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Das geheime Buch

Reise ins Ungewisse

von

Heiko Bacher

Fortsetzung: Teil 4

Wer den Anfang verpasst hat und nicht nur die kurze Zusammenfassung lesen möchte, sondern auch den Anfang des Buches, geht zurück zur letzten Rossipotti-Ausgabe

Was bisher geschah:

Der dreizehnjährige Tom wird von Kart Orkid, einem Agenten des unbekannten Volkstammes Mok, gebeten, sein Volk vor der Entdeckung und Zerstörung zu retten. Tom verspricht zu helfen und in den Sommerferien nach Frankreich zu den Moks zu fahren. Doch nicht nur er, sondern auch die zwölfjährige Jenny soll den Moks helfen. Denn in dem uralten "Buch des Tuns" der Moks steht geschrieben, dass nur die beiden Kinder den Moks helfen können. Jenny glaubt Kart Orkid kein Wort und denkt nicht daran, nach Frankreich zu fahren. Auch nicht, als Kart Orkid auf rätselhafte Weise verschwindet und das Oberhaupt der Moks Tom einen hilferufenden Brief schreibt. Doch Tom lockt Jenny mit einer fingierten Entführung in die Auvergne und überredet sie, dort mit ihr nach den Moks zu suchen. Jenny willigt ein, und ein paar Schwierigkeiten und getrennte Wege später treffen sie den ersten Mok, Lurk, in einer großen, viel verzweigten Höhle.
Lurk führt die Kinder durch die Höhle zur Hauptversammlung der Moks vor deren Oberhaupt, Pok Alk. Dort erfahren sie, was der Gründer des Mokstamms den Moks prophezeit hat: Zwei Kinder, To-Am und Jen-Yi, werden kommen und die Moks vor gelbem Hagel und dem Untergang ihres Stammes retten. - Nach der Versammlung werden Jenny und Tom zu einer Mokfamilie (den Eltern Lenka und Enk und der Tochter Kala) gebracht, die die beiden Kinder in einer Art Schnellkurs in die Sitten und Gebräuche einführen soll. Am nächsten Morgen zeigt Kala den beiden Kindern zuerst die Bibliothek. Dort sollen sich Tom und Jenny mit der Kultur der Moks beschäftigen. Jenny schmöckert in einem Kunstband der "Lauten Periode" der Moks und Tom entdeckt, dass es auffallend viele Bücher über Pygmäen gibt ...

"Ein Pygmäe", wiederholte Tom. "Das ist jemand, der im Durchschnitt nur 140 Zentimeter wird. Sieh mal, die Bücher hier handeln alle von kleinwüchsigen Menschen."
"Dann sind die Moks also Pygmäen?" fragte Jenny.
"Scheint so!" meinte Tom. "Ich frage mich nur, was das zu bedeuten hat!"
"Das wird der Grund sein, warum sie sich in die Höhle zurück gezogen haben", sagte Jenny. "Es war ihnen peinlich, so klein zu sein."
"Deshalb schließt sich doch niemand in einen Berg ein!" sagte Tom. "Außerdem waren die anderen Menschen vor tausend Jahren auch nicht viel größer, vielleicht ein Meter sechzig, statt einsvierzig."
"Dann wurden sie eben vertrieben", sagte Jenny.
"Oder die Moks waren vor tausend Jahren auch noch viel kleiner", überlegte Tom. "Als Zwerge, denen man magische Fähigkeiten zugetraut hat, wurden sie in den Berg verbannt."
"Sicher", Jenny zog die Mundwinkel schnippisch nach unten. "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute."
"Und warum leben sie dann hier unten wie die Fledermäuse?" fragte Tom gereizt. "Irgend einen triftigen Grund muss es doch geben. Und da hier viele Bücher über Pygmäen rumstehen, hat ihr Rückzug sicher damit etwas zu tun!"
"Und wenn schon?" sagte Jenny. "Eigentlich ist es doch völlig egal, was vor tausend Jahren war und warum sie in einer Höhle leben. Wichtig ist, dass sie heute hier leben und sich akut bedroht fühlen."
"Aber das eine hat doch wahrscheinlich etwas mit dem anderen zu tun", sagte Tom. "Wahrscheinlich werden die Moks heute aus dem gleichen Grund bedroht wie damals vor tausend Jahren."
"Warum das denn?" fragte Jenny. "Wenn deine Theorie stimmt und die Moks vor langer Zeit tatsächlich in den Berg verbannt wurden, weil man sie für gefährlich hielt, dann sind sie doch schon da, wo die großen Menschen sie haben wollten. Warum sollte man sie dann nochmals verfolgen?"
"Da hast du auch wieder Recht", sagte Tom nachdenklich. "Dann haben sie sich hier unten vielleicht tatsächlich versteckt. Immerhin haben sie panische Angst, entdeckt zu werden. Aber warum schließt man sich selbst in einem Berg ein?
"Vielleicht haben sie einen genetischen Defekt und vertragen das Sonnenlicht nicht?"
"Wohl kaum", meinte Tom. "Dann gäbe es nicht immer wieder Moks, die die Höhle verlassen möchten. Und was ist mit Kart Orkid und Onk Ark? Aber lassen wir das Spekulieren. Das einzige, was wir wirklich wissen, ist, dass die Moks zum Stamm der Pygmäen gehören und seit tausend Jahren in dieser Höhle leben."

