finder sogar bei der Pflege seiner Tiere helfen?
Herr Maiteufel stellte sich gerade vor, wie er auf einem Pony mit langen zottigen, braunen Haaren durch den Wald ritt, als die Schere den letzten Schnitt machte und Herr Maiteufel in das geöffnete Paket schauen konnte.
Was war denn das?
In dem Karton war nichts anderes als ein riesiger Stapel alter Postkarten und vergilbter Fotografien! Wollte ihn der Briefefinder etwa auslachen, indem er ihm - statt wie Herr Maiteufel ihm eine Postkarte geschickt hatte - einen ganzen Karton voller Postkarten schickte?
Die Postkarten zeigten irgendwelche Gebäude und Straßenzüge. Und auf den meisten Fotos waren kleine Mädchen mit Zöpfen oder Jungen mit Kniebundhosen abgebildet.
Herr Maiteufel war verwirrt. Als Junge hatte er genau solche Hosen getragen! Woher wusste das der Finder? Und woher wusste der Finder, dass die Mädchen in seiner Klasse Zöpfe gehabt hatten, die unten mit blauen oder grünen Schleifen zugebunden waren? Woher wusste der Finder überhaupt wie alt er, Herr Maiteufel, war?
Herrn Maiteufel wurde es ungemütlich. Magische Bücher hatte er bisher zwar immer ganz gerne gelesen, aber selbst in einer magischen Geschichte mitspielen wollte er dann doch nicht.
Herr Maiteufel wagte sich nicht mehr zu bewegen.
Angenommen, der magische Finder würde ihn jetzt beobachten, was würde er dann von ihm denken, wenn er verängstigt in seinem Zimmer auf- und ablief? Sicher, so dachte Herr Maiteufel, war es das Beste, ganz still auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben.
Nachdem er so eine Weile regungslos und angestrengt sitzen geblieben war, bemerkte er, dass ihm der Schweiß über die Stirn das Gesicht hinunterlief. Wie unangenehm! Hastig stand er auf und wischte sich mit seinem Taschentuch das Gesicht ab.
"Was bin ich doch für ein Kindskopf!" sagte Herr Maiteufel. "Ich habe noch nicht einmal den Brief des Finders gelesen und schon reime ich mir alle möglichen schrecklichen Dinge zusammen. Am besten, ich schaue erst mal nach, ob er mir eine Nachricht mitgeschickt hat."
Etwas entspannter als zuvor untersuchte Herr Maiteufel daraufhin den Kartenstapel und entdeckte tatsächlich einen Brief!

Lieber Friedrich!
Warum bist Du nicht zu unserem 20-jährigem Jubiläumsklassenfest gekommen? Wir hätten uns sehr gefreut, Dich mal wieder zu sehen! Es war ein sehr lustiger Nachmittag - alle Erinnerungen wurden wieder wach. Denk nur, die Karla, die Dir doch immer so gut gefallen hat, hat zwei Mal Zwillinge bekommen!
Der jetzige Schulrektor hat uns in das Schularchiv gelassen und ließ uns alles mitnehmen, was wir wollten. Weil Du nicht da warst, habe ich gedacht, kann ich Dir ja ein paar Postkarten und ein paar Fotos, auf denen Du darauf bist, schicken. Es freut Dich doch bestimmt?
Ach ja, wie Du siehst ist auch noch ein alter Stadtplan dabei. Inzwischen hat sich so viel bei uns geändert. Komm doch mal vorbei oder lass wieder was von Dir hören!
Viele Grüße, Deine Mara

Mara, wer war Mara?
Herr Maiteufel brauchte eine ganze Weile, bevor ihm einfiel, dass Mara eine Klassenkameradin von ihm gewesen war. Er wollte einfach nicht einsehen, dass ihm seine ehemalige Klassenkameradin Mara einen ganz normalen Brief geschrieben hatte, und eben nicht ein magischer Finder.
Doch als er das schließlich einsah, dachte er enttäuscht, dass es eigentlich auch ganz unwahrscheinlich war, dass ihm irgendein Finder ein geheimnisvolles Paket sandte. In seinem Leben gab es einfach keine unerwarteten Ereignisse. Sein Leben würde immer so langweilig bleiben wie bisher. Resigniert stand er auf, ging in die Küche und machte sich einen Tee. Als er daran dachte, dass er sich nicht einmal selbst auf den Bilder erkannt hatte, musste er allerdings ein wenig schmunzeln. Eigentlich, so fand er, war es von Mara unheimlich nett gewesen, ihm die Sachen zukommen zu lassen.

