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Das geheime Buch

Anna Pop in der Elefantenhaut

Ein Märchen aus der neuesten Zeit

Annette Kautt

Fortsetzung: Teil 4

Wer nicht nur die kurze Zusammenfassung lesen möchte, sondern auch den Anfang des Buches, geht zurück zur ersten Rossipotti-Ausgabe .

Was bisher geschah:

Anna Pop ist ein neunjähriges Mädchen und hat eine seltsame Krankheit. Jede Nacht wächst ihr eine Elefantenhaut und droht sie zu erdrücken. Auf Wunsch der Eltern finden sich bei Pops schließlich mehrere Ärzte und ein Erbsenschwein ein, um Anna von ihrer nächtlichen Elefantenhaut zu heilen: Der Mampfende Schluck, die beiden Erzfeinde Betrüger Schorschi und Angeber-Luzi und Frau Schmittchen.
Doch während der Mampfende Schluck schon am ersten Tag auf mysteriöse Weise verschwindet, kümmern sich Angeber-Luzi und Betrüger-Schorschi weniger um Anna als um ihre eigenen Vorlieben. Angeber-Luzie übernimmt den häuslichen Telefondienst, stöbert in Pops Bibliothek und nimmt sich wichtig. Betrüger-Schorschi angelt und beschlagnahmt Pops Küche, um darin alle möglichen Leibgerichte zu kochen. Frau Schmittchen probiert ihre literar-osmotische Wunschbehandlung vor allem an sich selber aus, und das Erbsenschwein legt im Garten ein Karottenbeet an. Auch wenn es immer wieder Streit und Auseinandersetzungen gibt, fühlen sich alle Hausbewohner recht wohl in dieser Gemeinschaft. Alle, bis auf Anna. Denn:

Anna wurde es zu Hause immer langweiliger und ungemütlicher.
Frau Schmittchen hatte sich beinahe ganz in Annas Zimmer zurückgezogen.
Betrüger-Schorschi wurde ein immer größerer Flupppuppenfan.
Und Angeber-Luzi rannte meistens nervös im Zimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit zog er sein kleines Telefon, ein Taschentuch oder einen Stift aus der Hosentasche, um alles kurz darauf wieder darin verschwinden zu lassen.
An Anna zeigte er kaum noch Interesse. Zerstreut hörte er morgens ihren Bericht und schickte sie bereits nach einer Stunde zum Spielen. Wenn Anna dann beinahe jedes Mal fragte, was sie denn spielen solle, antwortete er monoton: "Such dir doch einen Schatz! Kinder lieben Schätze. Und du bist doch ein Kind? Oder etwa nicht?"
Zuerst war dieses Was-soll-ich-denn-tun?-Frage- und Antwort-Spiel reines Ritual, das das Ende jeder morgendlichen Behandlung einläutete.
Doch bald merkte Anna, dass Angeber-Luzi immer mehr Interesse an diesem Spiel zeigte. Immer ungeduldiger wartete er auf ihre Antwort und immer existentieller schien die Frage, ob sie denn ein Kind sei, für ihn zu werden.
Die Anteilnahme und Neugierde an ihrer Krankheit, die Anna für erloschen geglaubt hatte, kam in diesen Momenten schlagartig zurück.
Lauernd wartete Angeber-Luzi jedes Mal auf Annas Antwort. Während Anna die ersten Male gar nicht darauf einging, weil sie die Frage, ob sie ein Kind sei, für einen Scherz hielt, konnte sie sich bald nicht mehr einer Antwort entziehen. Denn Angeber-Luzi wartete auf eine Reaktion.
"Aber sicher bin ich ein Kind," erwiderte Anna ihm dann, oder "natürlich!"
Doch auch diese Bestätigungen stellte Angeber-Luzi bald nicht mehr zufrieden.
"Bist du dir auch ganz sicher?" fragte er sie eines Morgens.
Und Anna antwortete ein wenig betreten: "Ja. Ganz sicher!"
Nach einer Weile wurde die Beantwortung dieser Frage zum Hauptinhalt ihrer Zusammentreffen. Angeber-Luzie fühlte zu Beginn jeder Untersuchung nur noch Annas Puls, bevor er sie fragte, ob sie denn wirklich ein Kind sei.
Anna musste sich immer wieder neue Dinge einfallen lassen, um Angeber-Luzi glücklich zu machen. Ein einfaches "Ja!" genügte ihm schon lange nicht mehr. Inzwischen ging es Angeber-Luzi nicht mehr um die bloße Bestätigung, dass Anna ein Kind sei, sondern warum sie glaube, ein Kind zu sein.
Am Anfang fand Anna dieses Spiel noch ganz lustig: "Ich bin ein Kind, weil ich kleine Nasenlöcher und keinen Schweinerüssel habe," antwortete sie zum Beispiel. Oder: "Ich bin ein Kind, weil ich verrückte Wörter erfinden kann: Spraktagul klasterte Frinzglandl (das hieß: ein Spatz fiel über einen Krückstock), Ladulu schtatschimir kropsgedutsch (guck nicht so frech du Holzwurm!)".
Oder Anna erklärte Angeber-Luzi: "Ich bin ein Kind, weil ich gerne erwachsen wäre. Dann könnte ich verreisen, und müsste nicht immer hier sitzen."
Doch Angeber-Luzi gelang es sehr schnell, ihr dieses Spiel zu vermiesen. Denn er wollte immer noch genauere Antworten. "Ein Kaninchen hat auch kleine Nasenlöcher", sagte er beispielsweise, "und du willst doch nicht behaupten, dass du ein Kaninchen bist?"
Dann musste Anna genau überlegen, welches Wort, welche Eigenschaft nur auf ein Kind zutraf. Das war sehr anstrengend und kein bisschen lustig. Jeden kuriosen Einfall machte ihr Angeber-Luzi zunichte. Kind sein war anscheinend in erster Linie sehr langweilig.
Nach drei Wochen wusste Anna, dass ein Kind kein Kaninchen, Frosch oder Affe war, dass es sich nicht dadurch auszeichnete, dass es gerne Schokolade aß (denn das taten Erwachsene auch), dass es auch nicht dadurch Kind war, weil es sich tolle Dinge ausdenken und auf Bäume klettern konnte (das konnten Erwachsene theoretisch ebenso), und schon gar nicht deshalb, weil es in Annas Land nicht arbeiten musste (Kinderarbeit gab es auf der ganzen Welt).
Warum aber Anna ein Kind war, wusste sie immer noch nicht. Als Angeber-Luzi ihre Unterredung eines Tages mit dem triumphierenden Satz beschloss: "Anna, ich werde dir beweisen, dass es Kinder positiv gar nicht gibt!" wurde Anna nachdenklich.
Was war sie dann, wenn sie kein Kind war?
Anna sollte es erfahren, als sie am anderen Morgen früher als gewöhnlich in Angeber-Luzies Zimmer kam. Die Tür war halb offen, und Angeber-Luzie bemerkte Anna nicht. Er lief aufgeregt in seinem Zimmer hin- und her und schleuderte immer wieder einzelne Satzbrocken vor sich hin: "... Anna ein Kind, dass ich nicht lache!... von Anfang an wurde mir etwas verheimlicht ... Betrüger-Schorschi ist sicher der Drahtzieher des Komplotts ... die Pops werden sich noch wundern ... man hintergeht nicht ungestraft einen Angeber-Luzi ... als ob man vor mir verheimlichen könnte, dass Anna kein Kind ist.
Anna ist ein Elefant!"
Nach diesen Worten drehte sich Angeber-Luzi zufällig zur Tür und schaute dabei in das entsetzte Gesicht von Anna.
Anna starrte Angeber-Luzi an. Es war ihr zuvor noch nie aufgefallen, dass seine Nase so spitz in seinem gelben Gesicht stand. Seine kleinen grünen Augen schienen ihr mit einem Mal hinterhältig und gemein. Seine große Unterlippe hing an ihm herunter wie ein großer Schnabel, und sein Haar stand ab wie ein affiger Federschmuck.
Bestürzt drehte sich Anna um und rannte die Treppen hinunter. Nur raus hier, dachte sie, riss die Haustür auf, stolperte die Treppen hinunter und lief so schnell sie konnte hinter das Haus. Dahin, wo Angeber-Luzi kein Zimmerfenster hatte, und dahin wohin er sie bestimmt nicht verfolgen würde, weil er sich vor dem Erbsenschwein ekelte.