"Richtig!" sagte eine dunkle Stimme hinter ihnen. "Wir Moks sind tatsächlich Pygmäen. Und wenn eure Büchern über Pygmäen stimmen, kommen wir ursprünglich aus Zentralafrika. Aber das muss schon sehr lange her sein, mindestens dreitausend Jahre. Denn wir Moks erinnern uns nur an ein Leben in Europa. Und unsere ersten Bildquellen reichen bis ins Jahr 950 v. Chr. zurück."
Bulk trat mit einem großen Buch unter dem Arm neben sie, legte es auf den Tisch und schlug es auf. Er zeigte auf ein naives Gemälde in dunklen, erdigen Farben.
"Seht!" sagte Bulk stolz. "So haben unsere Vorfahren gelebt!"
Das Gemälde zeigte einen gewaltigen Wald, in dessen Mitte ein paar Menschen vor runden Blätter-Hütten saßen.
"Damals wohnten wir noch in kleinen Dörfern in den Wäldern. Wir lebten von der Jagd und vom Sammeln von Beeren und Pilzen", sagte Bulk. "Wir waren die einzigen Menschen weit und breit und lebten, wie es uns gefiel. Als später die großen Menschen in unsere Gegend übersiedelten, fingen wir einen Tauschhandel mit ihnen an. Alles ging gut, bis sich ein paar große Menschen einbildeten, sie wären besser und edler als wir. Sie versuchten, uns zu betrügen, zu fangen oder als Diener zu benutzen. Aber wir Moks wollten immer schon nach unseren eigenen Regeln leben."
Bulk blätterte das Bilder-Buch langsam durch und Jenny und Tom sahen, wie die Vorfahren der heutigen Moks auf Bäume kletterten, mit Spießen Tiere jagten, im Fluss angelten und um Feuer tanzten. Auf den Bildern entdeckte Jenny neben den kleinen Menschen auch Füchse, Bären, Hirsche und Wölfe, Schlangen, Igel und Wildschweine.
"Moment bitte", sagte Tom, als Bulk ein Bild, auf dem mehrere Moks eine Kugel warfen, weiter blättern wollte. "Ist das Runde etwa ein Ball?!"
Bulk nickte.
"Die Moks haben vor über tausend Jahren schon Ball gespielt? Im Wald?"
"Warum nicht?" fragte Bulk. "Ballspiele gibt es schon lange."
"Trotzdem. Im Wald ist dafür doch viel zu wenig Platz", meinte Tom.
"Du hast Vorurteile", sagte Bulk. "Pygmäen lieben das Spiel. Es ist für sie eine ernste Sache. Die Erwachsenen spielen genauso wie die Kinder."
"Wirklich?" rief Jenny aus. "Davon merkt man hier aber nicht mehr viel."
"Den Ernst schon, das Spiel nicht", meinte Bulk. "Seit der Zeit, als wir noch im Wald gelebt haben, hat sich für uns viel verändert. Das Leben in der Höhle hat aus uns ein ängstliches Volk gemacht. Früher haben wir im Augenblick gelebt, wir waren frei von Zukunftsängsten und die Gemeinschaft war dazu da, das Glück des Einzelnen zu befördern. Heute ist es genau umgekehrt: der Einzelne ist ein Sklave der Gemeinschaft geworden und die Gemeinschaft ist Sklave ihrer Angst, entdeckt zu werden. Während unsere Vorfahren ihre ganze Aufmerksamkeit der realen Gefahr im Wald durch gefährliche Tiere und giftige Pflanzen geschenkt haben, steckt der heutige Mok die ganze Kraft in die irreale Gefahr seiner Entdeckung."
"Heißt das, du glaubst gar nicht, dass die Moks bedroht werden?" fragte Tom erstaunt. "Du glaubst gar nicht an die Prophezeiung?"
"Doch", sagte Bulk, "aber ich glaube, dass wir nicht von außen, sondern von innen bedroht werden"
"Wie meinst du das?"
"Die Moks haben keine Kraft mehr," antwortete Bulk. "Ihr Lebenssaft versiegt zwischen den nassen, dunklen Steinen."
"Du möchtest sicher wie Kalas Vater weg aus der Höhle und oben das Leben von uns leben?" fragte Jenny mitfühlend.
"Nein", sagte Bulk. "Kalas Vater vergisst, dass er eine Pygmäe ist. Er glaubt, dass er glücklich wird, wenn er sich Turnschuhe anzieht und so tut, als ob er schon immer in der Zivilisation der großen Menschen gelebt hätte."
"Und du möchtest wieder leben wie vor tausend Jahren?" fragte Jenny ungläubig. "Als ihr noch nicht in der Höhle gelebt habt?"
"Rede nicht schlecht über diese Zeit!" sagte Bulk.
"Du weißt darüber nicht viel mehr als ich!" verteidigte sich Jenny. "Du hast damals nicht gelebt und weißt alles nur aus Büchern."
"Sicher, die Bilder in diesem Buch sind nicht fotografiert, sondern nur gemalt", gab Bulk zu. "Und wer weiß, was sie alles dazu erfunden haben? Trotzdem war das Leben damals sicher viel freier, bunter und lebenslustiger als unseres hier unten in Kälte und Dunkelheit. Das Leben hier ist kein Leben für einen Mok."
"Gut möglich", meinte Jenny, "aber man kann die Uhr nicht einfach zurück drehen. Auch wir können nicht mehr leben wie die Europäer zur Zeit Karl des Großen."
"Aber ihr habt euch eure Veränderungen selbst eingebrockt!" brauste Bulk auf. "Aber wir wurden nie gefragt! Wir wurden einfach verdrängt und sind seither Gefangene im eigenen Land!"
"Wieso Gefangene?" fragte Jenny. "Ich denke, ihr sitzt freiwillig hier im Berg?"
Bulk schwieg und schaute Jenny feindselig an.
"Wie sind die Moks eigentlich in Gefangenschaft geraten?" versuchte Tom zu vermitteln.
"Geht in die Schule, wenn ihr Geschichtsunterricht haben wollt. Ich habe euch nichts mehr zu sagen!" Bulk schlug das Buch kraftvoll zu, nahm es unter den Arm und ging mit schnellen Schritten davon.

"Warum musst du auch immer so eine dicke Lippe riskieren?" fragte Tom.
"Ich habe doch nur mit ihm diskutiert", sagte Jenny. "Woher kann ich wissen, dass er so schnell einschnappt?"
"Hoffentlich kommt Kala bald", sagte Tom und räumte seine Bücher wieder ins Regal.
Jenny nickte und stellte das Kunstbuch, das sie vorhin angesehen hatte, an seinen Platz zurück.

"Was ist denn hier los?" fragte Kala keine zehn Minuten später. "Bulk flieht vor mir und ihr steht mit Trauermine zwischen den Regalen."
"Wir sind nicht gerade friedlich auseinander gegangen", erklärte Tom die Situation.
"Habt ihr euch über unsere Vorfahren unterhalten?" fragte Kala.
Jenny nickte.
"Ja", sagte Kala. "Das einzige, was Bulk aus der Fassung bringt, ist, wenn man über unsere Vorfahren und ihr schönes Leben spricht. Ansonsten ist er eigentlich sehr umgänglich."
"Back to the roots", meinte Tom.
"Was bedeutet das?" fragte Kala irritiert.
"Er will nicht vorwärts, sondern rückwärts gehen."
"Ach so", sagte Kala. "Ich weiß nicht. Ich finde eher, er hat zu konkrete Vorstellungen, wie ein Mok zu sein hat. Aber wer bestimmt das schon? Im Endeffekt doch wir selbst. Das ist doch kein Naturgesetz."
"Warum sind die Moks eigentlich in die Höhle gezogen?" fragte Tom interessiert. "Gab es einen Krieg zwischen den Moks und den großen Menschen?"
"Das ist eine lange Geschichte", sagte Kala. "Und wir müssen bald in der Schule sein. Aber ich kann euch auf dem Weg etwas darüber erzählen."

