Fiktion


Bedeutung

Reden wir über literarische Texte, reden wir gleichzeitig über Fiktion. Denn Fiktion heißt nichts anderes als Erdichtung, Erfindung oder Gebildetes. Und literarische Texte sind genau Erdichtetes.
In der Literaturwissenschaft wird deshalb die Fiktion als Grundelement der Dichtungsarten aufgefasst. Und die Fähigkeit zu fiktionalisieren, also überhaupt etwas erfinden zu können, als die grundlegende Bedingung, Geschichten erzählen zu können.
Fiktive Texte stehen im Gegensatz zu nicht-fiktiven Texten, die sich direkt auf die Wirklichkeit beziehen und ihr nichts dichtend hinzufügen. Beispiele für nicht-fiktive Literatur sind beispielsweise Ratgeber, Sachbücher, wissenschaftliche Texte, Zeitungsartikel, Tatsachenberichte, aber auch Briefe.
Zur fiktiven Literatur gehören dagegen alle Genres der Gattungen Epik, Lyrik und Drama.

Übrigens wurde die Fiktion gerade, weil sie etwas Erdachtes oder Erdichtetes ist, lange Zeit mit der Lüge gleichgesetzt. Der große griechische Philosoph Platon warf der Dichtung dabei ganz direkt vor, dass Dichter lügen. Diese Meinung hielt sich bei vielen Menschen viele Jahrhunderte hindurch.


Illustration: Katja Spitzer

Erst in der Renaissance und in der Neuzeit änderten die Menschen allmählich ihr Urteil gegenüber der fiktiven Literatur. Jetzt fand man, dass erdachte Geschichten deshalb nicht lügen, weil sie ja gar nicht behaupteten, dass das, was sie erzählen, wirklich stimmt. Ein Lügner will dagegen schon, dass seine Geschichte für wahr gehalten wird. Um diesen Unterschied zwischen Erdachtem und Gelogenem hervor zu heben, spricht man heute von fiktiven und fingierten Texten.
Fiktiv
sind Texte dann, wenn der Autor klar zu erkennen gibt, dass er ihn erfunden hat. Dabei behauptet er nicht, dass die Geschichte wirklich stimmt oder sich so zugetragen hat, sondern er tut nur so, als ob die Geschichte sich so zutragen haben könnte.
Fingiert sind Texte dagegen, wenn der Autor zwar etwas erfindet, aber trotzdem behauptet, dass das, was er erzählt, wirklich so passiert ist. Wenn ein Reporter beispielsweise die Fakten seines Berichts erfindet, aber behauptet, dass diese Fakten wirklich sind, fingiert er seinen Bericht.
Ein Autor literarischer Texte behauptet zwar manchmal im Vorwort auch, dass sich die Geschichte wirklich so zugetragen hat, wie er sie beschreibt. Aber im Grunde weiß jeder, dass das nicht stimmt und die Geschichte letztendlich nur ein Produkt seiner Phantasie ist.
Fingierte Texte sind übrigens selten. Denn entweder will ein Autor ja, wie in der Reportage, wirklich über Dinge berichten, die er gesehen hat. Oder er will etwas erfinden und nicht erlügen, er will also eine fiktive Geschichte erzählen.

Warum will ein Autor aber überhaupt Geschichten erfinden? Und warum wollen die Leser überhaupt fiktive Geschichten lesen?
Erfundene Geschichten gefallen uns sehr wahrscheinlich deshalb, weil sie Dinge entwickeln können, die es so (noch) nicht oder nicht mehr gibt, aber sie sich trotzdem immer in irgendeiner Weise auf unser Leben beziehen. Fiktive Geschichten können einem mit neuen Bildern das Leben erklären oder ihm einen tieferen Sinn geben. Und sie können einem fremde Lebensformen näher bringen und unzählige Welten durchspielen lassen.
Die Möglichkeit zur Fiktion eröffnet uns also einen Freiraum, durch den wir unser Leben aus einer anderen Perspektive wahrnehmen können. Dadurch können wir nicht nur einen distanzierten, kritischen oder auch teilnahmsvolleren Blick auf unser und anderer Leben werfen. Sondern wir können auch Utopien und Alternativen zu unserem jetzigen Leben entwickeln.
Aus dem Grund ist in der Philosophie die Fiktion übrigens auch ein wissenschaftliches Mittel, Unmögliches zu denken. Die Vorstellung des leeren Raums ist zum Beispiel eine Fiktion. Und obwohl der vollkommen leere Raum in der Wirklichkeit nicht vorkommen kann, wurde mit dieser Fiktion das Vakuum entdeckt und so nützliche Dinge wie der Staubsauger oder die Vakuumverpackung erfunden.

