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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher

 

Rossipottis Leibspeise

Lieblingsbuch

vorgestellt von Helma Hörath

* * *

Das schwarze Buch der Farben

"Wenn du eine andere Welt betrittst, siehst du zuerst einmal schwarz!" sagt Rossipotti. Er hält die Augen geschlossen und fährt mit dem Finger über das Cover eines schwarzes Buchs mit silber-grauem Schriftzug.

"Dann öffne die Augen", sage ich. "Und du wirst erstaunt sein, was es in der anderen Welt noch zu sehen gibt!"

"Das ist keine Frage der Augen!" grunzt Rossipotti. "Sondern der inneren Bereitschaft, sich auf Fremdes einzulassen."

"Sage ich ja", beharre ich. "Und weil du dich nicht einlässt, siehst du nur schwarz."

"Ach was", sagt Rossipotti. "Ich lasse mich mehr ein als du! Ich gehe nämlich nicht mit unseren Vorstellungen in eine andere Welt, sondern vorurteilsfrei."

"Hm?" frage ich verwirrt. "Willst du damit sagen, dass es eine Farbe für vorurteilsfrei gibt und dass diese Farbe schwarz ist?"

"Genau!" sagt Rossipotti. "Schwarz ist die Farbe des allerersten Anfangs! Wenn alles Schwarz um einen ist, spürt man sofort jede Erhebung, jede kleine Abweichung vom bereits Bekannten."

"Aha!" sage ich. "Und was spürst du gerade?"

"Eine Linie", meint Rossipotti. "Nein, zwei Linien, die sich zu einem spitzen Kreis hin öffnen!"

"Spitze Kreise gibt es nicht", sage ich. "Kreise sind bekanntlich rund."

"Eben!" sagt Rossipotti, immer noch mit geschlossenen Augen. "Und damit haben wir den Beweis, dass ich bereits in einer anderen Welt bin, während du immer noch mit unseren bescheidenen Dimensionen kämpfst!"

Ich sehe mir das Cover mit dem Titel Das schwarze Buch der Farben genauer an und bemerke, dass sich von dem matten, schwarzen Grund eine glänzende, schwarze Silhouette abhebt. Die Silhouette stellt Gras, einen Grashüpfer und Blätter dar.
"Was du gerade gefühlt hast", erkläre ich Rossipotti, "war kein spitzer Kreis, sondern ein ganz normales Blatt!"

"Psst!" sagt Rossipotti. "Du störst mein Versinken in andere Dimensionen!"
Er schlägt das Buch auf und fährt über eine Zeile Blindenschrift, die, wie ich weiß, nach seinem Erfinder auch Braille-Schrift heißt.

"In der Dimension der spitzen Kreise gibt es kleine, schwarmartig auftretende Punkte", fährt Rossipotti mit seinen Betrachtungen fort. "Sie treten in einer Spur auf. Vielleicht eine Art armeeartig auftretender Insekten?"

"Sicher", sage ich, denke aber genau das Gegenteil.

Rossipotti gibt ein zufriedenes Grunzen von sich und blättert das Buch um.
Ich sehe mehrere schwarz-glänzende Federn, die sich von dem matten Grund abheben.

"Die inseketenartige Armee trifft auf längliche Raumschiffe", übersetzt Rossipotti mir seine Version der Geschichte. Er blättert weiter, fährt mit seinen Fingern über die Erhebungen im Papier und erfindet: "Die Raumschiffe treffen auf einen großen und zwei kleinere Sterne. Sie überlegen, ob sie darauf landen sollen."

"Interessant", sage ich und schaue mir die drei glänzenden Erdbeeren an, die Rossipotti für Sterne hält.
Leise lese ich die silber-graue Schrift, die auf der gegenüber liegenden Seite steht:

Die Farbe Rot ist so süß wie eine Erdbeere und so saftig wie die Wassermelone, und sie tut weh, wenn sie aus seinem abgeschürften Knie quillt.