Als die drei Kinder mit ihren Fackeln den Gletschergarten nach unten gingen, erzählte Kala:
"Die Zeit, als die Moks in Eintracht mit sich und der Natur lebten, ist schon mindestens 1500 Jahre her. Könnt ihr euch einen so langen Zeitraum überhaupt vorstellen?"
"Klar!" sagte Tom. "Im Vergleich zur Zeit der Dinosaurier ist das ein Klacks."
"Gut", meinte Kala und fuhr in ihrer Erzählung fort: "Vor langer Zeit also lebten einige tausend Pygmäen glücklich und zufrieden in einem riesigen Wald in der Auvergne. Die Pygmäen aßen Beeren, sammelten Pilze ..."
"Das hat uns Bulk schon erzählt", unterbrach Tom.
"Stimmt", meinte Kala, "hätte ich mir denken können. Irgendwann, ungefähr 500 Jahre n. Chr. kamen plötzlich große Menschen in den Wald und fingen an, ihn zu roden. Dabei entdeckten sie die Pygmäen. Sie nahmen einige unserer Vorfahren gefangen und versuchten, sie als billige Arbeitskräfte einzusetzen. Doch die Pygmäen waren harte Arbeit nicht gewohnt und aßen den großen Menschen nur die Vorräte weg. Da wurden die großen Menschen wütend und schlugen die Pygmäen tot oder jagten sie wieder in den Wald zu den übrig gebliebenen ihres Stammes. Seit der Zeit lebten die Pygmäen in der ständigen Angst, entdeckt, getötet oder vertrieben zu werden. Tatsächlich kam es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen, denen vor allem die Pygmäen zum Opfer fielen."
Sie waren jetzt am Ende des Gletschergartens angelangt und Kala bog in einen dunklen Gang ab. "Hier wird es etwas eng, aber nachher werdet ihr dafür mit einem sagenhaften Ausblick belohnt!"
"Wie ging es dann mit euren Vorfahren weiter?" fragte Tom neugierig. "Die Geschichte erklärte bisher noch nicht, wie ihr zu Höhlenbewohnern geworden seid."
"Ach!" machte Kala. Das Thema schien ihr nicht besonders zu gefallen. "Im Jahre 999 n. Chr. versammelte der Gründer des jetzigen Mokstamms, Tor, die übrig gebliebenen Pygmäen um sich und gab ihnen den Namen Mok. Tor gelang es, das Vertrauen von einigen benachbarten Bauern zu bekommen und so begann ein fruchtbarer Tauschhandel. In dieser Zeit entstand das "Buch des Tuns". Doch diese friedliche Zeit endete schon einige Jahrzehnte, nachdem Tor gestorben war. Die großen Menschen wollten immer mehr für ihre Ware haben und wurden grob und gewalttätig gegenüber den Moks. Das ging so weit, bis sie die Moks sogar als magische oder auch teuflische Wesen folterten und verbrannten."
"Zur Zeit der Inquisition", vermutete Tom.
"Genau", meinte Kala. "Das war für uns Moks eine besonders düstere Zeit. Als unser Stamm nur noch aus wenigen dutzend Familien bestand, entschloss er, dass es so nicht weiter gehen konnte. Die Moks suchten sich einen sicheren Ort und fanden schließlich diese Höhle. Und erstaunlicherweise erholte sich unser Stamm hier allmählich. Trotz der vielen Entbehrungen. In den nächsten Jahrhunderten wuchs er auf über dreitausend Moks an."
"Das ist alles so unglaublich", meinte Jenny. "Wie in einem Roman."
"Für mich ist es leider sehr wahr", sagte Kala. "Es ist nicht so, dass mir mein Leben hier unten nicht gefällt. Aber es muss auch sehr schön sein, ohne Angst durch den Wald streichen und die vielen Farben, Geräusche und Gerüchen aufsaugen zu können. Sonnenlicht auf der Haut zu spüren und unter dem freien Himmel zu stehen und die Wolken vorüberziehen zu sehen."
Kala blieb abrupt stehen. "Ich rede schon wie mein Vater ... Dabei: Habt ihr so etwas schon mal bei euch gesehen?"
Sie hielt ihre Fackel nach oben und beleuchtete einen breiten, steinerner Wasserfall, der in die Tiefe stürzte. Seine einzelnen Steinzapfen waren mit einer dünnen Schicht Wasser bedeckt und glänzten im Fackellicht.
"Habe ich euch vorhin zu viel versprochen?" fragte Kala.
Jenny und Tom schüttelten bewundernd die Köpfe.
"Wenn wir den Wasserfall entlang in die Tiefe gehen, könnt ihr sehen, wie groß die Halle ist, in der wir uns gerade befinden. Sie ist so hoch und tief wie einer eurer Kirchtürme!"
Stolz schwang in Kalas Stimme mit, und Jenny fand zu Recht. Dieses unterirdische Reich war das Unglaublichste, was sie jemals gesehen hatte. Auch keine der Höhlen, die sie kannte, reichte an die Schönheit der Mok-Höhle heran.
Lag das womöglich daran, dass einige Künstler der Moks die Höhle mit gestalteten?

Während ihres steilen Abstiegs wurde es Tom mehrmals schwindelig und sie mussten immer wieder anhalten und ihm gut zureden.
"Wenn es wenigstens ein Halteseil gäbe", stöhnte er. "Und warum müssen die Treppen so glitschig sein?"
"Wenn du ausrutscht, fällst du nur in den Fluss unten", sagte Kala. "Er ist tief genug, dich aufzufangen."
"Wie beruhigend!" sagte Tom.
"Bei der Dunkelheit sieht man doch gar nicht richtig, wie tief es runter geht", versuchte ihn Jenny zu trösten.
"Ich ahne es, und das ist noch schlimmer!" sagte Tom und klammerte sich an Jenny.
Nach zwanzig Minuten Wackelpartie waren sie endlich unten angekommen. Der Fluss war nicht besonders breit, hatte aber eine schnelle Strömung. Zum Glück mussten sie dieses Mal kein Boot benutzen, um ans andere Ufer zu gelangen, sondern konnten über eine schmale Holzbrücke gehen.
Die Brücke endete auf der anderen Seite an einem kleinem Steg, der die Felsmauer entlang führte. Nach etwa hundert Metern bog der Steg rechts ab und führte auf eine hell erleuchtete Halle mit imposanten Tropfsteingebilden.
Auf den Tropfsteinen saßen, kletterten oder hüpften Mok-Kinder. Daneben spielten Kinder Ball, flochten aus Farnen Ketten oder unterhielten sich einfach.
"Jetzt ist die Pause beinahe vorbei!" sagte Kala. "Dabei wollte ich, dass ihr Ponka, Lobo und Enku kennen lernt."
Kala rannte voraus zu einer kleinen Gruppe von Kindern.
Jenny und Tom gingen ihr zögernd hinterher, gefolgt von neugierigen Blicken und Gekichere.
"Ich habe nichts dagegen, wenn die Pause gleich vorbei ist!" sagte Jenny.
"Ich auch nicht", sagte Tom. "Das Gekichere stört mich schon bei uns zu Hause, aber hier ist es noch viel schlimmer!"
"Lok Tom!" sagte ein kleines Mokmädchen mit kurzen strubbeligen Haaren. "Ich bin Ponka!"
"Lok Ponka", sagte Tom und verbeugte sich leicht.
Ponka kicherte.
"Das ist Jenny!" sagte Kala und stellte die Kinder gegenseitig vor.
Der Junge mit den braunen Augen und dem schmalen Gesicht hieß Lobo, der andere Junge mit dem krausem Haar und der breiten Nase Enku.
"Du hast schöne Schuhe!" sagte Lobo zu Tom. "Solche hätte ich auch gerne."
"Und ich deine", sagte Tom.
Jenny verdrehte die Augen, weil Tom so ein Schleimer war. Oder gefielen ihm die unförmigen, fledermauspelzigen Schuhe der Moks wirklich?
Ponka griff ihr in die Haare und sagte: "Und du hast schöne Haare! Dick und lockig!"
Ja, das stimmte, dachte Jenny. Trotzdem war es ihr unangenehm, dass Ponka sie befummelte wie ein Tier.
"Jenny und Tom gehen morgen, um die Prophezeiung zu erfüllen", sagte Kala.
"Morgen schon?" sagte Ponka. "Wir wollten mit ihnen doch unser Weihfest feiern!"
"Und ein Bootsrennen machen", sagte Lobo.
"Und unser Geheimversteck zeigen!" sagte Enku.
"Ja", sagte Kala. "Aber Pok Alk hat sein Wort gesprochen."
"Das ist gemein!" sagte Ponka.
"Und jetzt?" fragte Lobo.
"Wir haben nur die Zeit zwischen der Schule und dem Abendessen."
"Dann gehen wir in die Elkol-Grotte", sagte Enku.
"Ich bin für das Schlösschen", sagte Ponka.
"Wir gehen in die Gralsgrotte", sagte Kala bestimmt. "Sie gehen für uns in den Kampf. Zeigen wir ihnen davor den Gral."