Merkmale der Fiktion

Wodurch gibt ein Autor eines literarischen Textes eigentlich zu erkennen, dass er fiktiv ist? Oder anders gefragt: Woher weiß der Leser, dass ein Text nicht wirklich tatsächlich Stattgefundenes beschreibt, sondern nur so tut, als ob?
Die meisten fiktiven Texte unterscheiden sich allein schon durch ihre literarische Sprache von nicht-fiktiven Texten. Literarisch daran ist beispielsweise, dass sie sich von ihrem Rhythmus, der Satzstellung und ihren Begriffen von der normalen Alltagssprache abheben. Oder dass sie mit verschiedenen Erzähltechniken wie Innerer Monolog, Wechsel der Erzählperspektive oder Erzählhaltung experimentieren.

Daneben kann man einen fiktiven Text auch an seinem Inhalt erkennen.
Bei phantastischen Geschichten oder Märchen ist das besonders deutlich. Hier glauben weder Erzähler noch Hörer oder Leser wirklich, dass die Geschichte der Wirklichkeit entspricht. Niemand wird glauben, dass sich der Protagonist beispielsweise in einen Esel verwandeln oder einen Werwolf oder Vampir heiraten kann. Auch dann nicht, wenn am Anfang des Buches behauptet wird, dass sich die Geschichte wirklich so zugetragen hat. Also lügen diese Geschichten auch nicht, sie phantasieren oder erdichten viel mehr.
Bei realistischen Geschichten, die nur Dinge beschreiben, die auch wirklich so geschehen sein könnten oder vielleicht früher einmal so ähnlich geschehen sind, ist das allerdings schon schwieriger. Denn woran kann der Leser hier am Inhalt erkennen, dass die Geschichte nicht wirklich so passiert, sondern nur eine Erfindung ist?
Eigentlich vor allem deshalb, weil der Autor die Erfindung oder Fiktion auch als Fiktion zu erkennen gibt. Das macht  er (neben der literarischen Sprache) am auffälligsten dadurch, dass er seine Geschichte am Anfang des Textes einem fiktiven, also erdachten Genre wie Roman, Erzählung, Detektivgeschichte zuordnet. Oder er bemerkt vor der Geschichte, dass mögliche Übereinstimmungen von Handlung und Personen rein zufällig sind.
Daneben kann man das Fiktive einer Geschichte aber auch an ihrer Dramaturgie und Inszenierung erkennen. Fiktive Geschichten sind in sich geschlossener oder schlüssiger, weniger brüchig als das echte Leben. Die Handlung hat meistens einen roten Faden, einen Spannungsverlauf mit Höhe- und Tiefpunkten, die Figuren bewegen sich nach einer inneren Logik auf einen erzählerischen Schlusspunkt zu, und die einzelnen Motive und Elemente der Geschichte machen insgesamt meistens Sinn. Im echten Leben dagegen passieren einem täglich viele Dinge, die weder den eigenen Lebenslauf beeinflussen oder einem irgend etwas bedeuten, noch spannend genug für eine gute Geschichte wären.
Am schwierigsten wird die Unterscheidung zwischen fiktiven und nicht-fiktiven Texten allerdings bei realistischen Geschichten, die für wahr gehalten werden wollen. Das ist vor allem bei (Auto)Biographien und Tagebüchern der Fall. Denn hier tut der Autor nicht so, als ob diese Geschichte so passiert wäre, sondern er gibt an, dass sie wirklich so passiert ist. Trotzdem kann man der Ansicht sein, dass auch diese Geschichten eher zur fiktiven als zur nicht-fiktiven Literatur gehören. Denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich die Lebensgeschichte der beschriebenen Person wirklich genau so zugetragen hat. War der Autor eines Tagebuchs oder einer Autobiographie sich selbst zum Beispiel immer ehrlich gegenüber? Hat er die Situation richtig wahrgenommen? Und täuscht ihn sein Erinnerungsvermögen nicht? Ebenso kann man bei einem Autor einer Biographie fragen: Hat er alles umfassend recherchiert? Hat er die jeweilige Situation richtig eingeschätzt und eingeordnet? Oder verhielt sich nicht vielleicht alles ganz anders? Hat er nicht eine lesbare Geschichte konstruiert, die es so gar nicht gab?
An dieser Stelle wird aus dem literarischen plötzlich ein philosophisches Problem. Denn jetzt stellt sich die Frage nach dem, was wir überhaupt erkennen oder wirklich wahrnehmen können? Wird nicht irgendwie alles zur Fiktion, sobald wir es beschreiben? Oder anders gefragt: Können wir überhaupt etwas erzählen, ohne die einzelnen Ereignisse irgendwie sinnvoll zu verbinden? Ist diese hergestellte Verbindung nicht immer auch ein Stück weit Erfindung? Und sind vor dem Hintergrund nicht alle auch nicht-fiktiven Texte in Wirklichkeit Fiktionen?

Diese philosophische Fragen führen allerdings zu weit von den Fragen eines Literaturlexikons weg. Und deshalb überlassen wir es dem Leser, zu entscheiden, inwieweit er einen Text für fiktiv, fingiert oder wirklich hält. Inwieweit er also glaubt, dass sich eine Geschichte wirklich so zugetragen hat oder nur so tut, als ob.

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