Später, als dann seine Schwester Odette mit vollen Einkaufstaschen in die Küche trat, erzählte Herr Maiteufel ihr gleich die ganze Geschichte: Vom Onkel in Amerika, vom Finder und vom Klassentreffen. Nur von seiner Furcht, die er wegen des Finders hatte, erzählte er nichts. Odette freute sich über seine Geschichte und wollte vor allem gleich alle Postkarten und Fotos sehen. Schließlich war sie in der gleichen Stadt wie Herr Maiteufel groß geworden und war auf dieselbe Schule gegangen.
Herr Maiteufel brachte den ganzen Karton in die Küche und leerte den Inhalt auf dem Küchentisch aus. Odette und Herr Maiteufel setzten sich an den Tisch, tranken Tee und schauten sich gemeinsam die Fotos und Karten an. Sie redeten über gemeinsame Freunde und Erlebnisse und lachten viel dabei. Es war ein sehr gemütlicher Nachmittag!
Erst als Odette meinte: "Weißt du, es ist doch viel besser, dass das Paket nicht von irgendeinem Finder, sondern von Mara ist. So hatten wir beide einen schönen Nachmittag...", war es mit dem schönen Nachmittag schlagartig vorbei.
Odettes Bemerkung ärgerte Herrn Maiteufel nämlich ungemein. Denn mit Odette konnte er viele angenehme Nachmittage zubringen, aber niemals welche mit dem Finder! Er packte deshalb seine Karten und Fotos wieder in den Karton und ging damit, ohne Odette irgendwas zu erwidern, in sein Zimmer zurück.
Dort setzte er sich wie zuvor an seinen Schreibtisch und starrte trübsinnig auf den alten Stadtplan, der in dem Karton ganz oben lag.
Nachdem er so eine Weile gelangweilt die Karte studiert hatte, kam sie ihm auf einmal irgendwie bekannt vor. Natürlich kannte er sie von früher, als er noch in dem Städtchen gewohnt hatte. Aber das war es nicht, was ihm das Gefühl des Vertrauten vermittelte. Da war noch etwas anderes, was ihm sehr bekannt vorkam.
Er legte den Stadtplan genau vor sich hin, damit er ihn besser begutachten konnte. Ohne genau zu wissen, warum er das eigentlich tat, untersuchte er die Streckenverhältnisse der Straßen zueinander. Dabei rechnete er eine Rechnung, die niemand außer ihm verstand, da er ja ein Visionär war.