Mehrere dumpfe Schläge kündigten das Ende der Pause an.
Am Eingang zur Schulgrotte stand eine Lehrerin und begrüßte Tom und Jenny.
"Lok To-am und Yen-ji." Die Lehrerin verbeugte sich vor Tom und Jenny. "Herzlich willkommen in unserer Schule. Ich bin Lala Tonk und Lehrerin der Gesellschaftskunde an der Schule. Es ist eine große Ehre für mich, dass ihr meinen Unterricht besucht."
"Lok Lala Tonk", sagten Tom und Jenny.
"Wir freuen uns ebenso, an deinem Unterricht teilnehmen zu dürfen", sagte Tom.
Jenny zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Freute er sich wirklich darauf, oder spielte er gerade wieder seine Schleimershow?
"Kommt!" forderte Lala Tonk die beiden auf, ihr zu folgen.
"Bis nachher!" rief ihnen Kala hinterher. "Ich warte nach dem Unterricht hier auf euch!"
Tom und Jenny gingen hinter Lala Tonk einen schmalen Gang entlang bis sie auf eine Gruppe Mokkinder stießen. Die Kinder gingen Jenny gerade mal bis zur Brust, woraus Jenny schloss, dass sie jünger als Kala sein mussten. Vielleicht zwischen acht bis höchstens zehn Jahren?
Lala Tonk schloss mit einem Schlüssel eine Holztür auf und die Kinder strömten ins Klassenzimmer. Das Zimmer war eine freundlich erleuchtete, kleine Grotte mit bunten Decken an der Wand. Eine Wand war freigelassen und diente, so glatt geschliffen wie sie war, sicher als Tafel. Tische gab es keine, dafür große Kissen, auf denen die Kinder sitzen konnten.
Lala Tonk wies Jenny und Tom einen Platz zu und gab ihnen eine dünnes, brüchiges Papier in die Hand. Indigene Völker und ihre Rechte stand in der Überschrift.
"Wie ihr wisst, nehmen wir heute die indigenen Völker durch", wandte sich Lala Tonk an die Klasse. "Wer weiß, was ein indigenes Volk ist?"
"Die Moks", rief ein kleines Mädchen mit lustigen Augen.
"Ohne Disziplin kommst du nicht weit!" sagte Lala Tonk. "Das nächste Mal meldest du dich bitte, Elua!"
"Weißt du auch, warum die Moks ein indigenes Volk sind?"
"Weil sie in einer Höhle wohnen", sagte Elua.
"Falsch", sagte die Lehrerin. "Hat jemand eine andere Idee?"
"Weil sie vergilbte Haut haben", sagte ein Junge.
Die Klasse kicherte.
Lala Tonk stöhnte. "Bringen euch eure Eltern denn nichts Vernünftiges bei?"
"Doch", sagte ein anderer Junge. "Zum Beispiel wie man das Flussbett so verändert, dass man zu Hause einen Wasseranschluss bekommt."
"Oder wie man sich unbemerkt aus der Höhle schleicht, um bei den Bauern einen schönen Tropfstein gegen neue Kleider zu tauschen", sagte ein Mädchen.
"Das ist verboten!" rief ein anderes Mädchen. "Man darf keinen Raubbau an der Höhle betreiben. Und man darf auch nicht nachts aus der Höhle schleichen und mit irgendwelchen Bauern handeln! Das werde ich meinem Vater erzählen, dann bringt er eure Eltern in die Dunkelgrotte!"
"Petze!" riefen Elua und ein paar andere Kinder.
"Angeber!" rief der Junge, der das mit dem Flussbett gesagt hatte. "Dein Vater ist doch nur der Assistent vom 10. Abgeordneten. Was will der schon ausrichten?"
"Ruhe!" rief Lala Tonk. "Was denken denn To-am und Jen-yi von euch, wenn ihr hier solche Reden schwingt?" Die Lehrerin wandte sich Tom und Jenny zu und sagte: "Bitte entschuldigt die Störung. Natürlich war das alles erfunden. Glaubt den Kindern kein Wort!"
Natürlich glaubte Jenny den Kindern jedes Wort. Warum auch nicht? Warum sollte es bei den Moks nicht auch Menschen geben, die gegen das Gesetz verstießen? Gesellschaften setzten sich immer aus unterschiedlichen Interessen zusammen. Und einige Interessen widersprachen nun mal eben dem Gesetz. Das war offensichtlich auch bei den Moks so. Auch wenn sie nach außen hin so taten, als ob alle an einem Strang zogen.
War es der Lehrerin unangenehm, das zuzugeben oder wollte sie womöglich die Eltern der Kinder vor Denunziation schützen?
Wie auch immer. Jenny fand es auf jeden Fall spannend, hier einen Blick hinter die Kulissen der offiziellen Mok-Zivilisation werfen zu können.
"Jenny!" Tom rüttelte Jenny am Arm.
"Was ist denn?" fragte Jenny genervt. Sie konnte es einfach nicht leiden, von Tom ständig begrabscht zu werden.
"Die Lehrerin möchte wissen, ob du ein indigenes Volk außer den Moks kennst?" flüsterte Tom.
Die Lehrerin schaute Jenny erwartungsvoll an.
"Was sind denn indigene Völker?" fragte Jenny laut.
Die Klasse johlte.
Tom schob Jenny verstohlen das Papier hin.
"Wir haben gerade darüber gesprochen", sagte Lala Tonk. "Du bist unaufmerksam, Jen-Yi. Ich weiß nicht, ob das für unsere Sache gut ist."
Jenny biss sich auf die Lippen. Mit den erwachsenen Moks kam sie offensichtlich nicht klar. Immer hatten sie etwas an ihr auszusetzen.
"Indigene Völker sind Völker, die relativ betrachtet schon länger als die anderen Bewohner in einem Gebiet wohnen und trotzdem benachteiligt oder von den jüngeren Völkern dominiert werden", erklärte Lala Tonk. "Kennst du außer den Moks ein indigenes Volk?"
"Die Indios", sagte Jenny ohne lange Nachzudenken.
Wieder kicherte die Klasse.
"Ihr braucht gar nicht zu kichern", sagte Lala Tonk. "Jenny hat ganz recht. Und was unterscheidet die Indios von den Moks?"
"Dass die Indios schon lange entdeckt wurden", sagte ein großes, kräftig gebautes Mädchen.
"Ja, Rela. Aber was könnte das bedeute" fragte Lala Tonk.
"Dass sie schon längst nicht mehr nach ihren eigenen Regeln und ihrer Kultur leben, sondern aufgesogen wurden von den amerikanischen Zuwanderern."
"Dann wären sie auch kein indigenes Volk mehr", gab Lala Tonk zu Bedenken. "Denn indigene Völker im eigentlichen Sinn sind sich ihrer Unterschiede mit anderen Kulturen sehr bewusst und bewahren ihre kulturelle Besonderheiten wie Sprache, Religion, Gesellschaftsstruktur und Arbeitsweisen. Nein, der Unterschied ist ganz im Gegenteil der, dass es einige Stämme der Indios geschafft haben, ihre Interessen national zu vertreten und ihre Sprache teilweise sogar als Amtssprache eingeführt wurde."
"Und was hat das zu bedeuten?" imitierte Rela die Lehrerin.
"Dass wir noch einiges vor uns haben", sagte Lala Tonk unbeeindruckt. "Wir müssen für unsere Rechte kämpfen und dürfen uns nicht aus unserem Lebensraum vertreiben lassen!"
"Wie sollen wir für unsere Rechte kämpfen, wenn uns keiner kennt?" fragte Elua.
"Und wer soll uns schon aus unserem Lebensraum vertreiben wollen?" sagte der Junge mit dem Wasseranschluss. "Wer interessiert sich schon für unsere Höhle?"
"Sicher habt ihr mitbekommen, warum To-am und Jen-Yi hier sind?" fragte Lala Tonk. "Dann wisst ihr auch, dass unser Leben hier unten durchaus in Gefahr ist."
"Gelber Hagel wird fallen", sagte ein anderer Junge mit dramatischer Tonlage und schüttelte seine Händen. wild mit den Augen.
Einige Kinder kicherten, die meisten blieben aber still.
"Dir wird das Lachen schon noch vergehen, Kaimo", sagte Lala Tonk. "Spätestens wenn das Essen wieder rationiert wird! Auf jeden Fall solltet ihr wissen, dass die Moks nicht das einzige indigene Volk auf der Welt ist. Und dass es sich lohnt, für den Stamm zu kämpfen, sollte die Zeit dafür reif sein."
Endlich hatte Lala Tonk die Kinder so weit, dass ihnen die Witze vergangen waren und sie angstvoll in ihre Kissen gedrückt da saßen.
Mit großen Augen schauten sie zu Lala Tonk hoch und warteten, was sie noch zu sagen hatte. Jenny beobachtete wie Lala Tonk diesen Augenblick genoss. Sie straffte ihren Oberkörper und sagte: "Vergesst nie, dass ihr Moks seid. Vergesst nie, dass die Moks schon schwerere Tage erlebt haben als die, die morgen kommen mögen. Vergesst nie eure Wurzeln. Sollte es tatsächlich so weit kommen, dass wir entdeckt werden, so geht mit erhobenem Kopf aus der Höhle. Lasst euch nicht von Geld und schönen Geschenken fangen, denn sie werden euch vernichten. Denn denen draußen geht es nicht darum, euch in eurer Andersartigkeit anzuerkennen, sondern euch entweder zu verfolgen oder ihnen gleich zu machen. Warum wollen wir aber nicht gleich sein? Weil wir Moks sind. Eine Welt ohne Moks ist eine ärmere Welt. Wie eine Höhle eine ärmere Höhle ist, wenn sie nur aus einer Sorte Tropfstein besteht."