Das Erbsenschwein!
Zu ihm wollte Anna nun gehen. Wenn sie ein Elefant war, so dachte Anna, dann war sie beim Erbsenschwein ohnehin am besten aufgehoben.
Außerdem war ihr das Erbsenschwein mittlerweile sehr lieb geworden. Beim Erbsenschwein musste Anna nicht soviel Rücksicht nehmen wie bei den anderen. Es stellte auch keine Ansprüche an sie. Es war einfach nur da und freute sich, wenn sie kam.
Meist grub es mit seinem Rüssel die Erde von seinem kleinen Gemüsegarten um. Oder es zog mit einem beherzten Ruck eine Karotte aus seinem Beet. Wenn Anna kam, durfte sie mit dem Erbsenschwein Karottensuppe kochen. Ein Kilo Karotten und ein halbes Kilo Kartoffeln, geschält und geschnitten, kamen in zwei Liter Gemüsebrühe. Am Schluss bröselte das Erbsenschwein immer noch ein bisschen frische Erde in den Topf. Dann rührte es das Ganze ein paar Mal um. Und fertig war die Suppe!
Anna klopfte an der Tür.
"Hallo, wer ist da?" grunzte das Schwein von innen.
"Ich bin es, Anna." Wie gut, dass ich einen Namen habe, dachte Anna. Dann muss ich nicht sagen: "Hallo, ich bin das Kind, das eigentlich ein Elefant ist." Oder besser: "Ich bin der Elefant, der sich als Kind ausgibt?"
"Bringst du bitte ein paar Karotten mit?"
"Ja, klar! Von den großen oder den kleinen?"
Karotten pflücken, dachte Anna, das ist gut. Karotten sind Karotten. Große oder kleine, aber immer Karotten.
"Von den kleinen bitte!"
Anna lief hinter die Hütte zum Karottenbeet.
Ihre Finger gruben sich in die krümelige Erde. Die Erde war kühl und feucht. Anna zog und rüttelte an der Rübe, bis sie sich freigab. Sie säuberte die Karotte von dem gröbsten Schmutz und grub dann die nächste Karotte aus.
"Wo bleibst du denn so lange?" rief das Erbsenschwein aus seinem kleinen Hüttenfenster.
"Ich komme gleich."
Anna nahm die vier Karotten und lief zur Hütte. Das Erbsenschwein stand an seinem Kochtopf und rührte mit einem großen Kochlöffel darin herum. Es nahm die Karotten von Anna, rieb sie an seinem borstigen Fell ab und schmiss sie in den Topf.
"Die Suppe ist bald fertig. Du kannst schon mal den Tisch decken."
Als Anna und das Erbsenschwein mit dem Essen fertig waren und still nebeneinander saßen, fiel Anna plötzlich wieder das Ungeheuerliche ein, das Angeber-Luzi gesagt hatte.
Dass Anna kein Kind, sondern ein Elefant sei!
"Du, Erbsenschwein."
"Hm?"
"Was denkst du, wer ich bin?"
"Anna!"
"Nein, ich meine, was ich bin?"
"Du bist ein feines Wesen. Das denke ich. Von den anderen besucht mich fast niemand. Deine Eltern dulden mich doch nur, weil ich eine so praktische Ausrede bin, und den anderen bin ich zu eklig."
"Das stimmt doch nicht!"
"Doch. Ich habe es längst bemerkt. Aber es ist nicht so wichtig, so lange ich mein Karottenfeld habe."
"Alle außer Angeber-Luzi mögen dich!"
"Und was ist mit Frau Schmittchen?"
Anna schwieg.
"Na, siehst du. Aber du bist nicht so, du magst mich."
Anna nickte.
"Und was bin ich noch?" fragte sie dann.
"Du bist hilfsbereit, klug, einfallsreich. Vielleicht ein bisschen schweigsam im allgemeinen."
"Ja, aber was noch?" fragte Anna ungeduldig. "Was bin ich denn, so wie ich vor dir stehe?"
"Aufgebracht bist du. Aber das ist ja nicht verwunderlich. So viele Leute um dich herum, und jeder meint besser zu wissen, was gut für dich ist."
"Ja, ja. Aber, bin ich ein Kind?"
"Ein Kind? Natürlich bist du ein Kind! Zumindest nennen es so die Menschen. Weißt du, ich bin ein Erbsenschwein. Und ich würde dich nicht für ein Kind, sondern für ein Erbsenferkel halten. Aber immerhin habe ich die Menschen sagen hören, dass so etwas wie du ein Kind ist."
"Der Angeber-Luzi meint, dass ich kein Kind, sondern ein Elefant!" stieß Anna hervor. Mühsam schluckte sie ihren Kummer hinunter.
"Ich hätte nie gedacht, dass der Angeber-Luzi ein Elefant ist!"
"Doch nicht Angeber-Luzi, sondern ich!" rief Anna ein wenig verärgert. Wie konnte das Erbsenschwein nur so begriffsstutzig sein?
"Ich weiß schon, Anna. Aber woher soll er denn wissen, dass du ein Elefant bist, wenn er nicht selbst ein Elefant ist?"
Anna schwieg verwirrt. "Bin ich nun ein Elefant oder nicht?" fragte sie dann leise.
"Weißt du das nicht selbst? Wir Erbsenschweine wissen immer, wer wir sind."
Das stimmte. Das Erbsenschwein zweifelte nie an sich selbst. Außerdem hatte Anna schon viele Geschichten vom Erbsenschwein gehört, in denen die Erbsenschweine immer die Hauptrolle spielten. Nie wäre es einem Erbsenschwein darin in den Sinn gekommen, kein Erbsenschwein zu sein.
Die Geschichten vom Erbsenschwein gefielen Anna sehr. Es waren viel schönere Geschichten als jene albernen, die sie von Angeber-Luzie und Betrüger-Schorschi gehört hatte. Die Geschichten vom Erbsenschwein hatten Klasse. Anna wusste zwar nicht genau, was das war, "Klasse haben". Aber so etwas stellte sie sich unter dem Wort vor. Die Geschichten waren traurig und schön zugleich. Sie waren spannend. Aber nicht, weil sie einem Gänsehaut machten, sondern weil sie wahr waren.
Die schönste und wahrste Geschichte handelte von dem Geschlecht aller Erbsenschweine. Wenn Anna bedrückt war, erzählte sie sich diese Geschichte. Denn es war zwar eine traurige Geschichte. Aber das Erbsenschwein hatte gelacht, nachdem es Anna diese Geschichte erzählt hatte. Es hatte gelacht, weil es so froh war, eine eigene Geschichte zu haben. Und weil es eine Geschichte war, die sich jederzeit ändern konnte und deshalb auch immer am Anfang stand.
Und diese Geschichte ging so:

Die Geschichte sämtlicher Erbsenschweine
Wir Erbsenschweine sind ein uraltes Geschlecht. Weder der Sauerstoffmangel in der Saurierzeit noch die Kälte der Eiszeit konnten uns etwas anhaben. Wir überlebten die Sintflut. Wir überlebten die Völkerwanderungen und Kriege. Aber was wir wohl nicht überleben werden, das sind die Ohrwürmer. Während unsere riesige Körperfalten uns vor Kälte, Sturm und Kriegsgefahr schützen, bieten sie nun gerade dem Ohrwurm eine hervorragende Lebensbedingung.
Ohrwürmer sehen wie tennisballgroße Weinbergschnecken aus. (An dieser Stelle durfte Anna eine der schweren Hautlappen des Erbsenschweins hochheben und einen Blick auf die Ohrwürmer werfen). Sie machen es sich in unseren Falten gemütlich und ernähren sich von unseren Hautabschilferungen. Der eigentliche Wille der Ohrwürmer ist jedoch, die Welt kennenzulernen. Das wäre an sich nicht schlimm. Da sie sich selbst aber nur äußerst langsam fortbewegen können, zwingen sie uns Erbsenschweine dazu, ihnen die Welt zu zeigen.
Sie säuseln und zirpen einem ständig in die Ohren und verwirren uns Erbsenschweine so, dass wir keinen eigenen Willen mehr haben.
Wenn wir zum Beispiel linkerhand ein leckeres, erntereifes Karottenfeld sehen, zirpen die Ohrwürmer so laut "rechts, rechts, rechts", dass uns Erbsenschweinen gar nichts anderes mehr übrig bleibt als nach rechts statt nach links zu gehen.
Die Ohrwürmer wollen nicht, dass die Erbsenschweine Karotten fressen. Die Erbsenschweine sollen schwach sein. Denn je schwächer das Erbsenschwein, je kleiner der eigene Willen, umso größer die Falten. Und je größer die Falten, umso bessere Lebensbedingungen für die Ohrwürmer.
Das alles ist nicht sehr schön. Denn Erbsenschweine sind von Natur aus sehr sesshaft. Am liebsten würden sie ihr ganzes Leben an einem Ort verbringen und dort Karotten essen.
Doch schlimm, ja sogar lebensbedrohlich ist es für uns Erbsenschweine, dass die Ohrwürmer auch unsere Fortpflanzung verhindern. Denn immer, wenn wir ein Erbsenschwein in unserer Nähe riechen oder sehen, zwingen uns die Ohrwürmer in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Inzwischen gibt es nur noch ganz wenige Erbsenschweine. Und es ist beinahe sicher, dass es uns bald überhaupt nicht mehr geben wird. Warum die Ohrwürmer ein solches Interesse an unserem Aussterben haben, ist uns völlig unklar. Denn mit dem Erbsenschwein stirbt auch der Ohrwurm.
Nur wenn die Ohrwürmer vom vielen Säuseln müde sind und schlafen, können wir Erbsenschweine uns erholen und wieder sattessen. Manchmal schlafen die Ohrwürmer nur einen Tag, manchmal aber auch ein Jahr. In dieser Zeit muss es uns gelingen, ein anderes Erbsenschwein zu finden. Doch da wir Erbsenschweine sehr sesshaft sind, ist auch das äußerst schwierig. Wer weiß denn schon, wann die Ohrwürmer wieder aufwachen und uns weitertreiben, immer weiter in unbekannte Gefilde? Und lohnt es sich innerhalb dieser ungewissen Zeitspanne, sich auf den Weg zu machen?
Das Leben ist ein Abenteuer, weil man nie weiß, wie lange die Karotte noch im Topf schwimmt.

