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Das geheime Buch

Reise ins Ungewisse

von

Heiko Bacher


Kapitel 1: Verschwunden

"Das wird das Abenteuerlichste, was du je machen wirst", sagte Tom und klopfte mit seiner Hand auf eine Landkarte.
"Ich komme trotzdem nicht mit", sagte Jenny und schloss ihr Fahrrad auf. "Ich bin noch ein Kind und ..."
"Du bist fast 13 Jahre!" unterbrach sie Tom.
"Na und?" sagte Jenny. "Ich wohne zu Hause und gehe noch zur Schule. Wenn ich verschwinde, geht meine Mutter schneller zur Polizei als du gucken kannst!"
"Du verschwindest doch nicht!" Toms Stimme klang genervt. "Es sind Ferien und wir sagen unseren Eltern, dass wir für drei Wochen ins Ferienlager fahren. Danach sind wir bestimmt wieder zurück."
"Ach?" sagte Jenny "Und wenn nicht?"
Tom faltete die Landkarte zusammen und steckte sie in seinen Rucksack. "Eigentlich ist es egal, was du willst! Du kommst auf jeden Fall mit!"
Tom schwang sich auf sein Fahrrad und winkte zum Abschied. "Bis Freitag dann!"
"Der spinnt doch!" sagte Jenny laut zu sich selbst. "Ich fahre ganz sicher nicht mit Tom ins Irgendwo und spiele dort die Heldin!"
"Wer spielt die Heldin?" Hella tauchte hinter Jenny auf und schaute ihr neugierig über die Schulter.
"Niemand", sagte Jenny ausweichend. "Tom hatte nur eine verrückte Idee, aber sie ist nicht der Rede wert. Sollen wir Eis essen gehen?"

Als ihre Mutter sie beim Abendessen fragte, ob sie sich schon auf das Ferienlager freue, hatte Jenny ihre Auseinandersetzung mit Tom beinahe vergessen.
"Welches Ferienlager?" fragte sie erstaunt.
"Na, du gehst doch mit Tom ins Ferienlager 'City kids'."
"City kids?" sagte Jenny. "Was ist das denn für ein Quatsch? Da würde ich nie hingehen!"
"Aber ich habe doch bereits das Geld überwiesen! Ganze dreihundert Euro!"
"Und warum weiß ich nichts davon?" Jenny wurde wütend. "Du kannst doch nicht über meinen Kopf hinweg entscheiden, ob ich ins Ferienlager gehe!"
"Es sollte eine Überraschung werden!" verteidigte sich ihre Mutter. "Tom meinte, du würdest unheimlich gerne in das Ferienlager gehen. Und da wir dieses Jahr nicht in den Urlaub fahren, habe ich dich dort angemeldet. Vorhin hat Tom angerufen und gesagt, dass er dich heute eingeweiht hat und ich die Überraschung nicht mehr geheim halten muss!"
"Das gibt's doch nicht!" rief Jenny. "Ich hasse Ferienlager! Und ich gehe ganz sicher nicht zu diesen bescheuerten City kids!" Jenny rannte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