"Puh, war das eine pathetische Rede!" sagte Tom, nachdem die Schulstunde endlich vorbei war und sie sich von Lala Tonk verabschiedet hatten. "Viel länger hätte ich das nicht ausgehalten."
"Ganz schön dick aufgetragen", fand auch Jenny. "Ich weiß vor allem auch nicht, ob die Welt ohne die Moks wirklich ärmer wäre. Jetzt weiß auch niemand etwas von ihnen."
"Aber es gibt sie immerhin", wandte Tom ein.
"Stimmt", überlegte Jenny. "Vor kurzem habe ich das noch nicht geglaubt. Eigentlich ist allein das schon erhaltenswert. - Da vorne stehen übrigens Kala, Lobo, Ponka und Enku!""

Kurze Zeit später gingen Tom und Jenny hinter den fünf Mok-Kindern den Steg entlang, zurück über die Brücke und bogen in einen schmalen Gang ein, der hinter der Treppe verborgen lag.
"Eigentlich darf man diesen Weg nicht gehen", sagte Enku. "Steinbruch. Aber es ist eine Abkürzung und uns ist noch nie etwas passiert."
"Außerdem kommt man hier am Schlossfenster vorbei", sagte Ponka. "Dann könnt ihr wenigstens einen Blick auf unser Schloss werfen."
Jenny grunzte. Für Schlösser hatte sie nicht viel übrig. Viel lieber würde sie einen Blick auf eine Thermalquelle werfen.
Doch als sie eine Weile später durch das Stein-Fenster blickten, nahm Jenny ihre Vorbehalte wieder zurück. Das Schlösschen war eine Grotte in der Grotte! Die äußere Grotte sah durch viele lange spitze Stalagmitten wie ein Fantasieschloss aus einem Zeichentrickfilm aus. Die innere Grotte war voller zierlicher Tropfsteine, die an Schatztruhen, Tische, Stühle, Betten und Spiegel erinnerten. Das war toller als jeder Spielplatz und es musste wirklich Spaß machen, dort zu spielen! Zumindest, wenn man noch ein paar Jahre jünger als sie selbst war, dachte Jenny.
"Ist das Schlösschen nicht toll?" quietschte Ponka. "Gibt es bei euch auch so etwas?"
"Nein", sagte Tom. "Nicht im Entferntesten!"
"Da habt ihr wirklich Glück!" meinte Jenny.
Offensichtlich war das genau das, was Ponka hören wollte, denn sie freute sich wie eine Schneekönigin. "Es ist so schade, dass wir euch nicht mehr zeigen können. In unserer Höhle sind so viele Schätze verborgen."
"Was macht ihr eigentlich, wenn ihr nicht in der Schule seid?" fragte Enku.
"Baden", sagte Jenny, "mit Freunden quatschen, Eis essen, Fahrrad fahren, einkaufen, Kino gehen, lesen, was man eben so macht."
"Viele von uns telefonieren den ganzen Tag, schicken sich elektronische Botschaften und Bilder oder sitzen vor dem Computer", ergänzte Tom. "Aber das wird dir alles nichts sagen."
"Doch, davon habe ich schon gehört", sagte Enku interessiert. "Ich verstehe es nur nicht. Wie kann man den ganzen Tag vor einem Gerät sitzen, wenn man die Möglichkeit hat, sich die Welt anzusehen? Wenn ich bei euch wohnen würde, würde ich meine Zeit sicher nicht damit verschwenden."
"Enku!" sagte Kala. "Du bist kein freundlicher Gastgeber."
"Das ist schon in Ordnung", sagte Tom. "Ich verstehe es selber nicht. Vielleicht liegt es daran, dass wir in einer Zeit ohne Abenteuer leben."
"Bei euch redet man zuviel", sagte Lobo. "Zumindest sagt das mein Vater. Beim Reden vergesst ihr, was wirklich wichtig ist."
"Quatsch", platzte Jenny dazwischen. "Wenn man in der Schokolade sitzt, braucht man sie nicht zu essen."
"Welche Schokolade?" fragte Lobo.
"Unsere Welt jenseits eurer Höhle, das ist die Schokolade!"
"Jenny ist kein freundlicher Gast", stellte Enku fest. "Ich weiß nicht, ob es gut für uns ist, wenn wir in die Gralsburg gehen."
Tom nahm Jenny etwas beiseite und sagte leise zur ihr: "Entschuldige dich bei ihnen!"
"Für was denn?"
"Du hast behauptet, dass wir auf der Schokoladenseite sitzen und sie nicht", sagte Tom.
"Stimmt doch gar nicht", maulte Jenny. "Ich habe nur gesagt, dass wir in der Schokolade sitzen."
"Das kommt auf das Gleiche raus", sagte Tom. "Wenn du dich nicht entschuldigst, gehen wir nicht in die Gralsburg, und die Stimmung ist im Keller."
"Mir doch egal", sagte Jenny. "Morgen sind wir hier eh weg."
Eigentlich tat es Jenny leid, was sie gesagt hatte. Und eigentlich war es auch Schwachsinn gewesen. Denn wer sagte denn, dass ihr Leben wirklich schokoladiger war als das der Moks? Bei Lichte betrachte war es vielleicht sogar eintöniger. Aber sich hier vor allen zu entschuldigen, war Jenny einfach zu peinlich.