Draußen war es schon dunkel geworden und Herr Maiteufel hatte längst das Licht anknipsen müssen, als er mit seinen Berechnungen endlich fertig war.
Als er auf sein Ergebnis blickte, wurde er mit einem Mal ganz blass. Wenn seine Berechnungen stimmten, dann, ja dann...
"Odette", rief Herr Maiteufel da in die stille Wohnung hinein. "Odette! Es ist so, es ist so... du glaubst ja gar nicht, wie glücklich ich bin!"
Odette, die inzwischen in sein Zimmer gekommen war, schaute ihn neugierig an und fragte ihn, ob er denn etwa das Detail gefunden habe?
Herr Maiteufel nickte gewichtig mit dem Kopf. Dann hielt er Odette den Stadtplan unter die Nase, und erklärte seiner Schwester beinahe hysterisch: "5:2 und 3:7, das macht 15:14 = -1!"
Odette runzelte nur fragend die Stirn. Aber Herr Maiteufel ließ sich dadurch nicht beirren: "Ja, weißt du denn nicht, wie die Zahlenverhältnisse auf meinem Konstruktionsplan aussehen? - Genau gleich!"
"Na und?" fragte Odette nur, "was hat das zu bedeuten?"
"Was das zu bedeuten hat?" Herr Maiteufel geriet jetzt ins Schwärmen. Mit ganz sanfter, flüsternder Stimme sagte er: "Das bedeutet, dass ich nicht mehr auf das Waldfrühlingsgefühl hinter meiner Maschine in der Fabrik angewiesen bin. Das bedeutet, dass ich es hier selbst entstehen lassen kann. Odette, nun kann ich wie die Papiere in der Maschine ein neues Leben beginnen!"
Herr Maiteufel sah seine Schwester erwartungsvoll an, aber Odette blickte ihn immer noch verständnislos an.
"Begreifst du denn nicht", fuhr deshalb Herr Maiteufel nun in fast flehendem Ton fort, "dass ich jetzt das kleine Detail finden kann, das ich noch brauche, damit meine Maschine funktioniert? Denn, wenn ich es bisher nicht auf dem Plan sehen konnte, dann kann ich es sicher in unserer Heimatstadt finden, die genau die gleichen Maße wie der Konstruktionsplan hat! Odette, glaube mir, das Detail muss in unserer Stadt aufzufinden sein. Und deshalb muss ich morgen unbedingt dorthin reisen."

Zweites Kapitel, in dem Herr Maiteufel seine Reise antritt und im Zug einen Mann namens "Knobel" kennenlernt

Am anderen Morgen stand Herr Maiteufel schon sehr früh auf, um seinen Koffer zu packen. Neben den ganz gewöhnlichen Reiseutensilien wie Pullover, Hosen und Unterwäsche, packte Herr Maiteufel außerdem eine Taschenlampe, Gummistiefel, einen Regenschirm und vor allem natürlich seinen Konstruktionsplan und den alten Stadtplan ein.
Odette drückte ihm zum Abschied eine große Vesperpapiertüte in die Hand:"Alle in Knobels Butterbrotpapier eingewickelt, falls du Heimweh bekommst."
Herr Maiteufel blickte seine Schwester dankbar an und verabschiedete sich von ihr.