Plötzlich bekam Anna Angst.
Was, wenn die Ohrwürmer in diesem Moment aufwachen würden? Müsste dann das Erbsenschwein sofort aufspringen und weggehen? Was sollte dann sie, Anna, machen? Ihre Eltern waren fast immer weg beim Arbeiten. Betrüger-Schorschi hatte nur noch seine Flupppuppe im Kopf, und Angeber-Luzi hielt sie für einen Elefanten. Ob Frau Schmittchen wohl inzwischen wieder ansprechbar war?
"Du, Erbsenschwein!"
"Hm?"
"Was glaubst du, wann die Ohrwürmer wieder aufwachen?"
"Das kann man nie sagen."
"Hast du denn gar kein Vorgefühl?"
"Doch, meistens schon. Meine Haut fängt dann an zu kribbeln."
"Ich will nicht, dass du weggehst!"
"Ach Anna, du wirst schon wieder jemanden finden."
"Du mußt einfach nicht weggehen. Wenn sie wieder anfangen zu singen, sperre ich dich in die Hütte ein."
"Das geht doch nicht. In so einem Fall würde ich dich sicher davon überzeugen, dass du mir sofort die Türe aufmachen sollst, weil ich einen unstillbaren Karottenhunger hätte. Doch kaum hättest du die Tür aufgemacht, würde ich hinaus- und dahin rennen, wohin mich die Ohrwürmer haben wollen."
"Ich werde dich ganz arg vermissen!"
"Ich werde dich auch vermissen, Anna. Du bist ein gutes Kind, und ich bin sicher, dass deine Krankheit mit der Zeit immer unscheinbarer wird. Iss nur immer schön meine Karotten. Auch wenn ich weg bin. Versprichst du mir das?"
Anna nickte. Es war so schwer, mit einem Erbsenschwein befreundet zu sein. Anna wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tränen von den Wangen und legte ihren Arm um den dicken borstigen Hals vom Erbsenschwein.
Lange saßen sie so zusammen da.

"Es ist schon ganz dunkel," sagte das Erbsenschwein irgendwann. "Ich glaube, du solltest nach Hause gehen. Sei unbesorgt, ich spüre noch kein Kribbeln auf meiner Haut."
Anna machte sich nur ungern los. Langsam stand sie auf, sagte dem Erbsenschwein "Gute Nacht" und ging aus der Hütte.