Ich verstehe zwar nicht, wessen Knie abgeschürft ist und von wem hier die Rede ist. Aber ich bin mir sicher, dass dieser jemand blind sein muss und sich die Welt ganz anders zusammen setzt als wir Nicht-Blinden es tun.
Während wir die Farben mit den Augen wahrnehmen, verknüpft ein Blinder Farben anscheinend mit seinem Geruchs-, Schmeck- oder Tastsinn.

"Die Raumschiffe bekommen Besuch", sagt Rossipotti erregt. "Ob der Besuch freundlich gesinnt ist oder nicht, kann man noch nicht erkennen."
Er blätter weiter und fährt mit dem Finger über einen Drachen, der an einer langen Schnur befestigt ist.
"Ein unbekanntes Objekt kreuzt den Weg", stellt er fest. "Der Tentakel eines gräßlichen Sternungeheuers?"

"Thomas sagt, dass Blau die Farbe des Himmels ist, wenn die Sonne seinen Kopf wärmt", lese ich laut.

"Ist Thomas das Ungeheuer?" fragt Rossipotti. "Komischer Name für ein Ungeheuer."

"Quatsch", sage ich. "Thomas heißt wahrscheinlich der Blinde, der die Erdbeere gegessen hat!"

"Welcher Blinde?" fragt Rossipotti irritiert. "Und welche Erdbeere?"

"Wusstest du nicht, dass man mit dem Buch die Welt der Blinden erfahren soll?"

"Hä? Warum das denn?" sagt Rossipotti. "Die Buchhändlerin, die mir das Buch verkauft hat, meinte, dass ich damit ganz sicher in eine andere Welt käme. Ich müsste nur immer die Augen geschlossen halten."

"Dann hat sie vergessen, dir zu sagen, dass das nur richtig funktioniert, wenn dir das Buch gleichzeitig jemand vorliest."

"Es hat richtig funktioniert, bis du mit Thomas und der Erdbeere angefangen hast", meckert Rossipotti.

"Nur, dass deine Raumfahrt-Geschichte nichts mit Thomas' Geschichte zu tun hat."

"Na und?" sagt Rossipotti. "Hauptsache, ich habe eine andere Welt erkundet. - Aber jetzt hast du alles verpfuscht!"

"Du kannst ja immer noch auf die Blindengeschichte umsteigen", schlage ich vor. "Dann erkundest du neben dem Universum noch eine weitere Dimension."

"Also gut", sagt Rossipotti gnädig. "Wie geht's mit Thomas und den Erdbeeren weiter?"

Rossipotti tastet das nächste Blatt ab und ich lese dazu:
"Aber der Himmel wird weiß, wenn die Wolken beschließen, ihn zuzudecken, und es zu regnen beginnt."

"Hm", macht Rossipotti, "Regentropfen. Wahrscheinlich fallen sie gerade auf die Erdbeeren von davor."

"Weiter?"

Rossipotti nickt und blättert um.

"Sobald die Sonne hervorlugt, um die Tropfen fallen zu sehen, eilen alle Farben herbei, um einen Regenbogen zu malen."

"Wenn ich richtig fühle", meint Rossipotti. "Ersetzen die Erdbeeren im Regenbogen die Farbe Rot und die Raumschiffe Gelb?"

"So ungefähr", sage ich. "Nur dass die Raumschiffe eigentlich Federn sind."

Gemeinsam lesen wir das Buch bis zum Schluss. Rossipotti mit geschlossenen Augen, still in sich versunken. Ich vorlesend und die schlichten, schwarzen, reliefartigen Bilder betrachtend.

Als wir das Buch schließen, öffnet Rossipotti die Augen und sagt:
"Ich weiß nicht, ob man mit dem Buch wirklich eine andere Welt betritt, wenn man es so liest, wie es vorgesehen ist. Man bleibt zu sehr am Papier und den eigenen, schon vorhandenen Vorstellungen kleben. Vorhin, mit den Raumschiffen, das hat gefetzt! Aber mit dir als Vorleser, schien mir eher, als ob ich damit blind werde."