"Was bildest du dir eigentlich ein?" fragte Jenny, als Tom endlich ans Telefon ging. "Was soll der Unsinn mit den City kids? Wenn du glaubst, du kriegst mich so aus dem Haus, dann hast du dich geschnitten!"
Tom kicherte am anderen Ende der Leitung. "Das habe ich doch prima organisiert! Erstens bist du jetzt für drei Wochen entschuldigt und außerdem haben wir von deiner Mutter ein bisschen Reisegeld bekommen."
"Soll das heißen, dass du die dreihundert Euro in deine eigene Tasche gesteckt hast?"
"In unsere Tasche", sagte Tom. "Wenn wir unterwegs sind, wirst du über jeden Cent froh sein."
"Nochmals", sagte Jenny betont langsam. "Ich gehe mit dir in kein Ferienlager und auch sonst nirgendwo hin! Ich habe mit deinem geheimnisvollen Unbekannten überhaupt nichts zu tun und bin auch zu nichts verpflichtet. Du überweist meiner Mutter das Geld sofort wieder zurück! Und wenn du das getan hast und mich dann auch nicht mehr mit deiner durchgeknallten Geschichte belästigst, erinnere ich mich vielleicht wieder daran, dass wir bis vor ein paar Wochen noch gute Freunde waren!"
Jenny schmiss das Telefon auf ihr Bett und atmete tief durch. Hoffentlich hatte Tom endlich verstanden, dass er sie in Ruhe lassen sollte.
Sie begriff nicht, was plötzlich in ihn gefahren war. Bis vor einem Monat war Tom ein ganz normaler Junge gewesen, der sich gerne mit seinen Freunden traf und Fantasyromane las. Gut, ganz normal war vielleicht etwas übertrieben. Immerhin streifte Tom häufig allein durch die Gegend und sammelte alle möglichen Pflanzen und Steine. Sein Zimmer war voll davon. Trotzdem reichte das nicht aus, um plötzlich Hirngespinste zu sehen. Als Tom ihr beim ersten Mal von seiner Begegnung mit einem kleinen, schwarz gekleideten Mann erzählte, hatte sie gar nicht richtig zugehört. Sie hatte den Mann für eine Ausgeburt von Toms Fantasie oder für eine Figur aus einem seiner Fantasyschinken gehalten. Aber als Tom immer wieder mit dem schwarzen Mann angefangen hatte, musste sie ihm einfach zuhören.
Wenn es stimmte, was Tom ihr erzählte, hieß der schwarz gekleidete Mann Kart Orkid und kam aus der Auvergne in Frankreich. Angeblich war er Agent eines kleinen, fast unbekannten Volksstammes namens Mok. Der Stamm war unabhängig von der französischen Regierung, allerdings nur deshalb, weil diese nichts von seiner Existenz wusste. Doch seit sechs Wochen befürchteten die Moks, dass ihr Stamm entdeckt und von den Franzosen zerstört werden würde. Denn einer der Moks, Onk Ark, war so unvorsichtig gewesen, in einer französischen Kleinstadt Urlaub zu machen. Dort war er sofort einem Hotelangestellten aufgefallen, und bevor er in seinem Hotel-Zimmer stand, ist die Polizei gekommen und hat ihn in ein Waisenhaus gesteckt!
Spätestens an dieser Stelle war Jenny die Geschichte damals zu bunt geworden. Warum hatte der Angestellte gleich die Polizei geholt und warum kam ein Erwachsener ins Waisenhaus?
"Weil die Moks wie Kinder aussehen!" hatte Tom erklärt. "Sie sind so groß wie Kinder zwischen neun und zwölf Jahren. Der Hotelangestellte hat gedacht, dass er einen Ausreißer vor sich hat und deshalb sofort die Polizei informiert. Als seine Eltern nicht ermittelt werden konnten, steckten sie ihn eben ins Waisenhaus."
"Aber konnte er sich denn nicht ausweisen?" hatte Jenny nachgehakt.
"Das war das nächste Problem gewesen" hatte Tom geantwortet: "Sein Personalausweis sah in ihren Augen wie ein Pappkarton mit einem gemalten Passfoto aus. Kinderkram also. Außerdem steht auf dem Ausweis keine Adresse, sondern nur Mok-Stamm."
"Und wieso glaubst du dem Agenten diesen ganzen Mist?"
"Weil er einen Beweis hat!" Tom hatte zwei gemalte Porträts, auf denen Tom und sie selbst zu sehen gewesen waren, aus seiner Tasche gezogen,.
"Na und?" Die Porträts hatten Jenny nicht überzeugt. "Das beweist höchstens, dass er kein Agent, sondern ein Maler ist! Und warum hat der überhaupt diese Porträts von uns?"
Aber Tom hatte den Kopf geschüttelt und ihr dann die weiteren Einzelheiten einer haarsträubenden Geschichte erzählt: "Kart Orkid ist von dem Oberhaupt der Moks zu uns geschickt worden, um uns um unsere Mithilfe zu bitten. Denn das Problem ist nicht nur, dass Onk Ark im Waisenhaus gefangen gehalten wird, sondern dass der ganze Stamm in Gefahr ist! Die Polizei hat sogar Interpol eingeschaltet, weil sie hinter Onk Arks fehlender Herkunft Kinderschmuggel vermutet. Und bei Onk Ark weiß man nicht, wie lange er dicht hält. Erstes und wichtigstes Gesetz der Moks ist zwar, niemandem und unter keinen Umständen den Sitz ihres Stammes zu verraten, aber Onk Ark hat schon öfters gegen Gesetze verstoßen. Außerdem will er sicher bald wieder nach Hause. Und das kann er nur, wenn er der Polizei beweist, dass es die Moks wirklich gibt. Die Moks dürfen aber auf keinen Fall entdeckt werden. Denn sonst müssen sie ihre Unabhängigkeit aufgeben. Sicher würde man sie dann mit der französischen Gesellschaft vermischen wollen. Und das bedeutet nichts anderes, als dass man sie ihrer eigenen Existenz beraubt."
"Na und? Was geht mich dieser Stamm an?" hatte Jenny gefragt. "Bis jetzt wusste ich nicht einmal, dass es ihn gibt! Es ist mir wirklich egal, wenn er untergeht, bevor ich ihn kennen gelernt habe."
"Wie ignorant du bist!" Tom hatte sie wütend angesehen. "Ist es dir etwa auch egal, wenn eine seltene Pflanzen- oder Tierart ausstirbt? Nein?! Dann sind die Moks in deinen Augen wohl weniger wert als eine Pflanze?!"
O.K. Tom hatte recht. Artenvielfalt war sicher spannender als Monokultur. Und das traf sicher auf alle Lebewesen zu. Aber trotzdem - was hatten die Moks mit Tom und ihr zu tun?
"Wir stehen im 'Buch des Tuns'", hatte Tom erklärt und damit seine abenteuerliche Geschichte fortgesetzt. "Im Buch des Tuns wurde prophezeit, dass wir beide die Entdeckung der Moks verhindern! Kart Orkid hat mir das Buch gezeigt und ich bin mir sicher, dass es echt ist. In diesem Buch waren unsere beiden Gesichter gezeichnet. Kart Orkid hat mir schweren Herzens die Bilder aus dem Buch geschnitten, damit ich dich von der Geschichte überzeugen kann. Hat wohl nicht viel genützt."
"Wer hat diese Prophezeiung überhaupt geschrieben?" hatte Jenny gefragt.
"Der Gründer der Moks, Moko Osmos. Er ist schon über tausend Jahre tot, aber seine Prophezeiungen sind bisher immer eingetreten."
"Wenn das alles schon vorausgesagt wurde, brauchen wir ja nichts zu unternehmen", hatte Jenny gemeint. "Dann passiert es sowieso."
"Du bist so zynisch!" hatte Tom gefaucht. "Nichts passiert, ohne dass man es tut."
"Und was sollen wir der Meinung der Moks nach tun?"
"Wir sollen Onk Ark aus dem Waisenhaus befreien. Außerdem sollen wir verhindern, dass irgendjemand etwas von der Existenz der Moks bemerkt."
"Nichts leichter als das", hatte Jenny damals sarkastisch geantwortet. "Aber selbst wenn deine Geschichte stimmt - ich werde nicht mit dir mitkommen. Ich habe sechs entspannte Ferienwochen vor mir und die werde ich mir ganz sicher nicht von dir, Kart Orkid oder den Moks vermiesen lassen."