Er fuhr mit dem Bus zum Bahnhof, weil er mit dem Zug reisen wollte. Dort angekommen, kaufte er eine Fahrkarte und wartete voller Erwartung auf die Ankunft seines Zuges.
Er war gespannt auf seine Heimatstadt, in der er schon lange nicht mehr gewesen war, und die er jetzt, da er auf der Suche nach dem Detail war, ganz anders würde erleben können.
Als der Zug ankam, fand Herr Maiteufel in einem Abteilwagen einen schönen Fensterplatz. Ungestört hängte er dort seinen Gedanken nach: "Wie spannend wird mein Leben sein, wenn ich es mir in meiner Maschine erst so richtig gemütlich machen kann! Ich bin schon sehr gespannt, was die Maschine mit mir macht, wenn sie erst mal funktioniert. Ob ich dann auch so knistere wie die Papiere? Oder hört sich das bei Menschen wohl ganz anders an? Aber auf jeden Fall wird mir die Maschine alle meine Sehnsüchte erfüllen können."
Bei diesem Gedanken stutzte Herr Maiteufel plötzlich. Genau betrachtet wusste er eigentlich gar nicht, was er sich denn so sehnlichst wünschte. Waldfrühlingsgefühle ließen zwar seine Sehnsüchte immer unerträglich werden, aber was das Ziel seiner Wünsche war, konnte er nicht sagen. Wünschte er sich etwa, nicht mehr mit Odette zusammenleben zu müssen? Oder wollte er nicht mehr hinter seiner Maschine stehen, sondern lieber im Wald spazieren gehen? Vielleicht war sein Herzenswunsch ja aber auch ein kleines grünes Auto?
Bei jedem dieser Wünsche musste Herr Maiteufel ein bisschen nicken. Aber er spürte deutlich dabei, dass sie alle nicht sein Hauptwunsch waren. Er grübelte noch eine ganze Weile darüber, bis ihn ein Papierknistern aus seinen Gedanken riss.
Oh du liebes Bisschen!
Gegenüber von ihm saß plötzlich Herr Knobel und packte sein Vesperbrot aus! Wie war das nur möglich? Herr Knobel musste doch in der Fabrik sein und konnte nicht einfach mit dem Zug wegfahren. Und warum hatte ihn Herr Knobel nicht gegrüßt, als er in das Abteil gekommen war?
Bei genauer Betrachtung konnte dies gar nicht Herr Knobel sein! Allerdings war es umgekehrt auch nicht möglich, dass er es nicht war. Denn dieser Mann da sah Herrn Maiteufels Chef zum Verwechseln ähnlich: Seine Ohren standen in der gleichen unnachahmlichen Weise vom Kopf ab wie die von Herrn Knobel. Nämlich so (das wusste Herr Maiteufel von einem Kollegen), dass daran alle möglichen Fliegen und Mücken kleben blieben, wenn Herr Knobel Fahrrad fuhr oder joggen ging. Und die Nase war bei beiden Männern auch gleich bläulich-rot und kugelrund aufgedunsen!
Herrn Maiteufel wurde es ganz heiß im Gesicht. Es war beinahe unmöglich, so dachte er, dass dieser Herr, der da gemütlich sein Brot aß und ihn nicht zu beachten schien, nicht Herr Knobel war! Eine solche Ähnlichkeit gab es nur bei eineiigen Zwillingen, und Herr Maiteufel wusste mit 100%iger Sicherheit, dass Herr Knobel kein Zwilling war.
Was aber machte Herr Knobel hier im Zug? Warum war er nicht in seiner Fabrik, wie es sich gehörte?
Herrn Maiteufel wurde es plötzlich ganz flau im Magen. Ihm war nämlich eingefallen, dass er sich bei Herrn Knobel für die paar Tage, die er verreist sein würde, nicht abgemeldet hatte. Wie hatte ihm das nur passieren können?
Und jetzt schien Herrn Maiteufel auch ganz klar zu sein, warum Herr Knobel hier im Zug saß: Er wollte Herrn Maiteufel beim Unentschuldigt-Fehlen auf frischer Tat ertappen! Es war offensichtlich Knobels Strategie, hier ruhig sein Brot zu verspeisen, um ihn dann nachher umso unvorbereiteter vor all den Fahrgästen zurechtweisen zu können.
Herrn Maiteufel wurde es sehr ungemütlich. Was sollte er nur tun? Wahrscheinlich war es das Beste, sich jetzt sofort bei Herrn Knobel zu entschuldigen, und nicht zu warten, bis Herr Knobel mit seiner Standpauke beginnen würde.
Herr Maiteufel setzte sich deshalb aufrecht hin, räusperte sich etwas und sprach dann den Herrn gegenüber mit folgenden Worten an: "Entschuldigen Sie, Herr Knobel, wenn ich Sie beim Essen störe. Aber es ist mir ein dringendes Anliegen, mich bei Ihnen zu entschuldigen, dass ich mich heute morgen nicht bei Ihnen für mein Fernbleiben entschuldigte."
