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Rossipottis Leibspeise

 

Higgelti Piggelti Pop! Oder Es muss im Leben mehr als alles geben

"Nichts geht über 'Higgelti Piggelti Pop!' von Maurice Sendak," sagt Rossipotti immer, wenn er wieder zu lange in seinem Zimmer gesessen hat und etwas trübsinnig geworden ist.
"So wie diese Jenny müßte man es machen!" seufzt er dann meist und fährt seinen Gedanken fort: "Einfach hinaus in die Welt gehen und darauf vertrauen, dass an jeder Ecke jemand steht, der einem ein Wurstbrot gibt, wenn man Hunger hat! Aber trotzdem auch Abenteuer und Geheimnisse erleben. So stelle ich mir das Leben vor! Ja, ja, es muss im Leben mehr als alles geben."

So ganz unrecht hat Rossipotti in seinem Urteil über das Buch wahrscheinlich nicht. Auch ich finde "Higgelti Piggelti Pop! oder Es muss im Leben mehr als alles geben" einfach toll. Es ist sicher eins der besten und geheimnisvollsten Kinderbücher überhaupt.
Geheimnisvoll ist es deshalb, weil man bis zum Schluss nicht so ganz durchschaut, worum es eigentlich geht.
Erzählt Sendak wirklich nur die eine Geschichte, die man Wort für Wort lesen kann? Oder spielt sich die eigentliche Handlung nicht erst dann ab, wenn man das Buch schon wieder zugeschlagen hat?
Ich habe bisher oft versucht, das Eigenleben der Figuren zu entdecken. Manchmal schlage ich das Buch ganz schnell auf, manchmal ganz langsam. Manchmal tue ich betont gelangweilt, bevor ich den Buchdeckel aufklappe, und manchmal scheine ich vor Aufregung beinahe zu zittern.
Aber die Figuren lassen sich von mir nicht betrügen. Egal, wie ich mich anstelle, sie sind klüger als ich und schaffen es immer, sich hinter den Buchstaben zu verstecken, bevor ich mehr über sie erfahren kann.

Wie auch immer: Ich kann euch jedenfalls von der Geschichte nur so viel erzählen wie sie schwarz auf weiß geschrieben steht:

Ein Hund namens Jenny verläßt seinen Herrn und sein warmes Heim, weil es ihm dort zu langweilig geworden ist. Jenny ist enorm gefräßig, und man denkt zuerst, dass sie keine hundert Meter weit kommt.
Aber erstaunlicher Weise kommt es ganz anders. Denn genau diese Fresslust wird zum Motor aller weiteren Handlungen.
Zuerst bleibt Jenny bei einem Schwein stehen, das Gratis Wurstbrote verteilt. Das Schwein erzählt ihr, dass man "Erfahrung" haben müsse, um Hauptdarstellerin in Frau Hules Welttheater zu werden. Und da Jenny ohnehin nichts anderes zu tun hat, als Hauptdarstellerin zu werden, macht sie sich umgehend auf, die geforderte Erfahrung zu bekommen. Sie wird Babysitterin bei "Baby", frisst ihm alles weg und muß nun Angst haben, selbst von einem Löwen gefressen zu werden...

Doch ich möchte nicht zu viel verraten. Lest das Buch einfach selbst. Es hat nur 76 Seiten, mehr als die Hälfte davon sind Bilder des Autors. Wenn ihr etwas über sein Geheimnis herausbekommt, schreibt mir bitte.

Ach ja, bevor ich es vergesse: Maurice Sendak wurde bereits 1928 als Sohn polnischer Einwanderer in New York geboren und hat das Buch "Higgelti Piggelti Pop!" 1967 veröffentlicht. Sein Buch "Wo die wilden Kerle wohnen" kennt ihr bestimmt.
Über das Schreiben von Kinderbüchern sagt er:
"Es ist erniedrigend für ein Kind, wenn man so schreibt wie für einen Idioten. Ich glaube, man kann alles für Kinder schreiben, viel freier als für Erwachsene, denen man zu viele Lügen erzählen muss."

Wohl bekomm's!

Maurice Sendak: Higgelti Piggelti Pop! Oder es muss im Leben mehr als alles geben. Diogenes Verlag. Zürich 2003 (Neuauflage). 76 Seiten.

 

Die wundersame Reise der kleinen Sofie

"Willst du wirklich noch ein Buch vorstellen, in dem die Hauptperson von zu Hause weggeht, um etwas Spannendes zu erleben?" fragte ich Rossipotti, als wir uns über die Bücherauswahl unterhielten.
"Du kannst doch 'Higgelti Piggelti Pop!' nicht mit der 'wundersamen Reise der kleinen Sofie' vergleichen!" rief Rossipotti aus. "Nur weil beide Helden von zu Hause weggehen, sind die Bücher noch lange nicht gleich. Da müssest du ja alle Abenteuerromane in den selben Topf schmeißen. Jenny erlebt etwas völlig anderes als Sofie! Und Jenny erobert sich die Welt mit links, während Sofie sich alles hart erkämpfen muss und trotzdem meist den kürzeren zieht. "
"Warum gefällt dir eigentlich die Geschichte von Sofie?" fragte ich Rossipotti.
"Weil sie eine zarte, phantastische Geschichte ist. Weil sie schwerwiegende Dinge mit Leichtigkeit erzählt, weil sie mein Gefühl anspricht!"