Seit diesem Gespräch war sie Tom aus dem Weg gegangen. Sie hatte gehofft, dass er sie in Ruhe lassen und sich die ganze Geschichte in Luft auflösen würde. Aber Tom hatte sie immer wieder abgepasst und sie auf dem neuesten Stand gebracht: dass Kart Orkid wieder abgereist sei und sie in drei Wochen in der Auvergne erwarte, dass der Kontakt zu dem Agenten abgebrochen wäre, und Tom das Schlimmste befürchtete, dass er einen Brief vom Oberhaupt bekommen hätte, in dem stand, dass Kart Orkid verschwunden wäre, dass sie aber trotzdem dringend zum verabredeten Zeitpunkt am verabredeten Ort sein sollten.
Je mehr Jenny von der Geschichte hörte, umso absurder, aber auch gefährlicher kam ihr die ganze Sache vor. Nur in einem Punkt war sie sich sicher: Nie und nimmer würde sie mit Tom diese abenteuerliche Reise antreten.

Am Freitag schlief Jenny bis in den Mittag hinein. Schließlich waren Ferien und gestern war sie noch lange mit Hella unterwegs gewesen. Zuerst waren sie beim Tanzen gewesen und danach waren sie auf einer Parkbank gesessen und hatten Ferienpläne geschmiedet. Entschieden hatten sie sich schließlich für eine zweiwöchige Fahrrad- Campingtour. Ihre Mutter würde ihr sicher ein wenig Geld dafür geben. Vor allem, wenn sie hörte, dass das Ferienlager flach fiel.
Bisher hatte Jenny noch keine Gelegenheit gehabt, ihrer Mutter zu erklären, dass Tom sich nur einen Scherz mit ihr erlaubt hatte und es das Ferienlager "City kids" überhaupt nicht gab. Aber heute hatte ihre Mutter ihren freien Tag und sicher ein offenes Ohr für sie. Jenny sprang aus dem Bett, zog sich an und rannte die Treppe hinunter.
Doch wo war ihre Mutter? Jenny konnte sie weder im Wohnzimmer, noch in ihrem Schlaf- oder Arbeitszimmer finden. Dafür lagen auf dem Küchentisch fünfzig Euro und ein Zettel:

Meine große Jenny,
vorhin hat Klaus angerufen und mich gefragt, ob ich mit ihm übers Wochenende an die Ostsee fahren möchte. Weil du heute Nachmittag sowieso ins Ferienlager fährst, habe ich zugesagt. Ich wollte dich nicht wecken, weil du geschlafen hast wie ein Stein. Pass gut auf dich auf und melde dich bald! Deine Mama

Jenny stöhnte. Musste ihre Mutter ausgerechnet heute wegfahren? Und hätte sie Jenny nicht wenigstens wecken können, bevor sie ging? Sicher, Jenny hasste es, wenn ihre Mutter sie weckte, aber in diesem Fall hätte sie doch wirklich eine Ausnahme machen können! Schließlich ging sie davon aus, dass sie Jenny drei Wochen lang nicht mehr sehen würde!
Jenny unterdrückte die Tränen, die in ihr aufstiegen, und dachte mit einem bitteren Lächeln: "Na, dann habe ich wohl wieder mal eine sturmfreie Bude! Am besten rufe ich gleich Hella, Kim und Lea an und organisiere mit den fünfzig Euro eine Party!"
Jenny hielt gerade den Hörer in der Hand, als das Telefon klingelte.
"Jenny Limmer, hallo?"
"Hallo Jenny", krächzte eine verzerrte Stimme in den Hörer. "Du kennst doch Tom Salzig?"
Jenny nickte stumm und die Stimme krächzte weiter: "Gut! Dann wird dich sicher interessieren, dass es ihm augenblicklich sehr, sehr schlecht geht. Das Messer vor seiner Kehle macht ihm offensichtlich Angst!"
Jenny schluckte, sagte aber immer noch nichts.
"Wenn dir sein Leben lieb ist, packst du jetzt sofort deinen Koffer und kommst in einer Stunde an den Bahnhof. Am Schalter ist auf deinen Namen eine Fahrkarte nach Aurillac bereitgelegt. In Aurillac bekommst du weitere Instruktionen. Aber vergiss nicht: Wenn du morgen um 7 Uhr 18 nicht am Bahnhof in Aurillac stehst, wird es deinem Freund schlecht ergehen!"
"Und wenn der Zug Verspätung hat oder ich einen Anschluss verpasse?" fragte Jenny mit erstickter Stimme.
"Das wird nicht passieren!" sagte die Stimme kalt und unterbrach die Verbindung.

