Ästhetik


Schönheit ist natürlich

„Und jetzt ist ein guter Zeitpunkt, davon zu reden, wie schön sie war. [...] selbst im Dunkeln konnte ich ihre Augen sehen - wie funkelnde Smaragde. Sie hatte die Art von Augen, die einen von vorneherein dazu verdammen, alles, was sie tat und sagte, gut zu finden. ”


Illustration: Katja Spitzer

So wirkt Alaskas Schönheit auf Miles Halter, siebzehnjährige Hauptfigur in John Greens Jugendroman Eine wie Alaska. Er erliegt Alaskas Schönheit, vergisst alles um sich herum und verliebt sich. Ein Phänomen, so alt wie die Menschheit, und doch wirkt es auf jeden, dem es passiert, wie ein Wunder.

Das ist wohl auch der Grund dafür, warum sich die Menschen immer wieder die Köpfe darüber zerbrochen haben, wieso Schönheit oder auch Hässlichkeit eine so starke Wirkung auf uns haben können. Was ist Schönheit überhaupt? Gibt es dafür Regeln, die für alle gleichermaßen gelten?
Auch die alten Griechen haben sich darüber Gedanken gemacht. Einer von ihnen hieß Platon. In seinem Buch Das Gastmahl erzählt ein junger Mann eine Geschichte, die den Ursprung unseres Verlangens nach Schönheit und Vollkommenheit erklären soll.

„Die menschliche Natur war einst ganz anders. [...] Die ganze Gestalt des Menschen war damals rund, und die Seiten bildeten eine Kugel. Der Mensch hatte also vier Hände und vier Füße, zwei Gesichter drehten sich am Halse, und zwischen beiden Gesichtern stak ein Kopf, aber der Kopf hatte vier Ohren. [...] Der Mensch ging zwar aufrecht wie heute, aber nach vorwärts und nach rückwärts, ganz wie es ihm gefiel. Und wenn er laufen sollte, dann machte er's wie die Gaukler, die kopfüber Räder schlagen.”

Weil die Menschen so vollkommen waren, wurden sie hochnäsig und anmaßend den Göttern gegenüber, bis es dem Göttervater Zeus zu bunt wurde und er sie kurzerhand entzwei schnitt. Seitdem suchen diese Halbierten nach der vollkommenen Schönheit, die ihnen am Anfang gegeben war und damit zugleich nach ihrer fehlenden Hälfte, nach ihrem „wahren” Partner. So erklärt Platon, dass die Anziehungskraft, die die Schönheit auf uns hat, sich in einem Verliebtheitsgefühl zeigen kann. Für Platon ist das wahrhaft Schöne nur in der Natur zu finden. Kunst sei nur der Versuch, diese Schönheit nachzumachen, sei schlicht Nachahmung.

Schönheit ist Kunst

Aber nicht nur schöne Menschen, sondern auch Kunstwerke können eine starke, eine „ästhetische Wirkung” auf uns haben. Das erfährt zum Beispiel die zwölfjährige Halinka in Miriam Presslers Buch Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen, als das Heimkind bei einem Ausflug in einen Park eine Steinskulptur entdeckt.


Illustration: Katja Spitzer

„Wie eine wirkliche Frau sieht sie aus. Als wäre irgendwann einmal eine wunderschöne Frau aus einem Teich gestiegen und durch diesen prachtvollen Park gegangen, und irgendein Zauberer war so begeistert von ihr, dass er sie erhalten wollte. [...] Vielleicht hat der Zauberer sie auch nur geträumt und sie ist so, wie er sich Schönheit vorstellte? Ein steingewordener Traum. Plötzlich legt mir jemand den Arm um die Schulter. Fräulein Urban. ‚Warum weinst du, Halinka?’, fragt sie.
Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich weine. ‚Sie ist so schön’, sage ich. ‚Dieses Bein ...’ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. So etwas kann man nicht beschreiben. Und außerdem braucht sie nur die Augen aufzumachen, dann sieht sie es doch selber.”