Menena Cottin/Rosana Faria: Das schwarze Buch der Farben. Fischer Schatzinsel. Frankfurt a. Main 2008.

 

* * *

Ein neues Land

"Es gibt ein Buch, das einen viel besser in fremde Gegenden führt", sagt Rossipotti und legt Das Schwarze Buch der Farben zur Seite. "Ein neues Land von Shaun Tan."

"Argh!", mache ich und ein Schauer läuft durch meine Gräten. "Ist das etwa dieses düstere, braun-grau-gelbliche Comic-Buch mit den monumentalen Bildern?"

"Stimmt", sagt Rossipotti. "Oder anders ausgedrückt: Diese fantastische Graphic Novel mit riesigen Gebäuden, dunklen Fabriken, seltsamen Gegenständen und Ungeheuern!"

"Aber das Buch ist für Erwachsene gedacht!"

"Na und?" meint Rossipotti. "Nur, weil Erwachsene immer weniger lesen und immer häufiger Bilderbücher anschauen wollen, heißt das noch lange nicht, dass Kinder umgekehrt keine Bilderbücher mehr anschauen dürfen. Immerhin kommt Ein neues Land ohne jeden Text aus und kann deshalb sogar schon von Kleinkindern verstanden werden."

"Aber die Bildsprache ist viel zu alptraumhaft und erwachsen", werfe ich ein.

"Pah!" macht Rossipotti. "Sogar die Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises hat das Buch zum Bilderbuch des Jahres 2009 vorgeschlagen."

"Seit wann interessiert dich, was diese Jury zu sagen hat?" frage ich verwundert.

"Seit gerade", sagt Rossipotti. "Ich kenne dich und weiß, dass du unter diesen Umständen das Buch sehr gerne vorstellen möchtest."

Ha, ha!
Rossipotti soll ruhig seine Witze reißen.
Mich interessiert gerade viel mehr, was Kinder wirklich an dem Buch spannend finden könnten? An der Geschichte eines Mannes, der seine Familie verlässt, um in ein neues Land zu emigrieren, weil er zu Hause von Drachenschwänzen verfolgt wird? Und der in dem neuen Land andere Emigranten kennen lernt und sich seltsame Speisen kocht?
Ist es vielleicht das Happy End, was das Buch auch zu einem Kinderbuch macht? Zumindest für einen erfahrenen Fisch kommt das Buch deshalb insgesamt zu kitschig rüber.
Oder weiht das Buch nebenbei Kinder mit seinen merkwürdigen, unverständlichen, bedrückender Szenen in die andere Welt der Erwachsenen ein?
Oder ist es nur deshalb auch ein Kinderbuch, weil der Verlag dann einen größeren Absatzmarkt hat?

Rossipotti räuspert sich auffallend laut und fragt: "Hast du jetzt einen Blick für die surrealen Bilder bekommen? Und hast du bemerkt, dass sie einen beinahe magisch ins Bild ziehen?"

"Und die Kinder?" frage ich, immer noch meinen vorigen Gedanken nachhängend. "Was ist mit den Kindern?"

"Kinder sind auch nur Menschen", stellt Rossipotti fest.

Ich nicke, unfähig eine differenziertere Antwort zu geben.

"Dann schreib' auf!" grunzt Rossipotti: "Shaun Tans Bilderbuch Ein Neues Land verfremdet durch neu erfundene Gegenstände, Häuser und Sitten den Blick auf gewohnte Handlungen. Dadurch zwingt er den menschlichen Betrachter, die schon oft gehörte Geschichte einer Emigration mit ganz neuen Augen zu sehen. Auch die auffallenden Perspektiven, die mal nur eine zerbrochene Kanne oder das Bullauge eines Schiffs und dann wieder riesige Panoramen von ganzen Traumstädten zeigen, versetzen einen in eine merkwürdig vertraute und doch andere Welt ..."