Als Anna durch den Garten auf die Haustür zulief, bemerkte sie bereits, dass etwas anders war als sonst. Während normaler Weise bei Pops viele Lichter brannten und das Haus hell erleuchtet war, leuchtete heute nur im Esszimmer Licht.
Ein wenig bange schloss Anna deshalb die Haustüre auf. Unter der Esszimmertüre sickerte Licht durch. Gedämpfte Stimmen waren hörbar. Jetzt stieß jemand einen schrillen Schrei aus und lachte ein seltsam wehes Lachen.
Das hörte sich nach Angeber-Luzi an. Mit ungutem Vorgefühl ging Anna auf die Esszimmertüre zu und öffnete sie.
Angeber-Luzi stand mit wirrem Haar und wildem Blick hinter ihren Eltern und keckerte. Ihre Eltern schienen sich sehr unwohl in ihrer Haut zu fühlen.
Annas Vater beugte sich mit dem Oberkörper zum Tisch vor, wahrscheinlich um Angeber-Luzis Atem ein wenig zu entkommen, und musste sich anstrengen, die Balance zu halten. Annas Mutter zog unaufhörlich mit zwei Fingern an einem ihrer Ohrläppchen.
Betrüger-Schorschi, der neben Annas Mutter saß, fixierte Angeber-Luzi argwöhnisch und beobachtete jede seiner Bewegungen.
Selbst Frau Schmittchen, die sich in letzter Zeit von allen zurückgezogen hatte, war auffallend beteiligt und erregt.
"Ha!" rief sie jetzt und zeigte auf Anna, die immer noch im Türrahmen stand. "Da ist ja das Corpus delicti!"
Die anderen drehten ihre Köpfe in Annas Richtung.
"Anna!" rief Annas Mutter. Schnell stand sie auf, lief auf Anna zu und nahm sie in ihre Arme. "Es ist etwas äußerst Unangenehmes passiert! Angeber-Luzi ist verrückt geworden. Er behauptet, du seist ein Elefant!"
Auch Annas Vater trat zu ihnen. "Ich weiß nicht, ob es nicht besser für das Kind wäre, wenn es die ganze Unterhaltung nicht mitbekommen würde. Vielleicht wird das doch ein bisschen zuviel für es."
"Du hast recht", stimmte Annas Mutter ihrem Vater nach einigem Überlegen zu. "Anna, geh doch bitte in dein Zimmer. Wenn sich Angeber-Luzi beruhigt hat, hole ich dich wieder herunter."

Anna ging nur ungern in ihr Zimmer. Aber ihre Mutter hatte so bestimmt gesprochen, dass sie sich nicht getraute, zu widersprechen.
Komisch. Seit Angeber-Luzi sie für einen Elefanten hielt, bemerkten ihre Eltern plötzlich, dass sie noch ein Kind war. Jetzt durfte sie nicht einmal mehr mit anhören, was die anderen über sie sprachen.
Seit langem saß Anna nun wieder einmal in ihrem roten Sessel. Er fühlte sich anders an als früher. Irgendwie fremd.
Anna war es unwohl zu Mute. Wer weiß, was sie sich da unten alles ausdachten? Was war überhaupt ein "Corpus delicti"? Das hörte sich schrecklich an. Wie ein Insekt mit langen dünnen Beinen. De-liii-ctiii - Das Wort zog scheußlich an einem.
Warum durfte sie unten nicht zuhören? Dass sie ein Elefant sein sollte, hatte sie doch bereits gehört! Aber vielleicht fielen Angeber-Luzi ja noch viel schlimmere Dinge ein? Und Betrüger-Schorschi hatte auch so misstrauisch ausgesehen. Vielleicht waren auch ihm seltsame Dinge an ihr aufgefallen? Und Betrüger-Schorschi war sicher nicht verrückt.
Nach längerem Grübeln verstand Anna auf einmal, warum ihre Eltern sie weggeschickt hatten: Weil es ganz schlimm um sie stand, und sie es nicht mitbekommen sollte!
Dass Angeber-Luzi verrückt war, hatte Annas Mutter nur zu ihrer Beruhigung gesagt. Damit Anna nicht bemerken würde, dass in Wirklichkeit sie furchtbar krank war. Vielleicht war sie so krank, dass sie bald sterben musste?
Anna fühlte in ihren Körper hinein. Eigentlich fühlte er sich ganz normal an. Ein wenig kalt vielleicht und ein wenig zittrig. Aber das war bei soviel Aufregung sicher normal.
Oder vielleicht doch nicht? Wenn Anna ehrlich war, wurde ihr Zittern immer stärker und stärker. Es breitete sich von den Händen zu den Armen und den Beinen aus, bis sich ihr ganzer Körper schüttelte. Selbst ihre Zähne schlugen aufeinander.
Anna sprang auf. Sie durchquerte ihr Zimmer, ging durch die Tür, lief über den Flur und ging die Treppen hinunter. Das Zittern wurde dadurch zum Glück etwas besser. Vor der Esszimmertür machte sie Halt und lauschte:

Angeber-Luzi (aufgekratzt): Natürlich haben Sie Anna vorhin weggebracht, damit ich Ihnen nicht beweisen kann, dass sie ein Elefant ist.
Annas Mutter (müde): Aber das stimmt doch nicht. Anna muss sich nicht jeden Blödsinn mitanhören, der hier gesprochen wird. Sie ist schließlich noch ein Kind.
Angeber-Luzi (triumphierend): Das hat Sie doch bisher überhaupt nicht bekümmert! (Da musste ihm Anna recht geben) Schauen Sie doch nur einmal dieses verstaubte Zimmer von Anna an! Ist das etwa ein Kinderzimmer? Kinder, insbesondere Mädchen, lieben rosa-bunte, glitzernde Gegenstände und nicht verstaubte Vorhänge und altmodische Mustertapeten. (Anna seufzte. Was Angeber-Luzi sagte, stimmte einfach.)
Annas Mutter: Ich denke, Sie behaupten, dass es Kinder gar nicht gibt? Woher wissen Sie dann so genau, was Kinder lieben?
Angeber-Luzi: Sie verstehen mich wohl absichtlich falsch! Ich habe Ihnen vorhin langs und breits bewiesen, dass es Kinder gar nicht geben kann. In der Forschungsliteratur steht ganz genau geschrieben, was Kinder lieben und was nicht. Kinder kann man also auch über das definieren, was sie lieben oder nicht. Da das, was Kinder lieben, nirgends vollständig anzutreffen ist, kann es Kinder gar nicht geben. Denn Sie werden mir doch recht geben, dass es nur vollständige Kinder geben kann. Ein Kind ist entweder ganz existierend oder ganz nicht exisiterend. Deshalb: Das Kind als Kind ist eine Illusion. Und Annas Kinderzimmer ist ein eindeutiger Beweis dafür.
Frau Schmittchen: Herr und Frau Pop! Es tut mir so außerordentlich leid, was meine literar-osmotischen Wünsche dieses Mal wieder angerichtet haben!
(Stille)
Frau Schmittchen: Nun, was glauben Sie denn, warum Angeber-Luzi diesen kuriosen Einfall hat? Darauf kam er doch nicht von alleine. Oder ist Ihnen zuvor etwa aufgefallen, dass er so viel Esprit gehabt hätte?
Annas Vater: Das nennen Sie Esprit? Ich würde es eher Wahnsinn nennen.
Frau Schmittchen: Streiten wir jetzt doch nicht um das Wort. Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Es tut mir wirklich aufrichtig leid. Ich weiß zwar nicht, wie es passieren konnte. Denn ich habe meine Wünsche in letzter Zeit eigentlich auf ganz andere Dinge gerichtet. Aber irgendwie muss ich den armen Tropf doch beeinflusst haben.
Angeber-Luzi (fiepsende Stimme, klingt sehr aufgeregt): Das ist ja wohl die Höhe! Ich lasse mir doch nicht von Ihnen meine Idee stehlen! Meine streng wissenschaftliche Erkenntnisse haben mit Ihrer übersinnlichen litarar-osmotischen Methode überhaupt nichts gemein! Sie hätten niemals herausgefunden, dass Anna ein Elefant ist!
Frau Schmittchen: Das stimmt!
Angeber-Luzi: Sie geben es sogar zu! Wenn Sie hier überhaupt irgend etwas bewirkt haben, dann nur, dass Sie lange Zeit verheimlichen konnten, woran dieser Elefant Anna wirklich krankt. Das Leiden des Elefanten besteht eben nicht darin, dass er jede Nacht zum Elefant wird, sondern umgekehrt, dass er sich jeden Tag als Kind ausgeben muss. Aber gerade Sie, Frau Schmittchen, haben ja immer wieder bestritten, dass Anna nachts eine Elefantenhaut bekommt. Und warum? Weil Sie nicht wollten, dass ich herausbekommen kann, was die echte Krankheit der Elefantendame Anna ist! Sie wollen nicht, dass ich mit diesem Fall berühmt werde!