Dass ein Kunstwerk einen Menschen so tief berühren kann, dass er, wie Halinka, weinen muss, hatte auch ein anderer alter Grieche entdeckt: Aristoteles. Er war der Meinung, dass deshalb das Kunstwerk nicht grundsätzlich schlechter sei als die Natur. In der Nachahmung der Natur sieht Aristoteles einen schöpferischen Prozess. Das Kunstwerk hat für ihn neben der Natur einen eigenen Wert. Wie zum Beispiel Gedichte oder Theaterstücke Ergriffenheit bei Menschen bewirken können, hat er aufgeschrieben. Diese Schrift heißt Poetik, eine Bezeichnung, die bis heute verwendet wird, wenn es darum geht, die ästhetische Wirkung von Dichtung zu beschreiben oder zu untersuchen.

Geschichte der Ästhetik

Der Begriff Ästhetik wird erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts für dieses Nachdenken über natürliche oder künstlerische Schönheit so genannt. Alexander Gottlieb Baumgarten hatte 1735 seine Gedanken zu diesem Thema aufgeschrieben und dafür den Begriff Ästhetik verwendet. Seitdem ist Ästhetik ein Teilgebiet der Philosophie und außerdem Teil vieler Wissenschaften, zum Beispiel der Kunstwissenschaften, der Psychologie und der Naturwissenschaften.
In der Literaturwissenschaft wird die Ästhetik im Zusammenhang mit der Poetik untersucht, also der Lehre der Dichtkunst. Innerhalb der Poetik fragt die Ästhetik nach der Darstellung des sinnliche Wahrnehmbaren und dem Erdachtem sowie nach der Wirkung der Literatur auf den Leser.


Illustration: Katja Spitzer

Liest man die Schriften verschiedener Epochen in denen geschrieben wurde, was man warum schön findet und welche Eigenschaften ästhetische Gefühle erzeugen, stellt man fest, dass mal Platons und mal Aristoteles Gedanken wiederkehren.
Im Mittelalter sah man die Natur als Gottes Schöpfung an, nichts konnte an sie heranreichen. Hier wirkt Platons Gedanke nach.
In der beginnenden Neuzeit werden die Künstler und Dichter mehr und mehr als Schöpfer angesehen und verehrt. Was dann in der Zeit des Deutschen Idealismus dazu führt, dass der Künstler als Genie und sein Werk als Ideal angesehen werden. Darin werden Aristoteles' Gedanken erkennbar, auch wenn sie hier sehr viel extremer ausgedrückt werde.
Kehren wir noch einmal zurück zu Halinka. Liest man den Kinderroman noch ein wenig weiter, kann man ihr folgenden Gedanken ablauschen: „Wenn man jeden Tag so viel Schönes um sich herum hat, muss man, glaube ich, ein anderer Mensch werden.”
Dass es Menschen beeinflusst und formt, wenn sie von schönen Dinge und Kunst umgeben sind, sind auch Überlegungen, die zur Ästhetik gehören. So glaubte der Dichter und Philosoph Friedrich Schiller, dass die Schönheit den Menschen veredelt und erzieht.

Heute forschen auch die Naturwissenschaften, warum und wie ein Mensch wahrnimmt und warum er manches schön, manches hässlich findet. Naturwissenschaftler führen unser Schönheitsempfinden dabei auf biologische Prozesse zurück. Zum Beispiel so: Unser Gehirn speichert ständig Muster von den Dingen, die uns begegnen, während wir heranwachsen. Mit diesen Mustern vergleichen wir das, was uns begegnet und bewerten es.
Die plötzliche Ergriffenheit, die einen Menschen überkommt, der in einem Buch liest oder ein Bild betrachtet, wird sich aber trotzdem schwer erforschen und erklären lassen. So wird es auch unterschiedlich sein, ob und wie stark John Greens Beschreibung in Eine wie Alaska oder Miriam Presslers in Wenn das Glück kommt ... den Leser oder die Leserin berührt.

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