Expressionismus



Bedeutung


Illustration: Franziska Ludwig

Eigentlich stammt der Begriff „Expressionismus“ aus der Malerei, aber bald wurde er auch auf die Literatur übertragen. Den expressionistischen Künstlern ging es nicht darum, die Welt so darzustellen, wie sie ist (das wollten die Naturalisten), auch nicht so, wie sie ihnen erschien (das wollten die Impressionisten), sondern sie wollten nach außen schleudern, was die Eindrücke der Außenwelt in ihrem Innern auslösten.
Nehmen wir einen frisch gebackenen Kuchen: Der Naturalist würde beschreiben, wie groß er ist, welche Glasur er hat und auf welchem Teller er steht. Der Impressionist würde sich der Schilderung des Duftes hingeben, den Schimmer auf der Glasur nicht vergessen und versuchen, die wohlige Atmosphäre hervorzurufen, die so ein Kuchen verbreitet. Der Expressionist dagegen würde brüllen vor Hunger!

Allerdings ging es den Expressionisten um ganz andere Sachen als leckeren Kuchen. Das merkt man schon, wenn man nur die Titel der expressionistischen Bilder und Texte liest: Der Schrei heißt ein ganz bekanntes expressionistisches Gemälde des Malers Edvard Munch, auf dem ein schreiendes Gesicht zu sehen ist. Und das berühmteste expressionistische Gedicht überhaupt heißt Weltende von Jakob van Hoddis.  In dem Gedicht steht, dass ein großer Sturm aufkommt, der die Welt vernichtet.
Da fragt man sich natürlich, was für Eindrücke der Außenwelt ein solches Innenleben auslösten?

Der Expressionismus dauerte ungefähr von 1910 bis 1925. Das war kurz vor, während und noch ein bisschen nach dem ersten Weltkrieg. Das Leben in dieser Zeit war bestimmt von immer mehr Technik, größer werdenden Städten und wachsender Armut. Das lag an der Industrialisierung, also daran, dass man Elektrizität und Maschinen erfunden hatte. Es entstanden große Fabriken, viele Menschen zogen in die Stadt, um in diesen Fabriken Arbeit zu finden. Sie mussten selber funktionieren wie Rädchen in einer Maschine, wurden schlecht bezahlt und lebten in kleinen dunklen Wohnungen, in denen es keine eigenen Klos und kein fließendes Wasser gab. Sie wurden krank und hatten Hunger, während die Fabrikbesitzer es sich in ihren großen Villen gut gehen ließen.

All das löste Empörung bei den Expressionisten aus - und dieser Empörung verliehen sie in ihren Texten Ausdruck. Die Expressionisten wollten Veränderung. Sie wollten, dass die bestehende Welt zugrunde ging und Platz geschaffen wurde für einen neuen Menschen, der nicht zum Rädchen einer Maschine erniedrigt wurde und in Abhängigkeit leben musste. Ihre Werke handeln daher oft von der Erweckung des neuen Menschen und vom Sturm der Zerstörung, der dies möglich macht. Diese Vorstellung nannten sie „Menschheitsdämmerung“ - und so heißt auch die wichtigste Gedichtsammlung des Expressionismus.


Illustration: Franziska Ludwig

Ein berühmter expressionistischer Dichter, Gottfried Benn, spricht von einem „Aufstand mit Hass, mit Zerschleuderung der Sprache und Zerschleuderung der Welt.“

Tatsächlich haben sie natürlich nicht die Welt „zerschleudert“ sondern nur die Sprache. Sie haben sich nicht mehr an Regeln und Logik gehalten. Sie haben neue Worte erfunden, widersinnige Sätze gebaut und bizarre Bilder entworfen. Da man auf diese Weise sehr schlecht lange Geschichten erzählen kann, bevorzugten die Expressionisten die Lyrik. Es gibt wenige expressionistische Romane, ein paar mehr Theaterstücke und ganz viele Gedichte. Sie klingen meistens leidenschaftlich und gruselig und sind leicht zu erkennen:

Nah wie Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängen fassen
Häuser sich so dicht an, dass die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte sehn.

Das ist die erste Strophe des Gedichts Städter von Alfred Wolfenstein und man sieht sehr gut, wie er die Sprache verformt: Häuser können sich schließlich gar nicht anfassen und „grau geschwollen“ kann niemand – erst recht nicht eine Straße – sein.

Das Schlimme für die Expressionisten war, dass die schrecklichen Bilder, die sie aus ihrem Innern hinaus geschleudert haben, dann in einer ganz anderen Weise Wirklichkeit wurden als sie es sich vorgestellt hatten: Der Erste Weltkrieg brach aus. Es gab tatsächlich Zerstörung, Tod und Verfall an allen Ecken und Enden. Da die expressionistischen Dichter in der großen Mehrzahl junge Männer waren, mussten sie selbst in den Krieg ziehen und viele von ihnen starben. Andere kehrten aus dem Krieg zurück und schrieben nun für den Frieden. Aber das änderte nichts daran, dass auch auf die meisten von ihnen ein schreckliches Ende wartete: Im Dritten Reich wurden sie verfolgt und getötet.


Illustration: Franziska Ludwig

 

http://www.literaturwelt.com/epochen/express.html#geschichte
http://www.seilnacht.com/Lexikon/Express.htm