Eine Stunde später stand Jenny mit ihrer Fahrkarte am Bahnsteig in Neuburg an der Donau und wartete auf ihren Zug nach Günzburg. Von dort würde sie weiter nach Ulm, dann nach Mannheim und Paris, von dort wieder südlich nach Aurillac fahren. Insgesamt musste sie sechs Mal umsteigen und fast 20 Stunden fahren!
Doch im Moment hatte sie andere Sorgen als die lange Fahrtzeit. Tom war in der Gewalt irgendwelcher Verbrecher und sie musste verhindern, dass sie ihm etwas antaten! Ohne groß Nachzudenken hatte sie deshalb vorhin ihren Rucksack gepackt. In aller Eile hatte sie sich ein paar Brote geschmiert, ihr Sparschwein geplündert, die fünfzig Euro vom Küchentisch genommen, ihr Handy und ihren Ausweis eingesteckt und war zum Bahnhof gerannt.
Jetzt hoffte sie, dass der Zug pünktlich kam und sie ihren Anschluss in Günzburg bekommen würde.
Wo Tom jetzt wohl gerade war? Und wer hatte ihn in seiner Gewalt? Da sie nach Aurillac in der Auvergne fahren sollte, hatte seine Entführung sicher etwas mit den Moks zu tun. Wahrscheinlich war der Volksstamm gar nicht so harmlos, wie er es vorgab. Oder waren es gar nicht die Moks, sondern die gleichen Leute, die Kart Orkid verschwinden ließen? Aber wer sagte überhaupt, das Kart Orkid wirklich entführt worden war? Wahrscheinlich war die ganze Geschichte sowieso ein ausgemachter Schwindel, um sie und Tom in die Falle zu locken. Aber in welche Falle eigentlich? Wer hatte warum ein Interesse daran, sie nach Frankreich zu locken? Ihre Eltern hatten nicht mehr Geld als andere und auch sonst gab es nichts, was sie besonders auszeichnete. Jenny schütteltet den Kopf. Irgendetwas an der Sache war faul, aber was?
"Was ist denn mit dir los?"
Jenny zuckte zusammen und bemerkte Colette aus ihrer Klasse neben sich.
"Du siehst aus, als hättest du in die Hose gemacht!"
"Sehr witzig!" sagte Jenny und drehte sich von Colette weg. Im Moment hatte sie absolut kein Bedürfnis nach einem Plauderstündchen mit ihrer Klassenkameradin.
"Fährst du auch nach Günzburg?" fragte Colette und stellte sich wieder vor Jenny. Jenny nickte. Hoffentlich kam der Zug bald.
"Dann können wir ja zusammen fahren!"
Jenny zuckte mit den Schultern.
"Meine Damen und Herren, auf Gleis 3 fährt jetzt der Zug von Neuenburg Luisenhöhe nach Günzburg ein. Vorsicht bei der Einfahrt!"
"Endlich!" sagte Jenny und schulterte ihren Rucksack.
"Warum bist du denn so nervös?" fragte Colette.
Jenny sagte nichts, sondern stieg schnell in den Waggon. Sie setzte sich auf den erstbesten Fenstersitzplatz und sah nur kurz auf, als sich Colette neben ihr fallen ließ. Merkte Colette denn gar nicht, dass sie lieber alleine sein wollte, oder machte es ihr Spaß, Jenny auf die Nerven zu gehen?
Die einstündige Fahrt nach Günzburg erschien Jenny unendlich lang. Nachdem Colette verstanden hatte, dass sie von Jenny keine Neuigkeiten erfahren würde, plapperte sie ihr mit Belanglosigkeiten die Ohren voll. Jenny hörte kaum zu, sagte immer nur "ja" und "aha". Ansonsten dachte sie an Tom.
Wäre er auch entführt worden, wenn sie mit ihm in die Auvergne gefahren wäre?
Nicht auszudenken, dass womöglich sie an seiner Entführung Schuld war!
Jenny sah auf ihre Uhr und erschrak: Der Zug hatte schon fünf Minuten Verspätung! Dabei würde sie in Ulm nur sieben Minuten zum Umsteigen haben.
In Günzburg verabschiedete sich Jenny schnell von Colette und rannte die Treppe hinunter, um zu ihrem Gleis zu kommen.
Der Schaffner stand schon mit der Trillerpfeife im Mund da.
"Halt!" rief Jenny, "Ich muss noch mit!"
Der Schaffner sah sie mürrisch an, nahm die Pfeife aber wieder aus dem Mund und wartete mit seinem Signal, bis Jenny eingestiegen war.
"Geschafft!" sagte Jenny erleichtert und ließ sich auf einen Sitz fallen. "Jetzt brauche ich nur noch 18 Stunden bis Aurillac."
Die weitere Fahrt verlief mehr oder weniger ereignislos. Einer der Schaffner fragte, ob sie in den Ferien zu einer Gastfamilie nach Frankreich fahren würde. Sie nickte brav und nannte sogar den Namen ihrer erfundenen Gastfamilie: Gaston. In Mannheim kaufte sie sich eine große Flasche Cola und ein paar Schokoriegel. Und nach der französischen Grenze versuchte eine junge Frau mit ihr zu plaudern. Doch Jennys Französisch ließ sehr zu wünschen übrig und das Gespräch ebbte schnell wieder ab.