"Streit tötet", sagte Kala.
"Wahrscheinlich hast du es nicht so gemeint?" fragte Enku.
Jenny nickte. Bei Tageslicht hätten die anderen sehen können, dass sie außerdem einen roten Kopf bekommen hatte. Sich zu entschuldigen war peinlich. Aber noch peinlicher war es, dass die anderen jetzt einen Schritt auf sie zugemacht hatten, obwohl sie sich nicht entschuldigt hatte!
"Tut mir leid!" sagte Jenny mit gesenktem Kopf. "Ich wollte euch nicht verletzen. Ihr sitzt sicher auch in der Schokolade!"
"Du redest zu viel!" sagte Lobo.
"Aber schöne Haare hast du trotzdem!" sagte Ponka.
Jenny musste grinsen, und Tom stieß sie erleichtert in die Seite.

"Gehen wir jetzt zur Gralsburg oder nicht?" fragte Enku.
"Das muss Jenny entscheiden", sagte Kala. "Wenn sie nicht mit Ernst dabei ist, macht es keinen Sinn."
Jenny nickte. Sie würde bis heute Abend kein Wort mehr über die Lippen bringen.
"Gut, dann lasst uns gehen."
Kala ging voraus. Enku und Lobo nahmen Jenny in ihre Mitte. Am Schluss gingen Ponka und Tom.
Jenny achtete nicht auf den Weg, zu sehr ging ihr die Auseinandersetzung noch durch den Kopf. Was wollten die Moks eigentlich? Lebten sie nun gerne hier oder nicht? Auf der einen Seite beklagten sie sich, dass sie kein Tageslicht hatten und in der Höhle gefangen waren. Auf der anderen Seite musste man die Höhle als den schönsten Ort der Welt preisen!
Aber war es bei ihr selbst nicht genau so? Wenn sie ehrlich war, fand sie ihre Heimatstadt und Deutschland auch nicht supertoll. Es gab vieles daran auszusetzen. Aber wollte sie deshalb wegziehen oder umgesiedelt werden? Sicher nicht! Bei den Moks schien es nicht anders zu sein.

Ponka und Tom hinter ihr flüsterten die ganze Zeit miteinander. Im Unterschied zu den anderen Moks schien Ponka eine ausgesprochene Tratschtante zu sein. Worüber sie sich wohl unterhielten?
Kala, Enku und Lobo waren dagegen auffallend still. Waren sie noch wegen Jenny verärgert oder hatte es etwas mit dem Besuch in der Gralsburg zu tun? Der Besuch schien auf jeden Fall eine ernste Sache zu sein. Und Jenny war sich nicht sicher, ob sie darauf wirklich Lust hatte.
"Wir sind gleich da!" sagte Kala.
Jenny nickte.
Als sie nach ein paar Metern durch eine Kluft in eine kleine, bauchförmige Halle traten, war Jenny überrascht, wie festlich der Raum wirkte.
Lag es an den figurenförmigen Tropfsteingebilden, die die Wände zierten und die einem beinahe vorgaukelten, von zahlreichen Menschen empfangen zu werden? Lag es an dem großen Steinkelch, der in der Mitte des Raumes stand? Oder lag es an der Quelle, die aus dem Kelch in ein beleuchtetes blaues Becken sprudelte?
Wahrscheinlich war es alles zusammen. Auf jeden Fall ging von diesem Raum eine große magische Wirkung aus, die selbst an Jenny nicht spurlos vorüber ging.
"Der heilige Gral!" sagte Tom ehrfürchtig. "Ist das womöglich wirklich der Gral, den die Menschen seit Jahrhunderten suchen, um unsterblich zu werden?"
"Eher nicht", sagte Enku. "Denn wir Moks sterben wie alle anderen auch. Aber wir glauben trotzdem, dass das Wasser, das aus dem Kelch kommt, uns außergewöhnliche Stärke verleiht."
"Jeder Mok darf nur einmal in seinem Leben in diese Quelle steigen", erklärte Kala. "Beim zweiten Mal verliert man den ganzen Schutz und ist schwächer als je zuvor."
"Wieso das denn?" fragte Tom.
"Das wissen wir nicht", sagte Kala. "Aber die Erfahrung hat es uns gezeigt. Jeder, der in Versuchung geraten war und seine Stärke verdoppeln wollte, ist kurz darauf gestorben."
‚Wie unheimlich', dachte Jenny. ‚Ob dabei wohl alles mit rechten Dingen zugegangen war?'
"Wir sind noch nicht geweiht", sagte Ponka. "Aber an unserem Weihtag dürfen wir endlich in die Quelle steigen! Zum Glück. Denn es ist nicht angenehm, in diesen Zeiten schwach zu sein."
"Aus dem Grund wollen wir auch euch weihen", sagte Kala.
"Wissen das eure Eltern?" fragte Tom.
"Nein", sagte Lobo. "Und sie würden es auch sicher nicht wollen."
"Sie würden es als Entweihung der Gralsquelle ansehen", sagte Enku.
"Und ihr findet das nicht?" fragte Tom erstaunt.
"Ihr nehmt für uns Gefahren auf euch", sagte Kala. "Wie könntet ihr unser Wasser entweihen?"
"Ihr müsst stark sein, wenn ihr für uns kämpft", ergänzte Lobo.

