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Das geheime Buch

Anna Pop in der Elefantenhaut

Ein Märchen aus der neuesten Zeit

Annette Kautt

Teil 1

Anna Pop war ein Kind in den besten Jahren. Sie wohnte in einem großen Haus, das mitten in einem schönen, frischen Garten stand. Sie hatte Freunde, und ihre Eltern liebten sie sehr.
Anna Pop hätte also getrost ihre neun Jahre genießen und ihren zehnten Geburtstag erwarten können. Doch leider gelang ihr das nicht. Denn Anna Pop hatte ein Problem.
Es war kein kleines Problem, wie zum Beispiel notorisches Hausaufgabenvergessen. Oder gieriges Schokoladefressen. Oder kribbelndes Bauchgefühl. Oder fauliger Atem. Nein, Anna hatte ein großes, ein riesiges Problem.
Ein Problem, so groß wie eine Elefantenhaut.
Jeden Abend nämlich, nachdem ihre Eltern ihr Gute Nacht gesagt und mit vorsichtigen Schritten das Zimmer verlassen hatten, wuchs Anna Pop ins beinahe Unermessliche. Oder genauer ausgedrückt: Ihre Haut wuchs, während ihr Körper so groß blieb wie zuvor.
Die Haut aber wuchs und wuchs und wuchs, bis sie die Größe einer Elefantenhaut hatte, und Anna Pop unter ihr zu ersticken drohte.
Zäh und dick war diese Haut. Die teigigen Hautfalten füllten das ganze Zimmer aus und ließen Anna gerade mal so viel Platz, wie ihr kleiner Körper eben brauchte.
Jede Nacht, wenn die Haut aufgehört hatte zu wachsen, kämpfte sich Anna unter dem schweren Faltenberg hervor, bahnte sich mit Armen und Beinen einen Weg zu ihrem Schreibtisch, und setzte sich dort auf einen danebenstehenden Sessel aus rotem Plüsch. Kerzengerade saß sie dann da, immer darauf bedacht, nicht von einer Falte erdrückt zu werden, und starrte in das Dunkel der Nacht.
Erst am Morgen, wenn es bereits dämmerte, und es ihr nicht mehr gelang, gegen den Schlaf anzukämpfen, kippte sie regelmäßig ein wenig mit dem Oberkörper nach hinten und drückte eine kleine Mulde in die Haut.
Wenn Anna dann später am Morgen auf dem Sessel erwachte, war ihre Haut wieder geschrumpft und saß wie bei jedem vernünftigen Mädchen fest um ihre Knochen.