Wenn Rossipotti mit seinem "Gefühl" argumentiert, höre ich immer schlagartig auf, mit ihm weiter zu diskutieren. In meiner Lage kann ich mir keine Gefühle leisten und finde es deshalb unfruchtbar, darüber zu sprechen.
Doch auch ohne Gefühlsduselei kann man "Die wundersame Reise" für ein sehr schönes Buch halten. Die Geschichte handelt von der kleinen schwer kranken Sofie, die schon lange im Bett liegen bleiben muss, die jedoch in der Nacht, bevor sie stirbt, von ihren Stofftieren und ihrem Kater Terror auf eine lange phantastische Reise mitgenommen wird. Hier erfährt sie, sozusagen kurz vor Schluss, "was das Leben zu bieten hat." Und zu bieten hat das Leben für sie einiges: bittere Armut, Ungerechtigkeit, Zwietracht und Gemeinheit, aber auch Freundschaft, Reichtum und Hilfsbereitschaft. Das alles wäre allerdings nichts, wäre das Ganze nicht in eine Atmosphäre des Zauberhaften und Unerklärbaren eingebettet. Denn es ist diese Atmosphäre, die aus dem eigentlich traurigen Buch eine spannende Geschichte ohne erhobenen Zeigefinger macht.

Das Buch von der Niederländerin Els Pelgrom hat The Tjong Khing mit vielen Bildern illustriert, die irritierend gut zum Text passen. Und übrigens: "Die wundersame Reise der kleinen Sofie" wurde 1986 mit dem "Deutschen Jugendliteratur Preis" ausgezeichnet .

Els Pelgrom und The Tjong Khing: Die wundersame Reise der kleinen Sofie. Verlag Friedrich Oetinger. Hamburg 1990. 125 Seiten.

Die Spione von Oreborg

"Ja, kannst du machen," sagte Rossipotti zu mir, als ich ihm vorschlug, die "Die Spione von Oreborg" vorzustellen. "Dann haben wir zwar kein Buch von einem deutschen Autoren dabei. Aber das ist mir eigentlich auch schnurz. Schließlich haben wir keinerlei Verpflichtungen."
Doch dann nahm mir Rossipotti das Buch aus der Hand und beäugte skeptisch seinen Deckel. Auf rotem Hintergrund ist dort ein langer schmaler Mann mit Blümchenhut neben einer erleuchteten Laterne zu sehen. Vorne unten blickt ein grauer, verdächtig aussehender Mann nach hinten.
"Ist es nicht zu altmodisch?" fragte Rossipotti schließlich. "Es ist in Deutschland zwar erst dieses Jahr erschienen, aber die Bilder erinnern mich irgendwie an eine vergangene Zeit. Wolfgang Ecke oder so ähnlich."
"Na und? So lange die Geschichte trotzdem gut ist, kann uns das doch egal sein!"
"Bist du dir aber auch ganz sicher, dass es ein essbares Buch ist?" hakte er nochmals nach.
"Essbar auf alle Fälle. Es reißt vielleicht nicht alle vom Hocker. Aber es macht Spaß zu lesen."
Langsam wurde ich wütend. Rossipotti bildet sich viel zu viel auf seinen Geschmack ein, finde ich. Soll er doch die Leser entscheiden lassen, was sie gut finden und was nicht.
Rossipotti schien zu bemerken, dass ich mich über ihn ärgerte. Versöhnlich nahm er das Buch, roch daran und biss dann eine Ecke ab.
"Schmeckt gut," sagte er versöhnlich. "Stell es bitte vor. Und spare nicht mit Lob!"

Auch wenn ich Rossipottis ironischen Unterton durchaus bemerkt habe, werde ich tatsächlich nicht mit Lob sparen. Manchmal muss man Rossipotti einfach beim Wort nehmen. Sonst kommt man in Teufels Küche.
Also: Die "Spione von Oreborg" ist ein außergewöhnlicher Roman, weil er sich thematisch von den meisten aktuellen Veröffentlichungen abhebt.
Warum? Weil er eine eigene Welt entfaltet, ohne Zauberreich oder Science-Fiction-Raum zu sein. In dem Roman bewegen sich vordergründig normale Menschen in normalen, wenn auch etwas altertümlichen Ortschaften. Doch die Figuren nehmen die Realität so verschroben wahr, und handeln so eigenartig, dass man schnell bemerkt: Das passiert nicht hier und nach unseren realistischen Gesetzmäßigkeiten.
Beispiele:
Die Kinder der kleinen schwedischen Schären-Insel Snårholmarna, gehen nur deshalb in die Schule, damit Magister Nillebu eine Arbeit hat und der Kommandant der Insel zusätzlich Bildungsminister werden kann. Als Ausgleich bekommen die Schüler Süßigkeiten und machen Papierflieger-Wettbewerbe.
Außerdem verwechselt der Kommandant die Welt seiner Detektivromane mit der echten Welt, weshalb er den Magister in die nächst größere Stadt schickt, um dort Spione dingfest machen zu können.
Und schließlich erkennt der Magister zwar die Irrsinnigkeit der Ideen seines Kommandanten. Er selbst zimmert sich die Realität aber auch immer so zurecht, dass sie mit seinen eigenen Phantasien übereinstimmt. Ein harmloses Keksrezept wird bei ihm deshalb zum geheimen Dokument, und eine Versammlung tratschender Damen zur heimlichen Sitzung einer Verbrecherbande. Umgekehrt bemerkt er nicht, dass er tatsächlich gefährlichen Spionen einer Piratengruppe auf der Spur ist und deren geheimes Papier arglos mit sich im Schuh herumträgt.
Witzige Verwechslungen und eine komische Verfolgungsjagd sind da vorprogrammiert.

Jakob Wegelius: Die Spione von Oreborg. Sauerländer Verlag. Düsseldorf 2003. 160 Seiten.

 

   Rossipotti No.1, Dezember 2003