Nach wenigen Stunden schlechten Schlafs war Jenny am anderen Morgen nur noch zwei Stationen von Aurillac entfernt. Plötzlich hatte sie nicht nur um Tom, sondern auch um sich selbst Angst. Konnte ihr selbst hier nicht eben so viel passieren wie Tom? Reichte es nicht, dass Tom schon in Gefahr war? Und konnte sie Tom nicht viel besser helfen, wenn sie nicht nach Aurillac fuhr?
Warum war sie überhaupt hier her gereist? Kopflos war sie gestern gewesen, nichts als kopflos!
Das Klügste war sicher, jetzt gleich ihre Mutter anzurufen und sie zu fragen, wie man Tom helfen konnte. Sicher, ihre Mutter würde nicht entzückt sein, wenn sie sie um sechs Uhr morgens aus dem Bett klingelte, aber immerhin war dies ein Notfall! Jenny holte die Nummer ihrer Mutter auf das Display und drückte auf die grüne Taste.
"Stopp!" rief jemand hinter ihrem Sitz.
Jenny erschrak und drückte die Verbindung reflexartig weg.
Ein Junge mit braunen Locken und vielen Sommersprossen im Gesicht tauchte hinter dem Sitz auf.
"Tom!" Jenny wusste nicht, ob sie lachen oder heulen sollte. "Was machst du denn hier?"
"Ich bin in der Gewalt von schrecklichen Gangstern! Und in meinem Hals steckt ein langes Messer!" krächzte Tom mit verstellter Stimme.
"Soll das heißen, dass du gar nicht entführt worden bist?!"
Tom grinste.
"Du hast die ganze Geschichte nur inszeniert, dass ich mit dir in die Auvergne fahre!"
Tom nickte stolz mit dem Kopf.
"Sag mal, spinnst du?" rief Jenny. "Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, mir einen solchen Schrecken einzujagen! Die ganzen letzten zwanzig Stunden habe ich nur an dich und diese beschissenen Entführer gedacht. Und jetzt stehst du da und sagst: 'April April'?!"
"Tut mir leid", sagte Tom. Er klang wirklich ein wenig geknickt. "Aber ohne diese Aktion wärst du doch nie mit hier her gekommen."
"Allerdings", meinte Jenny. "Aber mit dieser Aktion komme ich ganz sicher auch nicht mit dir nach Auriallac! Bei der nächsten Station steige ich aus und nehme den nächsten Zug zurück!"
"Du kannst doch jetzt nicht umkehren!" rief Tom. "Nicht so kurz vor dem Ziel! Komm doch wenigstens mit nach Aurillac. Einen einzigen Tag! Dann kannst du heute Abend immer noch den Nachtzug nach Paris nehmen."
"Was soll denn dieser eine Tag bringen?" Jenny war zwar immer noch wütend auf Tom, gleichzeitig war sie aber auch erleichtert, dass er so gesund und munter vor ihr stand.
"Wenn dich die Moks einmal gesehen haben, reicht das vielleicht für die Prophezeiung."
"Und wenn nicht?"
"Sie werden dich auf jeden Fall wieder gehen lassen", sagte Tom überzeugt. "Sie wollen, dass wir freiwillig helfen, nicht aus Zwang."
"Interessant!" sagte Jenny und dachte an ihre unfreiwillig freiwillige Reise nach Frankreich. Allerdings war das Toms Idee, nicht die der Moks gewesen.
"Außerdem bin ich dann nicht so allein!" Tom schaute etwas verlegen zur Seite. "Wenn ich erst mal bei den Moks bin, wird es nicht so schlimm sein. Aber allein in der Pampa rumzulaufen und das Versteck der Moks zu suchen ... mit dir macht es viel mehr Spaß."
Jenny sah Tom überrascht an: Hatte er alle Hebel nur in Bewegung gesetzt, um sie bei sich zu haben?
"Und du versprichst, dass du mich heute Abend zum Bahnhof von Aurillac bringst?"
Tom nickte.
"Kann ich mich darauf verlassen, dass du keine faulen Tricks mehr anwendest?"
"Großes Indianer-Ehrenwort!"
"Gut!" sagte Jenny. "Aber wenn du noch einmal hinter meinem Rücken ein Ding drehst, wirst du es bereuen!"

