Bilderbuch


Bilderbuchwelten


Illustration: Soledad Bravi
„Piep, Piep, Piep“ © Moritz Verlag
 

„Bilderbücher sind doch bloß was für Babys!“ sagen manche. Das stimmt jedoch nur zum Teil. Bücher mit dicken Pappseiten und einfachen Bildern sind tatsächlich Bilderbücher, die Krabbelkindern beim Sprechenlernen helfen. Ebenso die meist großformatigen Bücher, die mit viel Bild und wenig Text Kinder ansprechen, die nicht oder noch nicht gut lesen können. Daneben gibt es aber auch Bilderbücher, die eher ältere Kinder oder gar Erwachsene ansprechen.
Aber egal ob Bilderbuch für Babys, Kinder oder Erwachsene, gemeinsam ist allen Bilderbüchern, dass in diesen Büchern Bilder eine große Rolle spielen. Statt schmückendes Beiwerk zum Text zu sein, wie etwa die Illustrationen in einem Kinderbuch, erzählen die Bilder im Bilderbuch ähnlich wie ein Text eine Geschichte, nur eben auf bildliche Weise. Dabei kann es sein, dass sich die Bilder auch ohne den dazugehörenden Text „lesen“ lassen oder dass Text und Bild miteinander oder sogar gegeneinander erzählen. Manchmal versteht man die Bilder auch erst, wenn man den Text dazu liest.
Bilderbücher können also sehr unterschiedlich sein und es gibt viele Sorten davon: Sachbilderbücher, Fotobilderbücher, Künstlerbilderbücher, Bilderbücher mit und ohne Text, und sogar Bilderbücher mit Klappen, Pop-ups, Spielzeug und mit Ton.

Erzählformen im Bilderbuch

Es gibt viele verschiedene Formen, wie Text und Bild im Bilderbuch zusammenkommen.
Häufig findet man eine Bild-Text-Parallelität. Das bedeutet, dass Bild und Text gleichmäßig die Geschichte Schritt für Schritt weitererzählen wie zum Beispiel in der Niko-Geschichte von Rotraut Susanne Berner.
Im Gegensatz dazu kann es auch sein, dass das Bild der Geschichte vorgreift oder umgekehrt der Text dem Bild etwas voraus ist. Da sich hier Bild und Text umspielen, bezeichnet man diese Erzählweise sehr bildlich als „geflochtenen Zopf“.
Und dann gibt es noch den Fall, dass mit Absicht etwas Anderes, Gegenteiliges von dem erzählt wird als das, was das Bild zeigt. Oder umgekehrt: Der Illustrator zeigt auf seinen Bildern mit Absicht etwas anderes als die Geschichte erzählt. Das nennt man dann kontrapunktisches Erzählen.

Valérie Larrondo und Claudine Desmarteau „Als Mama noch ein braves Mädchen war“, © Bajazzo Verlag

Anders als ein Text können Bilder viele Dinge gleichzeitig erzählen. Sind auf einem Bild viele verschiedene Szenen, die sich zur selben Zeit abspielen, zu sehen, nennt man das ein pluriszenisches Bild (plural ist lateinisch und bedeutet mehrere).  Die Illustration  von Thé Tjong-Khing aus dem Buch  Die Torte ist weg, das ihr weiter unten sehen könnt, ist zum Beispiel so ein pluriszenisches Bild.
Wird nur ein einzelner Moment aus der Geschichte gezeigt, handelt es sich um ein monoszenisches Bild (mono ist wieder lateinisch und bedeutet einzeln). Ein gutes Beispiel dafür, dass diese Bildart keineswegs langweilig sein muss und sehr erfinderisch mit der Textvorlage umgehen kann, findet man bei Aljoscha Blau. In Rote Wangen zeigt er den Moment, in dem der Großvater als Kind über die selbstgebastelte Brücke geht, als eigenartige Bildidee, denn die Brücke ist eine luftige Konstruktion aus Stöcken, die sich hoch über den Fluss erstreckt.

Thé Tjong-Khing „Die Torte ist weg“ © Moritz Verlag

Wenn ein Zeitverlauf oder eine Bewegung innerhalb eines Bildes dargestellt wird, ohne dass der Ablauf der Bewegung in viele einzelne Bilder unterteilt wird (wie das im Comic häufig gemacht wird), spricht man von einer Bild-Bild-Montage. Zum Beispiel zeigt SaBine Büchner in ihrem Bilderbuch Für immer sieben den Mauser mehrmals auf einer Seite, obwohl jeweils einige Zeit zwischen den einzelnen Posen vergangen ist.


SaBine Büchner „Für immer sieben“ © Carlsen Verlag

Die Bilder in einem Bilderbuch können Zeichnungen, Malerei, Collagen oder Fotografien sein. Manche Illustratoren verwenden Drucktechniken wie Linolschnitt oder Siebdruck, andere benutzen den Computer zum Zeichnen und/oder Kolorieren.
Die Technik, die die Illustratoren wählen, sagt entweder etwas über die Lieblingsmalweise des Illustrators oder über seine Sicht auf die Geschichte aus. So erzeugt eine Federzeichnung, die mit Wasserfarben koloriert ist, eine andere Stimmung als eine kräftige Acrylmalerei. Die Illustrationstechniken haben sich aber auch im Laufe der Zeit verändert. So ist es seit den 1990er Jahren möglich, Bilder billiger und besser zu reproduzieren, also zu drucken, so dass seitdem malerische Bebilderungen sowie Mischtechniken und Collagen viel besser wiedergegeben werden können. Seitdem findet man tatsächlich sehr unterschiedliche Techniken. Wie sehr die Form des Bilderbuchs davon abhängt, was Erwachsene über Kinder denken oder welche technischen Verbesserungen gerade erfunden wurden, zeigt ein Blick auf die Geschichte des Bilderbuchs.