Jenny schluckte. Der Aufenthalt bei den Moks wurde ihr immer unheimlicher und der äußerst lästige Kampf gegen irgendetwas rückte unaufhaltsam näher.
Die offizielle Lesung der Prophezeiung mit Pok Alk gestern hatte ihr schon gewaltig auf den Magen geschlagen, aber die Veranstaltung hier war noch beklemmender. Die Prophezeiung konnte sie noch als Scharlatanerie abtun. Aber die Weihung in dem heiligem Gewässer der Moks nahm sie psychisch und körperlich in Beschlag. Im Grunde sollte sie hier und jetzt eine Art Mok werden! War das nicht ungeheuerlich?
Am liebsten wäre sie rückwärts wieder aus der Gralsburg hinaus gegangen und hätte die ganze Höhle so schnell wie möglich hinter sich gelassen. Aber ihre Beine schienen wie festgewachsen. Wie hätte sie im Gewirr der Gänge auch wieder nach draußen gefunden?
Und war es nicht feige, die Moks im Stich zu lassen?
Wie Jenny plötzlich erkannte, gab es Dinge, die man tun konnte und Dinge, die man nicht tun konnte. Wie hätte sie bei einer Flucht sich selbst noch in die Augen sehen können? Sie musste den Moks helfen, ob sie wollte oder nicht.

"Es ist eine große Ehre für uns, von euch geweiht zu werden!" sagte Tom und sah auffordernd zu Jenny.
Wollte er etwa, dass sie ihm zustimmte? Das konnte sie beim besten Willen nicht. Das einzige, das sie Tom und den Moks zuliebe tun konnte, war, jetzt vor Wut und Verzweiflung nicht zu heulen.
"Jenny hat schnell Schweigen gelernt", sagte Lobo zufrieden.
"Wir haben nicht mehr viel Zeit", sagte Kala. "Lasst uns beginnen."
Kala holte hinter einem Tropfstein eine kleine Steinschale hervor und forderte Tom und Jenny auf, sich zu entkleiden.
"Was?" platzte es aus Jenny heraus. "Das könnt ihr nicht von mir verlangen! Ich ziehe mich doch nicht nackt vor euch aus!"
"Du kannst die Unterkleider anlassen", sagte Kala. "Aber es wäre besser für dich, wenn du dich ganz ausziehst."
‚Ihr spinnt ja!' dachte Jenny und suchte sich hilfesuchend nach Tom um.
Aber Tom hatte sich schon halb ausgezogen. Gerade streifte er sich seine Unterhose ab! Jenny schaute zur Seite und kämpfte gegen die Tränen, die ihr in die Augen schossen.
‚Fang jetzt bloß nicht an zu heulen!' dachte sie. ‚Es gibt Schlimmeres, als sich in einer dunklen Höhle vor sechs Kindern nackt auszuziehen. Wenn ich jetzt an einem normalen Badestrand wäre, würde ich schließlich auch nichts dabei finden.'
Jenny stellte sich etwas abseits und zog langsam ihre Hose und ihren Pullover aus. Die Unterhose behielt sie an.
"Ganz schön kalt hier", sagte Tom. "Ich hoffe, die Weihung dauert nicht lang?"
"Psst", sagte Lobo. "Stellt euch neben den Gral und legt eure Hände auf den Stein."
"Gut!" Kala hielt die Schale vor Tom und sagte: "Trink, dies ist die Quelle aus dem Herz der Erde. Sie gibt dir Kraft und erinnert dich, woher du kommst und wohin du gehst."
Nachdem Tom einen Schluck genommen hatte, wiederholte Kala den Spruch und gab auch Jenny daraus zu trinken.
"Wir überspringen jetzt die ganze Weihzeremonie und lassen euch gleich ins Wasser", sagte Ponka. "Steigt in die Quelle und wascht euch in dem Strahl, der aus dem Kelch kommt."
Jenny und Tom stiegen in die Quelle und zitterten. Das Wasser war zwar nicht so kalt, wie gedacht, aber immer noch zu kalt für ein angenehmes Bad.
Jenny stellte sich als erste unter den Strahl. Sie wollte die Prozedur so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Aber leider war die Weihung auch nicht zu Ende, als auch Tom sich die Haare gewaschen hatte.
"Schwimmt jetzt sieben Mal um das Becken", sagte Enku. "Wie werden dabei die wichtigen Worte sprechen."
Auch das noch! Jenny biss die Zähne zusammen und kraulte so schnell wie möglich um das Becken.
Neben dem plätschernden Wasser aus dem Gral und ihren eigenen Wasserbewegungen verstand Jenny nur einige Wortfetzen: "Geweiht im Wasser des Grals" ... "Gestärkt durch uralte Kraft" ... "Verbunden mit der Gemeinschaft der Moks" ... "bis in den Tod hinein und darüber hinaus".
Jenny war froh, als die sieben Runden gedreht waren und sie endlich aus dem Becken steigen durfte. Tom schien es ähnlich zu gehen. Denn nachdem er sich mit einem Handtuch, das Kala ihm gegeben hatte, abgetrocknet hatte, war er auffallend schnell wieder angezogen.
Ohne viel Worte verließen sie danach die Gralsburg.

Obwohl Jenny es sich nicht gerne eingestand, fühlte sie sich nach dem Bad sehr erfrischt. Am liebsten wäre sie gleich losgezogen und hätte gegen einen Drachen gekämpft. Nein, das war natürlich Quatsch. Aber aus irgendeinem Grund war sie nicht mehr so nervös, wenn sie an die nächsten Tage dachte. Konnte das wirklich mit der Weihung zu tun haben? Oder lag es daran, dass sie über ihren eigenen Schatten gesprungen war und sich jetzt nicht mehr so gegen das Abenteuer, das sie erwartete, wehrte?
Ja, ein Abenteuer war es, als solches sollte sie es auch betrachten!
"Fühlst du dich jetzt auch stärker?" fragte sie Tom.
"Stärker nicht", sagte Tom. "Aber entschlossener!"
"Warst du je unentschlossen?" fragte Jenny erstaunt.
"Sicher!" sagte Tom. "Denkst du, es war leicht für mich, dich in die Sache mit rein zu ziehen?"
"Warum hast du es dann gemacht?"
"Weil mein Herz mir gesagt hat, dass es richtige", sagte Tom. "Auch wenn der Verstand daran gezweifelt hat."
Jenny schluckte. Mit Herzen konnte sie nicht viel anfangen. Das war romantischer Kitsch aus der Zeit ihrer Uroma. Aber sie war irgendwie nicht in Stimmung, das Tom um die Ohren zu hauen. Was war nur mit ihr los? Allmählich schien ihr hier der Verstand zu verdunkeln. Es wurde Zeit, dass sie wieder ans Sonnenlicht kam.