Tom und Jenny erreichten Aurillac fahrplanmäßig kurz nach 7 Uhr. Jenny kaufte sich am Schalter gleich eine Rückfahrkarte und fragte nach der Verbindung.
"Der letzte Zug fährt heute um 18 Uhr 30", sagte Jenny, als sie zu Tom zurück kam.
"Das wird knapp", sagte Tom. "Dann lass uns jetzt gleich den Bus nach Rudez suchen."
"Muss das sein?" stöhnte Jenny. "Ich habe einen riesigen Hunger. Außer ein paar Broten und Schokoriegeln habe ich den ganzen letzten Tag nichts gegessen!"
Tom gab sich geschlagen. Schließlich wollte er nicht riskieren, dass Jenny es sich noch mal anders überlegte und doch gleich wieder zurück fuhr.
Gegenüber des Bahnhofs fanden sie ein kleines Café, das schon geöffnet hatte. Sie bestellten zwei belegte Baguettes, heiße Schokolade und zwei Flaschen Wasser.
"Schade, dass es hier zum Frühstück kein Rührei gibt", sagte Jenny. "Ich hätte jetzt gerne etwas Warmes."
Tom holte eine Landkarte aus seiner Umhängetasche und zeigte Jenny, wo sich der Mok-Stamm ungefähr versteckt hielt.
"Von hier aus müssen wir knapp 30 km mit dem Bus nach Rudez fahren und von dort weiter zu Fuß."
Tom zeigte auf einen winzigen Punkt auf der Karte.
"Das ist Rudez. Ein Dorf mit vielleicht zwanzig Einwohnern. Hier wollte uns ursprünglich Kart Orkid abholen. Aber da er verschwunden ist, müssen wir den Weg zu den Moks selbst herausfinden."
"Warum holt uns denn niemand anderes von den Moks ab?" fragte Jenny.
"Weil die Moks sehr lichtscheu sind und immer Angst haben, entdeckt zu werden. Kart konnte nur deshalb zu uns kommen, weil er für seinen Stamm außergewöhnlich groß ist und ein ziemlich erwachsenes Gesicht hat."
"Aber woher sollen wir wissen, wo die Moks leben?"
"Das müssen wir mit Hilfe einer Pflanze und eines Steins herausfinden!" Tom holte aus seinem Rucksack eine vertrocknete Pflanze und einen weiß-braunen, porösen Stein. "Das hat das Oberhaupt der Moks mir als Wegweiser geschickt."
Jenny schaute Tom fragend an.
"Die Pflanze ist ein Farn und das hier heißt Kalktuff", Tom hielt den Stein hoch und erklärte: "Kalktuff entsteht, wenn kohlensäurehaltiges Wasser feinkristalline Körner aus dem Kalkgestein auslöst und diese Körner sich wie eine Art Überguss um anderes Material wie Sand, Steinchen, Farne oder auch Algen legen. Innerhalb von Hundert bis Tausend Jahren entstehen so große Steingebilde oder -Polster an kleinen Wasserfällen oder Stufen in Bachterrassen."
"Die Moks wohnen also nahe an einem Gewässer?"
"Nicht unbedingt", sagte Tom. "Der Wasserlauf kann sich inzwischen verändert haben und den Kalktuff übrig gelassen haben. Ich glaube, das Oberhaupt der Moks wollte uns damit etwas anderes mitteilen: Sucht nach Kalktuff! In den Alpen oder der Fränkischen Schweiz, wo Kalktuff oft vorkommt, wäre das hoffnungslos. Aber hier in dieser Gegend kommt Kalktuff eigentlich gar nicht vor! Rudez liegt am Fuße des Vulkanbergs Cantal. Vulkangestein nennt man zum Teil zwar auch Tuff, aber der Vulkantuff ist ganz sicher nicht aus Kalk!"
"Kannst du dich mal klarer ausdrücken?"
"Wir müssen ab Rudez nach dem seltenen Kalktuff suchen. Ich stelle es mir vor wie bei einer Schnitzeljagd: Der Kalktuff wird uns zu den Moks führen!"
Tom packte den Farn und den Stein wieder in seinen Rucksack und winkte dem Kellner.
"Wir möchten gerne bezahlen", sagte er in gebrochenem Französisch. "Und wissen Sie zufällig, wo der Bus nach Rudez abfährt?"
"Gleich hier am Bahnhof", antwortete der Kellner. "Aber nach Rudez fährt der Bus nur zwei Mal am Tag. Einmal morgens und einmal abends. Wenn ihr Glück habt, ist er noch da."
Tom und Jenny hatten tatsächlich Glück. Der Bus war nur deshalb noch nicht abgefahren, weil der Fahrer in aller Ruhe seinen Kaffee austrinken wollte.
"Was macht ihr denn in Rudez?" fragte der Fahrer, als sie das Ticket lösten. "In dem Dorf ist doch nichts los. Und die Schisaison läuft noch lange nicht an."
"Wir machen Ferien", sagte Tom schnell und schob Jenny vor sich her ans Ende des Busses.