Natürlich war dies kein Zustand für ein Mädchen in Annas Alter.
Annas Eltern hofften jeden Abend, dass ihr Kind gut schlafen konnte. Dass die Haut diese Nacht einfach vergessen würde zu wachsen. Dass Anna die Haut einfach vergessen würde. Aber jeden Morgen, wenn sie in Annas Zimmer kamen, und sie Anna schlafend auf ihrem roten Plüschsessel sahen, wussten sie, dass sie umsonst gehofft hatten.
Als Anna immer bleicher um die Nase wurde und sie zu nichts mehr Lust hatte, beschlossen ihre Eltern, Heilkundige aus aller Welt zu rufen.
In jener Zeit, in der Anna lebte, war es ein Leichtes, jemanden in Hinterindustan oder Honolulu mit einem einfachen "Klick" zu erreichen. Man mußte nur auf die linke Maustaste drücken, und schon war man mit der ganzen Welt verbunden. "Klick" und alle kannten Annas Problem. (Wenn nicht alle, so doch zumindest diejenigen, die sich dafür interessierten.) "Klick", so dachten Annas Eltern, und schon würden die Heilkundigen vor Annas Haus Schlange stehen und um Einlass bitten.
Tatsächlich dauerte es eine Weile, bis sich der erste Heiler bei Anna Pops Eltern meldete. Und bei diesem war es recht zweifelhaft, ob er gute Referenzen hatte. Doch da sich sonst niemand bei Anna Pops Eltern schriftlich vorstellte, und sie außerdem auch nichts unversucht lassen wollten, luden sie den Heiler schließlich zu sich nach Hause ein.
Mampfender Schluck stand als Absender auf seinem Briefbogen. "Ein abstoßender Name für einen Arzt", fand Annas Mama. "Klingt nicht besonders vertrauenerweckend", meinte auch Annas Papa.
Doch das, was dann ein paar Tage später vor ihrer Türe stand und um Einlaß bat, übertraf alle ihre Erwartungen:
Der Mampfende Schluck war ein zwei Meter hohes graues Pelztier, das zwar auf zwei Füßen stand und einen dunkelbraunen, ledernen Arztkoffer unter den Arm geklemmt hielt, das aber mit seinen großen runden Ohren und seinen schwarzen Augen eher an eine riesige Maus als an einen Menschen erinnerte.
"Ich hoffe, hier wohnt Anna Pop?!" sagte der Mampfende Schluck, als Annas Eltern etwas zögerlich die Türe öffneten. Er hatte unerwarteter Weise eine tiefe, melodiöse Stimme.
"Ich heiße 'Mampfender Schluck'. Sie haben mich doch erwartet?"
Annas Eltern sahen sich betroffen an.
Doch auch wenn sie am liebsten die Türe wieder geschlossen hätten, weil ihnen der Mampfende Schluck beinahe unheimlicher war als das Leiden ihrer Tochter, traten sie doch zur Seite. Denn der Mampfende Schluck hatte seinen dicken Pfotenfuß bereits kraftvoll durch die Tür geschoben und wollte offensichtlich ins Haus hinein. Und kein normaler Mensch wäre bei seiner ersten Begegnung mit ihm so mutig gewesen, das zu verhindern.
Der Mampfende Schluck schob also Annas Eltern zur Seite, trat in den Hausflur und brummte etwas ungeduldig: "Wo ist das Mädchen?"
Stumm zeigten die Eltern zur Treppe, nahmen die Koffer des Mampfenden Schlucks, die er auf der Schwelle hatte stehen lassen, und trugen sie in sein Gästezimmer. Danach setzten sie sich ins Wohnzimmer und warteten.
Teilweise, weil sie es für besser hielten, dass der Mampfende Schluck ihre Tochter alleine untersuchte, teilweise aber auch, weil sie jetzt dringend ein Schnäpschen brauchten.