Bilderbuchkindheit

Als der Urahn des Bilderbuchs gilt der Orbis Pictus Sensualium (Die sichtbare Welt) von Johann Amos Comenius von 1658. Das war eine Art Sachbilderbuch, das mit 150 Holzschnitten und dazu gehörenden Texten Kindern die Welt erklären sollte. Bücher dieser Art, ebenso wie ABC- Bücher, Fabel- und religiöse Bücher, waren bis ins 18. Jahrhundert hinein die einzigen illustrierten Kinderbücher.
Erst um 1830 fiel den Leuten ein, dass illustrierte Bücher nicht nur zur Wissensvermittlung taugen, sondern auch zum Geschichtenerzählen. Das kam dadurch, dass man erst im Laufe des 18. Jahrhunderts entdeckt hatte, dass Kinder mehr sind als „unfertige Erwachsene“. Kindheit und Jugend erhielten einen eigenen Wert, d.h. man machte sich darüber Gedanken, was Kindern wohl gefallen und wie man sie glücklich machen könnte. Am Ende des 18. Jahrhunderts beginnt außerdem das sogenannte „optische Zeitalter“, in dem wir uns auch heute noch befinden. Man muss sich vorstellen, dass bis dahin die meisten Menschen Bilder nur in Kirchen ansehen konnten. Gemälde und illustrierte Bücher gab es nur in sehr reichen Häusern.
Mit der Erfindung großer Rundgemälde, den Panoramen, die auf Jahrmärkten für jedermann zugänglich aufgestellt wurden, entdeckten die Menschen ihre Freude am Sehen. Diese Schaulust stachelte in der Folge eine Reihe optischer Erfindungen an, wie die Fotografie, das Kino und das Fernsehen. Dazu kam, dass das illustrierte Buch zum Massenartikel wurde, was wiederum mit Erneuerungen im Verlagswesen und verbesserten Druckmaschinen zusammenhing.
Da man also sowohl die Liebe zu Kindern als auch zu den Bildern entdeckte und noch dazu Bücher in größeren Mengen herstellen konnte, beginnt die Geschichte des Bilderbuchs erst so richtig in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nämlich im Zeitalter der Romantik. In dieser Zeit freuten sich die Menschen über die Schönheit der Natur und sie sehnten sich nach alten Zeiten, die, wie sie glaubten, besser gewesen waren. Auch die Bilder in diesen ersten Bilderbüchern sind mehr Wunsch als Wirklichkeit. Sie zeigen eine schöneren, besseren und heileren Welt. Und wenn wir heute sagen „Das ist ja wie im Bilderbuch!“, weil wir meinen, dass etwas viel zu schön ist, um wahr zu sein, geht das genau auf diese Zeit zurück.

Das weltweit sehr bekannte Bilderbuch Der Struwwelpeter schrieb und zeichnete der Arzt Heinrich Hoffmann. Es wurde im Jahre 1844 veröffentlicht und stellt eine Art Befreiungsschlag dar. Denn entgegen den bis dahin üblichen Heile-Welt-Bildern, werden hier das erste Mal freche Kinder abgebildet, es wurde also etwas mehr Wirklichkeit gezeigt.
Um das Jahr 1900 herum haben einige Leute, nämlich die Reformpädagogen, darüber nachgedacht, was eigentlich „kindgerecht“ ist. Sie empfahlen, dass alle Zeichnungen für Kinder deutliche Umrisslinien haben sollten und Farben verwendet werden sollten, die möglichst wenig gemischt sind.
Obwohl es immer wieder Künstler und Illustratoren gab, die sich nicht an solche Vorgaben hielten und Neues ausprobierten, rätseln Erwachsene auch heute noch darüber, welche Bilder die richtigen Bilder für Kinder sein könnten.
Heute findet man sämtliche Varianten des Bilderbuchs. Neben Heile-Welt-Bilderbüchern, klar konturierte Bilderbüchern mit knalligen Farben auch solche, die aussehen wie Gemälde, so etwa bei Aljoscha Blau oder Nikolaus Heidelbach. Daneben ist die Collage üblich geworden (siehe Wolf Erlbruch) und computererstellte Illustrationen wie die von Peter Schössow. Sehr häufig bedienen sich Illustratoren einer Mischung aus zwei oder mehreren dieser Techniken. Neu ist, dass das an die Medien, wie Film, Computer, Games und Fernsehen gewöhnte Sehen sich auch auf die Bilderbuchgestaltung auswirkt.
Was aber sowohl für die Bilderbücher von heute als auch für die von früher gilt, ist, dass ein Bilderbuch nicht allein Literatur, sondern auch ein Stück Kunst ist.

www.bilderbuchmuseum.de
www.ijb.de
www.kinderbuchhaus.de
www.lesart.org
www.buchkinder.de