Rudez lag in einer malerischen Hügellandschaft mit Blick auf den Vulkanberg Cantal. Als sie der Bus auf der einzigen Straße des Dorfes ausgespuckt hatte und hinter einer Kurve verschwunden war, fragte Jenny, wo denn jetzt der Kalktuff wäre.
"Wenn das Gebiet noch feucht ist, immer den Farnen nach", sagte Tom. "Vielleicht führen sie uns zum Kalktuff und zu den Moks. Doch lass uns zuerst aus dem Dorf gehen, nicht dass wir noch einem der Bewohner auffallen. Es reicht schon, dass wir dem Busfahrer verdächtig vorgekommen sind."
Doch so leicht, wie sich Tom die Suche vorgestellt hatte, war es offensichtlich nicht. Eine Stunde später hatte Jenny zwar von Tom gelernt, wie gelber Enzian, Sonnentau und Türkenbund aussahen, aber einen Farn hatten sie weit und breit nirgends entdeckt und auch der Kalktuff hielt sich hartnäckig versteckt.
"Wasser fließt doch eigentlich immer nach unten", stellte Jenny irgendwann fest. "Dann sammelt sich das ganze Wasser aus den Hängen doch auch im Tal."
"Du hast recht!" Tom pfiff anerkennend durch die Zähne. "Von daher ist es im Tal insgesamt feuchter als am Hang. Also finden wir auch dort eher die feuchtigkeitsliebenden Farne!"
"Vorrausgesetzt, das Bachbett ist nicht schon längst verschwunden!"
Tom nickte. "Aber einen Versuch ist es auf jeden Fall wert."
Jenny und Tom kletterten eine abschüssige Wiese hinunter und kamen dann auf einen steinigen, schmalen Weg, der sie nach unten ins Tal führte. Nach einigen hundert Metern endete der Weg allerdings auf einer Kuhwiese und sie mussten sich zwischen grasenden Kühen und Büschen weiter nach unten durchschlagen.
"Je länger wir suchen, umso sinnloser kommt mir das alles vor", sagte Jenny. "Immerhin suchen wir keine Zwerge, sondern Menschen, die fast so groß wie wir selbst sind! Wo soll sich denn hier eine ganze Mok-Siedlung verstecken? "
"Woher soll ich das wissen?" fragte Tom gereizt. "Vielleicht können sie sich ja unsichtbar machen!"
"Quatsch!" sagte Jenny. "Wir befinden uns nicht im Märchen. Außerdem hätten die Moks sonst keine Angst, entdeckt zu werden. Ich frage mich sowieso, warum sie ihre Siedlung so nahe an einem Dorf gebaut haben."
Tom sagte nichts, sondern suchte verbissen weiter.
"Also wenn wir bis in zwei Stunden nichts gefunden haben, mache ich mich wieder auf den Rückweg!"
"Warum das denn?" fragte Tom. "Dein Bus fährt doch erst um fünf Uhr! Dann haben wir mindestens noch vier Stunden Zeit!"
"Ich will auf jeden Fall pünktlich sein", Jenny ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Spätestens in drei Stunden bin ich weg! Außerdem habe ich Hunger!"
"Hunger!" stöhnte Tom. "Immer hast du Hunger! Mensch, wir haben keine Zeit für Hunger. Aber ich habe in meinem Rucksack ein paar Äpfel und Kekse. Willst du was davon?"
Während Jenny sich ins Gras fallen ließ und einen Apfel und die Kekse aß, untersuchte Tom weiter den Boden nach Auffälligkeiten. Bald war er aus Jennys Blickfeld verschwunden.
Jenny schaute in den Himmel und atmete tief durch. Wie klar und frisch die Luft hier roch! Und wie ruhig und friedlich es war! Eigentlich war es schade, dass sie hier keinen Urlaub machte. Jenny legte sich ins Gras und eingelullt von würzigem Pflanzenduft und warmen Sonnenstrahlen, schlief sie ein.
Im Traum stand sie auf einer großen Wiese und pflückte einen Blumenstrauß. Auf der Wiese standen lauter Blumen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Manche hatten lange blaue Kelche, andere sahen wie rote Perlen an dünnen Stielen aus, und wieder andere erinnerten Jenny an bunte Schmetterlinge. Jenny wollte diesen Strauß ihrer Mutter zum Geburtstag schenken. Doch plötzlich fiel ein bedrohlicher Schatten auf sie und eine riesige Krähe stürzte herab.
Jenny fuhr aus ihrem Traum hoch und erschrak: Der Himmel war dunkel geworden und einzelne dicke Tropfen fielen ihr bereits ins Gesicht. Sie schaute auf ihre Uhr und erschrak ein zweites Mal. Eine ganze Stunde lang hatte sie geschlafen! Wo Tom nur blieb? Er suchte doch sicher nicht eine Stunde lang ohne sie nach den Moks? Oder war er in der Zwischenzeit zurück gekommen und nochmals losgegangen?
"Tom!" rief Jenny. "Tom! Bist du hier irgendwo?"
Doch außer den Regentropfen und einer Windböe antwortete ihr niemand.
"Das gibt's doch nicht!" sagte Jenny. "Der kann mich hier doch nicht alleine lassen! Oder ist das wieder einer seiner blöden Tricks?"
Jenny stand wütend auf, holte aus ihrem Rucksack ein Regencape und ging in die Richtung, in der sie Tom zuletzt gesehen hatte.