Unterdessen war der Mampfende Schluck in Anna Pops Zimmer getreten. Anna war offensichtlich nicht da. Das Fenster war geöffnet, und so konnte der Mampfende Schluck fröhliches Kindergeschrei aus dem Garten hören. Er trat ans Fenster und sah mehrere Kinder um einen großen alten Lindenbaum stehen. Sie versuchten, schmale Holzbrettchen an den Baum zu nageln. Am oberen Ende des Stammes hatten die Kinder ein Baumhaus gebaut. Es war kaum zu sehen, weil dichte, grüne Blätter die Sicht darauf verhinderten.
Angewidert trat der Mampfende Schluck vom Fenster zurück. Lebendige Pflanzen, insbesondere solche, die so groß wie Bäume waren, ekelten ihn an.
Tote Pflanzen dagegen, gepresste Blumen oder Gräser beispielsweise, die etwas staubig rochen und deren konservierte Gestalt ihr kräftiges, ungebändigtes Leben von davor sozusagen verhöhnte, bereiteten ihm eine große Lust.
Der Mampfende Schluck hielt sich deshalb nicht gerne draußen auf. Ihm gefiel es in geschlossenen Räumen viel besser. Sein liebster Aufenhaltsort war der Dachboden eines alten und großen Hauses. Besonders gefiel es ihm, wenn der Dachstuhl aus mächtigen, schweren Eichenhölzern gebaut war.
Wann immer er in der Mitte eines solchen Daches saß, wusste er, dass er eigentlich zu Höherem berufen war. Dass er, der Mampfende Schluck, eigentlich kein fahrender Arzt war, sondern King Kong, der Affenkönig. (Dass der Mampfende Schluck gar nicht aus der Gattung der Affen stammte, sondern eine Kreuzung aus der hundegroßen Venezuelamaus und einem Fels-Känguruh war, spielte dabei keine Rolle.)
Seufzend ließ sich der Mampfende Schluck in Annas Plüschsessel plumpsen. Wie lange war es nun schon her, dass er auf dem Dachstuhl eines alten Hauses gewesen war? Sicher schon etliche Jahre.
Vielleicht, so dachte der Mampfende Schluck da plötzlich, vielleicht gab es ja hier einen solchen Dachboden? Immerhin - das Haus sah ziemlich groß aus, und alt schien es auch zu sein.
Der Mampfende Schluck schnupperte mit seiner dicken pelzigen Nase.
Zufrieden stellte er fest, dass ein staubiger Geruch in der Luft hing. Es roch nach altem, brüchigen Leder und mottenbehandelter Polstergarnitur. Eigentlich nicht der richtige Geruch für ein kleines Mädchen, dachte der Mampfende Schluck. Doch für ihn, so dachte er weiter, für ihn war es genau die richtige Geruchsmischung.
Aufgeregt stand er auf und beschnüffelte mit nach oben gestreckter Nase die Luft. Da roch doch etwas nach trockenem alten Holz? Er stellte sich auf seine Zehenspitzen und sog den Holzgeruch ein, der sich im oberen Drittel des Zimmers konzentrierte und wohl durch den Türschlitz einströmte.
Der Mampfende Schluck lief dem Geruch hinterher. Er machte die Tür auf, ging links davon einen langen Gang entlang, dann eine Treppe weiter hinauf, wieder einen Gang entlang, nochmals eine schmale Treppe hinauf, bis er vor der Bodentür des Hauses stand.
Voller Vorfreude stand er vor der Tür. Doch er getraute sich nicht, sie zu öffnen. Denn was, wenn seine Hoffnung enttäuscht werden sollte? Wenn er wieder nur einen dieser neuen, lächerlichen Kieferndachstühle zu Gesicht bekommen würde?
Nach einigem Zögern und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch öffnete er schließlich die Tür.
Doch was er nun zu sehen bekam, übertraf seine kühnsten Erwartungen! Denn über ihm erhob sich der schönste Dachboden, den er seit langer, langer Zeit zu Gesicht bekommen hatte!
Seine Nase hatte ihn also nicht betrogen. Das Haus der Familie Pop wurde von einem uralten, und damit gänzlich toten Gebälk geschützt. Riesige Balken trockenen, spreißligen Holzes türmten sich bis zum Sattel des Daches auf und verströmten einen Duft sanfter, geordneter Kühle. Das Beste aber daran war, dass dieses Geruchs- und Augenerlebnis durch kein Gerümpel, keinen Fledermausmist und kein Mardernest gestört wurde.
Der Mampfende Schluck konnte sein Glück kaum fassen! Hier konnte er endlich wieder er selbst sein.
Mit freudigem Schauder stellte er sein Fell auf, machte die Beine breit, spielte mit seinen Armmuskeln und schrie: "Hier kommt King Kong!"

Anna stand im Garten und popelte in der Nase. Ihre Freundinnen waren eben nach Hause gegangen, als sie einen seltsamen Schrei hörte. Verwundert schaute sie sich um, doch sie sah niemanden. Der Schrei hatte sich merkwürdig angehört.
Hochtönend und verloren war er zuerst auf sie zu- und dann über die Baumkrone davongeflogen.
Der Schrei passte nicht in diese Gegend. Nachdenklich ging Anna auf das Haus zu.
Ihre Eltern saßen tuscheld im Wohnzimmer. "Mampfender Schluck ... Betrüger Schorschi und Angeber-Luzi ... unsere Tochter scheint ein seltenes Leiden zu haben."
Als Anna ins Wohnzimmer trat, senkten sie ihre Blicke und gruben sich ihre Hände ins Sofapolster.
Doch dann sagte Annas Mutter: "Für die nächsten Tage haben sich übrigens noch zwei andere Ärzte angemeldet. - Was für einen Eindruck hat eigentlich der Mampfende Schluck auf dich gemacht?"
"Hat der etwa so geschrien?"
"Wieso geschrien? Er wollte dich doch untersuchen."
"Mich hat niemand untersucht. Und ich bin jetzt auch zu müde, um untersucht zu werden. Ich versuche jetzt zu schlafen. Gute Nacht."
Annas Eltern tauschten einen bedeutungsvollen Blick miteinander aus und sagten dann ihrer Tochter Gute Nacht.