Shaun Tan: Ein neues Land. Carlsen Verlag. Hamburg 2008.

 

* * *

Elfensucher. Nachforschungen über das Leben und Verschwinden von Isaac Wilde

"Wir brauchen mehr Esprit", sage ich. "Unsere Diskussionen enden heute immer im Irgendwo."

"Nur zu", sagt Rossipotti. "Ich habe nichts dagegen, wenn du zur Abwechslung mal einen guten Einfall hast."

Der Sache willen überhöre ich Rossipottis bissige Bemerkung und sage:
"Es liegt nicht an mir, dass die Diskussion nicht richtig in Schwung kommt. Du bist heute viel zu zahm. Wie soll ich dir da kontra bieten?"

"Das Thema gibt nichts anderes her", sagt Rossipotti. "Und weißt du auch, warum?"
Er schaut mich bedeutungsvoll an, beugt sich vor und grunzt mir leise ins Ohr: "Weil wir uns mit den anderen Welten gut stellen müssen! Sonst kommen sie und rächen sich an uns."

Ich beuge mich mit dem Kopf zurück und sehe Rossipotti erstaunt an. "Das glaubst du doch wohl selbst nicht?!"

"Ich habe schon Dinge erlebt, da würde dir Hören und Sehen vergehen", sagt Rossipotti mit Kennermiene.

"Was denn zum Beispiel?"

"Zum Beispiel ...", sagt Rossipotti und dehnt dabei die Worte lang, "... bin ich vor ein paar Tagen nachts aufgewacht, weil es mich an meinem ganzen Leib gekitzelt hat. Ich sehe nach und was entdecke ich? Eine Horde Minkpinkler, die sich meine Schuppen abschneiden wollten! Sie hatten von den Schluckkrappern erfahren, dass ich nicht an ihre Existenz glaubte. Und das nur, weil ich sie noch nie gesehen hatte!"

"Minkpinkler und Schluckkrapper?" frage ich. "Sind das Gestalten aus deinen Alpträumen?"

"Ach was, Alpträume!" winkt Rossipotti ab. "Hier, keine drei Meter von dir entfernt leben die Minkpinkler! Wie ich seit neulich Nacht weiß, sind Minkpinkler kleine, wurmartige Wesen, die unter dieser Fußleiste da leben. Und Schluckkrabber sind krabbenförmige, sehr intelligente, aber ungefährlich winzige Kobolde, die es sich hinter meiner Regalwand gemütlich eingerichtet haben."

"Und warum habe ich dann noch nie einen gesehen oder gehört?"

"Weil du nie zur richtigen Uhrzeit hier bist", sagt Rossipotti. "Sie erwachen erst so um 1 oder 2 Uhr nachts zu Leben. Davor schlafen sie oder bewegen sich so langsam, dass man sie nicht hört. - Aber wenn du die Fußleiste oder die Regalwand wegmachst, kannst du sie auch bei Tag sehen."

"Was ich aber sicher nicht mache werde", sage ich und glaube Rossipotti selbstverständlich kein Wort. "Deshalb hast du mir ja auch den Vorschlag gemacht."

"Du erinnerst mich an Gayle", sagt Rossipotti und sieht mich mitleidig an. "Der wollte selbst dann nicht an Elfen glauben, als er direkt vor ihnen stand."

"Was für ein Gayle?" frage ich misstrauisch. "Ein Bekannter von dir?"

"Nicht von mir, aber von Isaac Wilde", sagt Rossipotti. "Das war ein Fotograf, der vor ungefähr 120 Jahren Nachforschungen über Elfen angestellt hat und ein paar davon sogar fotografiert hat!"

"Elfen?" frage ich ungläubig. "Fotografiert? Das sind Fantasiewesen. Die kann man doch gar nicht fotografieren!"

"Wenn man die richtige Brille aufhat, schon", meint Rossipotti. "Hier ist der Beweis!"