Am anderen Morgen gaben Enk und Lenka ein richtiges Abschiedsfrühstück. Sie stellten einen großen Tisch unter die sonnenbeschienene Birke und beluden ihn mit vielen Köstlichkeiten: Brötchen und Pfannkuchen, Eier, Marmelade und Honig, Farnsalat und kleine Fleischspießen. Außerdem Schnecken und geröstete Krötenschenkel, von denen sich Jenny aber lieber fernhalten wollte.
Sie schienen beinahe ihren gesamten Vorrat geplündert zu haben, auch wenn das Lenka abstritt. Davor hatte sie Tom und Jenny außerdem zwei Beutel mit Brot, Kaninchenfleisch, Algenkräckern, geräuchertem Fisch und zwei großen, fellbesetzten Wasserflaschen gefüllt.
"Wozu?" hatte Jenny gefragt. "Oben gibt es mehr zu essen als hier."
"Aber habt ihr genügend Geld, um euch längere Zeit zu versorgen?" fragte Lenka.
Stimmt, das war allerdings ein Haken an der Sache.
"Wir können euch kein Geld geben", erklärte Lenka. "Deshalb nehmt wenigstens unsere Lebensmittel."
Jenny nickte und dachte, dass sie von dem Beutelinhalt tatsächlich ein paar Tage leben konnten. Immerhin.

Als sie sich alle zum Frühstück setzten, kam Ponka die Stufen hinabgeklettert. Schuhu flog ihr entgegen und setzte sich auf ihre Schultern.
"Ponka", rief Lenka. "Schön, dass du kommen konntest."
"Enku und Lobo haben leider nicht frei bekommen", meinte Ponka und begrüßte Schuhu, indem sie sie am Kopf kraulte. Schuhu gurrte und Ponka gurrte in einer ähnlichen Sprache zurück.
"Oh! Das ist aber ein voller Tisch!" stellte Ponka fest, als sie unten angekommen war. "Wir leben seit zwei Wochen von Algenfladen und bitterem Tee und ihr lebt in Saus und Braus!"
"Ponka!" sagte Enk scharf. "Du glaubst hoffentlich nicht, dass wir immer so essen?"
Schuhu blickte erschrocken auf und flatterte auf die Birke.
Für kurze Zeit war betretenes Schweigen und Jenny wäre am liebsten im Erdboden versunken. Bis Lenka sagte: "Genießt das Essen, so lange es da ist!"
Ponka setzte sich zwischen Lenka und Tom und lud sich grinsend ihren Teller voll.
"Was macht ihr eigentlich, wenn ihr draußen seid?" fragte Ponka mit vollem Mund.
"Lurk kam gestern Abend vorbei und brachte einen Brief von Pok Alk", sagte Tom. "Wir sollen auf jeden Fall zuerst nach Onk Ark suchen. Wenn wir Glück haben, ist er noch in Rochefort."
"Und wenn nicht?"
Tom zuckte mit den Achseln.
"Wir machen einfach eine Fahrt ins Blaue!" sagte Jenny gut gelaunt. Sie freute sich auf den Himmel, frische Luft und bunte Farben.
Die Moks sahen sie fragend an.
"Das sagt man so bei uns, wenn man nicht genau weiß, wohin die Reise geht."
"Die Zeit drängt", sagte Enk. "Ich weiß nicht, ob man sich eine Fahrt ins Blaue leisten kann."
"Wir haben doch gestern beim Abendessen schon genug darüber geredet", sagte Lenka. "Lass die Kinder wenigstens heute morgen in Ruhe essen."
"Irgend etwas wird uns schon einfallen", sagte Jenny und wunderte sich über sich selbst. Warum war sie plötzlich so zuversichtlich? Wirklich nur, weil sie gleich nachher die Höhle verlassen würde? Oder auch, weil sie gestern im Gralsbecken geschwommen war?
"Am liebsten würde ich mitkommen", sagte Enk. "Aber ich würde euch sicher keine große Hilfe sein."
"Wir stehen tief in eurer Schuld, und es wäre schlimm, wenn euch etwas passieren würde", sagte Lenka.
"Ihnen wird schon nichts passieren", sagte Ponka leichthin. "Tom muss uns schließlich noch Turnschuhe besorgen."
"Und was ist mit mir?" fragte Enk aufhorchend. "Ich brauche auch neue Turnschuhe!"
"Wir werden die ganzen Moks mit Turnschuhen versorgen", Tom lachte.
"Das würde Lala Tonk sicher gefallen", warf Jenny ein. "Das wäre für sie der Anfang des Untergangs des indigenen Volks der Moks."
"An Turnschuhen hängt nicht unsere Identität!" erwiderte Enk.
"Nein", meinte auch Lenka und steckte sich eine Schnecke in den Mund. "Dann schon eher an dieser leckeren Mahlzeit."

Nachdem der Tisch leer gefegt war und Schuhu die letzten Bissen vom Tisch geschnappt hatte, war endlich die Zeit des Aufbruchs gekommen.
"Lenka, Ponka und Enk bringen euch zum Ausgang", sagte Lenka. "Passt gut auf euch auf! Und wenn ihr nicht weiter wisst, kommt lieber zu uns zurück, als auf dumme Gedanken!"
Tom und Jenny nickten und umarmten Lenka zum Abschied. Dann nahmen sie ihre Rücksäcke und die Vorratsbeutel und machten sich auf den Weg nach draußen.

Nach einer ruhigen Bootsfahrt und einer etwa einstündigen Höhlenwanderung standen die Moks, Jenny und Tom in der kleinen Vorhalle der Einganshöhle.
"Ich werde euch sicher vermissen!" sagte Ponka. "Ihr seid doch jetzt so etwas wie ein Teil von uns."
"Ich werde euch auch vermissen", sagte Tom und umarmte Ponka.
"Die Tage hier waren bisher das Interessanteste in meinem ganzen Leben", sagte Jenny. "Schade nur, dass ich draußen niemand davon erzählen darf."
"Ich kann nur wiederholen, was Lenka euch ans Herz gelegt hat", sagte Enk. "Seid vorsichtig und vertraut niemandem."
"Denkt an das, was ihr gestern erlebt habt", sagte Kala. "Dann werdet ihr viel überstehen. Tok min aminje!"
Jenny und Tom sahen Kala fragend an und Enk übersetzte: "Bis bald, meine Freunde!"
Tom und Jenny umarmten Kala, Ponka und Enk ein letztes Mal und traten nach drei Tagen unter der Erde endlich wieder ans Tageslicht.

Ende Teil 4

Die Fortsetzung des Romans könnt ihr im Rossipotti No. 22 lesen!

 © Rossipotti No. 21, Nov. 2009