Der Mampfende Schluck war wie vom Erdboden verschluckt. Annas Eltern suchten sämtliche Zimmer des weitläufigen Hauses durch. Doch der Arzt war unauffindbar.
Da seine Koffer immer noch in seinem Gästezimmer standen, machten sich die Eltern jedoch nicht zu viele Gedanken darüber. Vielleicht war er einfach nur spazieren gegangen, um irgendwelche Heilkräuter für Anna zu suchen? Oder er war gerade bei einem Stadtbummel? Vielleicht war er aber auch auswärts essen gegangen, weil Annas Eltern vergessen hatten, ihm zu sagen, dass er selbstverständlich mit ihnen essen konnte?
Wie dem auch sei, Annas Eltern beschlossen, nach ihrer ausgiebigen Hausdurchsuchung den Schluck Schluck sein zu lassen und sich ebenfalls hinzulegen.
Als der Mampfende Schluck jedoch auch die folgenden Tage nicht auftauchte, begannen sich Annas Eltern ernsthaft Sorgen zu machen. (Anna selbst war der Mampfende Schluck ziemlich gleichgültig, da sie ihn bisher noch nicht gesehen hatte. Und auf die Hilfe eines Arztes, der sie gar nicht behandelte, konnte sie pfeifen.)
Annas Eltern überlegten, ob sie die Polizei verständigen sollten. Doch sie befürchteten, dass sie den Mampfenden Schluck dann womöglich in große Schwierigkeiten bringen würden. Denn es war nicht sicher, ob die Papiere des Mampfenden Schlucks in Ordnung waren. Außerdem wußten Annas Eltern nicht, ob es solche Wesen wie den Mampfenden Schluck überhaupt gab. Schließlich hatten Pops zuvor noch nie von der Existenz eines so großen Pelztiers gehört, geschweige denn davon, dass Pelztiere sprechen konnten.
Für sie selbst spielte es zwar keine Rolle, was für ein Wesen der Mampfende Schluck in Wirklichkeit war, solange er nur ihre Tochter heilen konnte. Aber ob da die Polizei gleicher Meinung war? Wohl eher nicht. Annas Eltern kamen deshalb überein, dass sie die Sache auf sich beruhen lassen wollten. Dass sie einfach abwarten wollten, bis der Mampfende Schluck wieder von alleine auftauchen würde.
Zum Glück, so dachten jedenfalls Annas Eltern, hatten sich noch zwei weitere Ärzte angemeldet. Vielleicht gelang es ja einem von ihnen, ihre Tochter zu heilen.
An dem Abend, für den sich die beiden anderen Ärzte angemeldet hatten, richteten Annas Eltern zwei weitere Gästezimmer her. Dann deckten sie den Abendessenstisch und warteten auf "Angeber-Luzi" und "Betrüger-Schorschi". Beide wollten seltsamerweise zur selben Zeit ankommen.