Rossipotti zieht ein Buch unter dem Sofa hervor und zeigt mir mehrere, alte, beinahe schon vergilbte Fotografien darin. Eine zeigt eine Brille mit zwei löchrigen Steinen, mit der man angeblich Elfen sehen kann. Eine andere einen seltsamen, runden Gegenstand aus Holz, der Einlagen aus Stein, Knochen und Blei hat. Rossipotti erklärt mir, dass das runde Holzteil ein Weghexer sei, mit dessen Hilfe man Menschen weghexen könne.
Auf den aufregendsten Fotos kann man aber wirkliche Elfen sehen!
Die Elfen sehen auf diesen Fotografien ganz anders aus, als sie in Filmen oder Büchern dargestellt werden. Mehr wie kleine Zwerge. Allerdings scheinen diese echten Elfen hier wie die fiktiven Elfen auch nebel- oder lichtartige Geschöpfe zu sein.
Oder sind die Elfen auf den Fotos doch nicht echt und in diesem Buch ist auch alles nur erfunden?
Aber wie konnte man die Fotos fälschen, wenn sie mit der bekannten fälschungssicheren Fototechnik, der sogenannten Daguerreotypie, hergestellt wurden?
Ich schaue Rossipotti zweifelnd an und überlege mir, wo der Haken sein könnte?

Rossipotti scheint zu merken, dass ich zwischen Glauben und Unglauben schwanke. Denn er sieht mich intensiv an und sagt:
"Ich rate dir, alles, was du in dem Buch liest, zwar zu glauben, aber nicht zu wörtlich nehmen."

"Wie meinst du das?" frage ich verwundert.

"Wenn du es nicht glaubst, endest du wie Gayle", erklärt Rossipotti. "Und wenn du es zu wörtlich nimmst wie Wilde. Ich sage es nicht gern: Aber beide verschwanden für immer aus unserer Welt."

David und Ruth Ellwand: Elfensucher. Nachforschungen über das Leben und Verschwinden von Isaac Wilde. Patmos Verlag/Sauerländer. Düsseldorf 2009.

* * *

Expedition in die geheime Welt der Drachen

Obwohl ich Rossipottis Warnung durchaus ernst nehme, weiß ich nicht, ob ich dem Autor des Buchs Elfensucher trauen kann und er tatsächlich echte Elfen fotografiert hat.
Schließlich sprießen zur Zeit Bücher, in denen behauptet wird, dass es Zwerge oder irgendwelche Fabelwesen wirklich gibt, wie Pilze aus dem Boden.
Andererseits kommen die anderen Bücher alle ohne Fotos aus und sind schnell durchschaubar: Irgendein Autor behauptet, Forscher einer bestimmten Spezies zu sein und versucht, die Existenz der Fabelwesen mit Zeichnungen, lächerlichen Geschenkpapieren und Glaskugeln, die Haut und Augen des Fabeltiers darstellen sollen, zu beweisen. Die Ideen sind zum Teil ganz witzig oder inspriert, aber wissenschaftlich gesehen eine Katastrophe.
Oh! Da kommt mir plötzlich eine Idee, wie ich heraus bekommen kann, ob mich Rossipotti mit dem Elfenbuch, den Minkpinklern und Schluckkrappern angeschmiert hat: Wenn Rossipotti nämlich behauptet, dass die vielen anderen Bücher über Fabeltiere auch alle stimmen, habe ich ihn überführt und muss nicht länger an die Existenz von Elfen, Minkpinkler und Schluckkrappern glauben!

"Was hältst du davon, wenn wir das Buch Expedition in die geheime Welt der Drachen vorstellen?" setze ich meinen Plan gleich in die Tat um und hoffe, dass Rossipotti anbeißt.

"Gerne", sagt Rossipotti und hat damit meinen Köder ohne Probleme gefressen. "Das Buch beschreibt das Leben der Drachen sehr ausführlich und aus verschiedenen Perspektiven. Es wirkt dadurch viel fundierter als das Elfenbuch."