Frau Schmittchen: Ihre Vorwürfe sind ungeheuerlich! In unserer Zunft gibt es zwar nicht den Hippokratischen Eid, aber auch wir verpflichten uns dazu, nur im Sinne unserer Patienten zu handeln.
Betrüger-Schorschi (höhnisch): Wovon wir uns in letzter Zeit ja häufig genug überzeugen konnten. Doch was mich viel mehr interessiert, Angeber-Luzi: Wie sind Sie denn nun wirklich auf diesen Einfall gekommen? Wie Frau Schmittchen bereits gesagt hat, Esprit ist nicht gerade Ihre Stärke!
Angeber-Luzi (zischend): Sie glauben doch wohl nicht, dass ich Ihnen, meinem Erzfeind und größten Konkurrenten, schon wieder die Karten in die Hande spiele? Diesmal gehört die Ehre eindeutig mir! Ich werde aus Anna den Elefanten schon noch herauskitzeln. Und er wird mir, nur mir, auf den Knien danken, dass ich ihn von seiner lächerlichen Kindergestalt erlöst habe.
Betrüger-Schorschi: Das werden wir ja noch sehen. Ich glaube nämlich, dass die Flupppuppe da ihre Finger mit im Spiel hat!
Frau Schmittchen, Angeber-Luzi, Annas Eltern: Flupppuppe? Welche Flupppuppe?
Betrüger-Schorschi: Angeber-Luzi weiß ganz genau, wen ich meine. Er spielt hier den Unschuldigen, Nichtsahnenden. Und nachts, wenn alle schlafen, macht er seine Zimmerfenster weit auf, und lässt die Flupppuppe heimlich hinein.
(Stille)
Betrüger-Schorschi (drohend): Aber ich werde nicht zulassen, dass du dich mit der Flupppuppe aus dem Staube machst. Die Flupppuppe gehört mir! Mir muss die Flupppuppe verraten, wie Anna geheilt werden kann. Und mich muss die Flupppuppe auf ihren zerbrechlichen Beine mit in die Ferne nehmen!
Frau Schmittchen (sachlich): Was für eine Flupppuppe?
Betrüger-Schorschi: Die Flupppuppe weiß alles. Sie kennt unsere Sehnsüchte und unser innerstes Wesen. Denn sie ist die Puppe mit dem fremden Herzen im Leib. Aber sie ist flüchtig. Sie bleibt nirgendwo länger als eine halbe Stunde. Doch jetzt hält offensichtlich Angeber-Luzi die Puppe gefangen, um sie für seine niederen Zwecke zu missbrauchen. Die Flupppuppe soll ihm den Ruhm verschaffen, den er aus eigener Kraft noch nie bekommen konnte.
Angeber-Luzi: Das ist eine infame Lüge. Hören Sie nicht auf ihn! Erinnern Sie sich noch an die Geschichte, die ich Ihnen von diesem betrügerischen Menschen erzählt habe? Die Flupppuppe ist genauso erfunden wie der Putsch des osmanischen Reichs! Aber ich habe es ja geahnt! Hier wird ein ganz hinterhältiges Komplott geschmiedet! Betrüger-Schorschi stiftet dabei öffentlich Verwirrung und Frau Schmittchen intrigiert im Hintergrund. Doch dieses Mal werde ich nicht mehr wie ein tumber Bauer in die Fallstricke dieser ordinären Menschen geraten. Ich werde beide Verschwörer aufdecken, bevor sie Herr und Frau Pop endgültig auf ihre Seite bringen können. Mir gebührt der Ruhm und mir gebührt die Rettung der Elefantendame Anna!

Ende Teil 4.

Fortsetzung folgt in der nächsten Rossipotti-Ausgabe

 

 

 © Rossipotti No. 4, Juli 2004