Die Familie hatte sich gerade zum Nachtessen an den Tisch gesetzt, als sie von draußen ein kreischendes, kratzendes Geräusch wahrnahmen. Herr und Frau Pop schauten sich verdutzt an.
Anna meinte: "Da steht jemand vor der Haustür. Soll ich mal nachschauen?"
Es polterte, rumste, und dann hörte die Familie noch einen unterdrückten Schrei.
"Lieber nicht", sagte Annas Vater. "Ich werde nachschauen."
Ein wenig ängstlich öffnete Annas Vater dann die Haustür.
Zu seiner Überraschung standen vor ihm zwei völlig normal aussehende Männer, die sich weder prügelten, noch zankten. Vielmehr strahlten sie ihn mit gesunden Zähnen an und streckten ihm die rechte Hand zum Gruß entgegen.
Zugegeben, wenn man sich die Männer etwas genauer ansah, erschienen sie einem nicht mehr ganz so normal wie auf den ersten Blick. Zum Beispiel waren beide ausgesprochen schmächtig. Sie reichten Annas Vater nur knapp bis zu dessen Kinn. Der eine von beiden hatte hellrotes, flauschiges Haar, das ihm wie ein zartes Seidentuch über den Nacken wallte. Seine Haut schimmerte gelb, grün oder bläulich, je nachdem wie das Licht darauf reflektierte. Und seine Augen waren von einem so tiefen Blau, dass man sich in ihnen verlieren konnte.
Der andere hatte sein pechschwarzes Haar mit viel Brillantine zu einem Hahnenkamm nach oben gebürstet. Während er redete, fuhr er wie zur Bestätigung seiner Worte mit einer dickfleischigen Zunge über seine breiten, rissigen Wulstlippen. In der einen Hand hielt er einen schmalen, ledernen Aktenkoffer und die andere Hand glitt ständig prüfend in seine rechte Hosentasche, als ob er darin große Schätze verborgen hätte. Tatsächlich beförderte er während des kurzen Gesprächs an der Haustür ein Taschentuch, eine Zigarre und ein kleines Telefon daraus hervor. Das Telefon war allerdings so klein, dass sich Annas Vater nicht vorstellen konnte, wie man damit telefonieren sollte. Doch bevor sich Herr Pop das Telefon genauer hatte ansehen können, war es bereits wieder mit den anderen Sachen in der Hosentasche verschwunden.
"Ich nehme an, dass Sie Angeber-Luzi und Betrüger-Schorschi sind?" fragte Annas Vater.
Der mit dem Hahnenkamm nickte. "Angeber-Luzi, sehr angenehm." Er kippte ein wenig nach vorne, und streckte seine rechte Hand noch weiter Annas Vater entgegen. "Und das ist Betrüger-Schorschi," fuhr er fort, als Annas Vater ihm seine Hand reichte. "Wie der Name schon sagt, eine unangenehme Person. Glauben Sie ihm kein Wort. Am besten schicken sie ihn sofort wieder zurück. Ich könnte ihnen Geschichten über ihn erzählen ..."
"Papperlapapp!" fuhr Betrüger-Schorschi Angeber-Luzie über den Mund. "Mit so einem wie dir kann ich es noch lange aufnehmen. Ich sage nur Saatkrähe." Und dann lachte Betrüger-Schorschi ein blechernes, glucksendens Lachen, das sich anhörte als fielen schwere Regentropfen auf eine Gießkanne.
Angeber-Luzi schob Betrüger-Schorschi verärgert zu Seite und drängte sich neben Annas Vater ins Haus.
"Lecker, lecker, ich rieche Hühnerpastete," stellte er zufrieden fest. "Wenn es Sie nicht stört, würde ich gerne erst etwas zu mir nehmen, bevor ich mir ihre kleine Tochter anschaue."
Ohne auf eine Erwiderung zu warten, schaute er in mehrere Zimmer, bis er das Esszimmer gefunden hatte. Dann setzte er sich an den Tisch, nickte Annas Mutter und Anna freundlich zu und schaufelte sich mehrere Hühnerpasteten auf seinen Teller.
Angeber-Luzi war gerade beim Nachtisch angelangt, als Annas Vater und Betrüger-Schorschi ins Zimmer kamen. Annas Vater hatte Betrüger-Schorschi bereits das Gästezimmer gezeigt. Er erklärte seiner Familie, dass sich die beiden Herren bereits kannten.
"Ganz genau," platzte Betrüger-Schorschi heraus. "Überall, wo ich meine Heil-Kunst vorstelle, kommt auch Angeber-Luzi vorbei. Das ist so ein alter Komplex von ihm. Ich möchte nur wissen, woher er immer weiß, wohin ich reise."
"Dass ich nicht lache", meckerte Angeber-Luzi. "Sie können sich sicher sein," erläuterte er Annas Eltern, "dass er mich vorher immer schriftlich über jeden seiner Schritte unterrichtet. Ich fahre ihm hinterher, weil ich alle vor ihm warnen muß. Leider glauben mir die wenigsten Leute in dieser Hinsicht. Daran können Sie leicht sehen, wie betrügerisch dieser Herr agiert."
"Woher wissen Sie denn das so genau?" fragte Anna neugierig.
Angeber-Luzi drehte sich überrascht Anna zu. Anscheindend war er es nicht gewohnt, mit neunjährigen Mädchen zu sprechen. "Weil ich selbst eines seiner Opfer war."
"Oh bitte, erzählen Sie!"
"Ich glaube nicht, dass das die richtige Bettlektüre für ein kleines Mädchen ist."
"Ha, ha", machte Betrüger-Schorschi. "Er will es nur nicht erzählen, weil es ihm zu peinlich ist. Dabei ist das schnell erzählt. Wenn es dich nicht stört, erzähle ich selbst die Geschichte."
Alle, außer Angeber-Luzi selbstverständlich, schauten Betrüger-Schorschi gespannt an. Da Annas Eltern offensichtlich nichts dagegen hatten, dass ihre Tochter eine vielleicht für ihr Alter unpassende Geschichte zu hören bekommen würde, begann Betrüger-Schorschi zu erzählen: Ende Teil 1.

Fortsetzung folgt in der nächsten Rossipotti- Ausgabe.

 

 

   Rossipotti No.1, Dezember 2003