Nach einer halben Stunde hatte Jenny nasse Füße und ihre Laune war noch schlechter als zuvor. Der Regen wurde immer stärker und von Tom war außer ein paar geknickten Ästen und Fußspuren im hohen Gras nichts zu sehen. Jenny hatte gute Lust, die Expedition abzublasen und wieder nach Rudez zurück zu gehen. Aber je länger sie suchte, umso mehr verrauchte ihre Wut und machte sie sich Sorgen um Tom. Was, wenn Tom etwas passiert war?
Vielleicht war er irgendwo stecken geblieben oder hineingefallen? Oder die Moks hatten ihn gefangen genommen? Sie selbst hatte ja ohnehin nie an die friedlichen Absichten der Moks geglaubt, wenn es sie denn überhaupt gab. Aber warum hatten die Moks dann nur Tom mitgenommen und nicht auch sie?
Jenny probierte zum dritten Mal, Tom auf seinem Handy zu erreichen. Aber außer der Mailbox hob niemand ab. Sollte sie ihre Mutter anrufen? Aber wie konnte sie ihr jetzt noch die Reise nach Frankreich und ihre Suche nach Tom erklären? Außerdem war ihr Akku nicht mehr voll und wahrscheinlich war es besser, sich die restliche Ladezeit für den Notfall aufzuheben.
Wenn es doch wenigstens nicht regnen würde! Unterhalb ihres Capes waren ihre Hosen von den vorbeistreichenden nassen Gräsern und Blättern schon ganz durchweicht. Was mussten hier auch so hohe Blätter wachsen?!
Plötzlich hielt Jenny inne. Waren die hohen Blätter nicht Farne? Natürlich! Wie hatte sie das die ganze Zeit übersehen können!
Jennys Herz klopfte stark. War Tom nicht auch genau diesen Weg gegangen, bevor er verschwand? War sie hier Tom und den Moks auf der Spur?
Den Farnen entlang ging sie weiter, zwängte sich zwischen Büschen durch, kletterte zwischen Laubbäumen einen Hang hoch und setzte sich schließlich zum Ausruhen auf einen großen, moosüberzogenen Fels.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tals entdeckte sie Rudez. Unter dem dunklen Himmel sah das Dorf einsam und ungastlich aus. Ob sie Tom wohl bald finden würde? Gedankenversunken zupfte Jenny das Moos vom Stein und fuhr mit dem Finger über den darunter liegenden Stein. Wie porös der Stein war! Mit dem Nagel konnte man beinahe Löcher in ihn bohren. Jenny sah sich den Fels genauer an und verglich ihn in Gedanken mit dem Kalktuff, den Tom ihr gezeigt hatte. Dieser Stein war zwar auch brüchig, aber die Farbe stimmte nicht. Denn der hier war nicht weiß-braun, sondern eher grau-schwarz. Aber konnte das nicht daran liegen, dass er durch den Regen dunkel geworden war? Was hatte Tom außerdem über den Kalktuff erzählt? Dass er riesige Steingebilde und Bachterrassen bilden konnte?
Jenny kletterte auf den Fels und entdeckte, dass er tatsächlich nur der untere Sockel eines weitaus größeren Felsen war. Eine treppenartige Steinformation führte auf einen großen Stein zu, der überwuchert mit Büschen und riesigen Farnen war. Wenn das nicht wirklich Kalktuff war! Wenn sie hier nicht bald am Ziel war! Jenny stieg die nass-glitschigen Treppen empor und stand bald vor dem farnbewachsenen Stein. Der Kalktuff schien hier allerdings zu Ende zu sein. Ebenso die Spur aus Farn. Wo aber war Tom? Wo waren die Moks?
Jenny wollte nicht glauben, dass sie auf der falschen Fährte war. Denn wo sollte sie sonst nach Tom suchen? Wütend schlug sie mit einem Stock auf den Farn ein. Warum hatte sie diese blöde Pflanze auch in die Irre geleitet!
Als auf dem Boden schon eine ganze Armee toter Farnpflanzen lag, stieß Jennys Stock plötzlich ins Leere! Wie das? Jenny schob den Farn zur Seite und stieß einen überraschten Schrei aus: Hinter dem grünen Pflanzenteppich verbarg sich ein schmales Loch! Oder besser gesagt: der schmale Eingang einer Höhle!

Ende Teil 1

Die Fortsetzung der Geschichte könnt ihr im Rossipotti No. 19 lesen!

 © Rossipotti No. 18, Juli 2008