Erschöpft sank Herr Maiteufel dann auf seinen Sitz zurück und ließ den Satz in seinem Kopf nachklingen. Als er dabei merkte, dass er viel zu oft "Entschuldigung" und viel zu wenig Vernünftiges gesagt hatte, wurde es ihm noch heißer und sein Gesicht wurde rot.
Doch der Herr gegenüber schien all davon nichts bemerkt zu haben. Er zwinkerte Herrn Maiteufel mit seinen kleinen Augen freundlich zu (Herr Maiteufel dachte: "Wie ein kleines Schweinchen") und sagte: "Junger Mann, ich bin erfreut, dass Sie meinen Namen kennen! Besonders liebenswürdig finde ich, dass Sie sich dafür entschuldigen, dass Sie mir vorhin auf den Fuß getreten sind. Ich dachte nämlich, Sie hätten das gar nicht bemerkt."
Das hatte Herr Maiteufel auch nicht! Genauso wenig, wie er bisher bemerkt hatte, dass Herr Knobel ein so freundlicher Mensch war. "Vielleicht will Herr Knobel mir eine Falle stellen?" dachte Herr Maiteufel. "Vielleicht tut er am Anfang nur so freundlich, um mich nachher umso besser bestrafen zu können. Am besten, ich gehe auf seine nette Art gar nicht ein und versuche meine Entschuldigung nochmals."
Herr Maiteufel sagte deshalb laut zu dem Herrn: "Herr Knobel, es tut mir leid, dass ich heute nicht zur Arbeit gehen kann, aber ich habe etwas äußerst Wichtiges zu erledigen. Die fehlenden Stunden können Sie selbstverständlich von meinem Gehalt abziehen."
"Aber Herr Maiteufel", sagte da der Herr, "wo denken Sie hin? Einem so guten Mitarbeiter wie Ihnen wird man doch wohl mal ein paar Urlaubstage gönnen. Oder sehen Sie das etwa anders?"
"Natürlich nicht", getraute sich Herr Maiteufel da zu erwidern.
"Sehen Sie", fuhr der Herr gegenüber fort. "Ich schätze Ihre Art sehr, wie Sie mir immer 'Mahlzeit' wünschen. Vielleicht sollte ich Sie mal befördern? Was halten Sie davon?"
"Nun ja, eigentlich gefällt mir meine Arbeit ganz gut. Aber wenn Sie mir eine Freude bereiten wollen, könnten Sie mich abends eine halbe Stunde früher nach Hause gehen lassen. Das wäre mir sehr angenehm!"
"Ach ja, das Maschinchen! - Wie geht es überhaupt unserem Maschinchen?" fragte der Herr weiter, indem er wieder mit den Augen zwinkerte.
"Woher kennen Sie die Pläne zu meiner Maschine?!", fragte Herr Maiteufel da aufgebracht zurück. "Spionieren Sie mir etwa hinterher? So wie jetzt?"
"Aber, aber. Nun regen Sie sich doch nicht so auf! Erstens haben Sie die Pläne damals von mir selbst bekommen, und zweitens spioniere ich Ihnen nicht hinterher. Heute sitze ich im Zug, weil heute Feiertag ist und ich diese Gelegenheit dazu nutze, um eine Bekannte zu besuchen."
"Aber heute ist doch überhaupt kein Feiertag!"
"Ach, und warum sitzen Sie dann hier im Zug? Haben Sie sich etwa freigenommen?"
Herr Maiteufel zog es vor, nichts mehr zu erwidern. Er nahm sich außerdem vor, Odette damit zu beauftragen, ihn für ein paar Tage zu entschuldigen. Das schien ihm sicherer zu sein.
Die beiden Reisenden schwiegen die restliche Zeit. Als der Herr mit den großen Ohren aussteigen musste, schüttelte er Herrn Maiteufel kräftig die Hand und verabschiedete sich mit den Worten: "Es war nett, Sie kennengelernt zu haben, vielleicht sieht man sich irgendwann mal wieder?"
Herrn Maiteufel blieb nichts anderes übrig als zustimmend zu nicken, obwohl ihm die ganze Angelegenheit komisch vorkam.
Als Herr Maiteufel wieder allein war, war er sich höchst unsicher, ob er wirklich mit Herrn Knobel gesprochen hatte. Wenn seine Reise so weitergehen würde, wie sie mit dieser verwirrenden Begegnung begonnen hatte, musste sich Herr Maiteufel wohl noch auf einiges gefasst machen. Ihm wurde es etwas mulmig zu Mute und er fragte sich, ob diese Reise wirklich eine so gute Idee von ihm gewesen war ...
Ende Teil 1

Wie die Geschichte weitergeht, erfahrt ihr im nächsten Rossipotti

 © Rossipotti No. 7, April 2005