"Stimmt!" gebe ich Rossipotti gegen meine eigentliche Überzeugung Recht und habe dabei das Gefühl, Rossipotti fast schon überführt zu haben. "Besonders die naturkundlichen Beschreibungen wirken sehr überzeugend. Es sieht unglaublich echt aus, wie das Skelett, die Muskeln und die Haut beschrieben wird. Und sogar die Heranreifung des Drachenembryos in einem herausklappbaren Ei wird gezeigt!"

"Ja, solche Spielerein erfreuen das Publikum", sagt Rossipotti ernst. "Sicher bist du bei den Stückchen Haut und dem Drachenauge auch ganz aus dem Häuschen geraten?"

"Natürlich!" behaupte ich und hoffe, Rossipotti damit endlich ganz aus der Reserve zu locken. "Das beweist doch eindeutig, dass es Drachen gibt!"

"Schwachsinn!" sagt Rossipotti unerwartet und stößt mir damit gewaltig vor den Kopf! "Das beweist gar nichts. Hast du nicht bemerkt, dass die Häute aus Papier nachgemacht sind und das Auge aus Glas ist?!"

"Ich schon", gebe ich mich zu erkennen. "Aber ich dachte, dass du darin alles für bare Münze nimmst. Heißt das etwa, dass du gar nicht an die Existenz von Drachen glaubst?"

"Pah, glauben!" sagt Rossipotti. "Ich weiß, dass es Drachen gibt! Schließlich bin ich selbst eine Art Drache. Aber die echten Drachen sind ziemlich anders als in dem Buch. Drachen können zum Beispiel nicht gezähmt werden. Geschweigen denn, dass man auf ihnen reiten könnte. Unabhängig von den albernen Häuten merkt man auch schon an dem überheblichen, pseudo-witzigen Tonfall, dass in dem Buch vieles nicht stimmt."

So ein Mist! Wenn Rossipotti das Buch für einen Witz hält, kann ich ihn auch nicht überführen und bin so klug wie zuvor: Gibt es Elfen, Minkpinkler und Schluckkrapper oder nicht?

"Aber warum wolltest du das Buch dann vorstellen?" frage ich mit einem letzten, kleinen Hoffnungschimmer, Rossipotti doch noch in die Falle locken zu können. "Wolltest du etwa so tun, als ob auch in dem Buch alles stimmt?"

"Wie kommst du denn darauf?" fragt Rossipotti verwundert. "Du wolltest das Buch doch vorstellen! Und ich habe dir aus zwei Gründen gerne zugestimmt: Erstens eignet sich eine Besprechung dieses Buchs ganz gut, um die neugierigen Leser von den echten Drachen abzulenken. Und zweitens ist das Buch eine wunderbare Vorlage, selbst ein Drachen- oder Fabelwesenbuch zu machen. Man braucht nur Papier, Stifte, unterschiedliche Stoffe und Kleber, und schon kann man siche eine ganz eigene Fabelwelt erfinden! Was will man von einem Buch mehr?"

Dugald A. Steer/ B.A. (Brist)/S.A.S.D.: Dr. Ernest Drake. Expedition in die geheime Welt der Drachen. arsEdition. München 2004.

* * *

Die Insel

"Es macht sicher Spaß, sich eine eigene Welt auszudenken", nehme ich Rossipottis Idee von gerade auf. "Dann kann man alles so einrichten, wie man will."

"Was würdest du denn wollen?" fragt Rossipotti interessiert.

"Eine Welt, in der man keine Fische isst", sage ich, ohne lange nachzudenken.

"Gräßliche Vorstellung", sagt Rossipotti. "Und sonst?"

"Eine Welt, in der alles gut ist", sage ich. "Eine Welt, in der das Wasser klar und die Luft nicht verschmutzt ist und in der alle friedlich zusammen leben."

"Also eine Welt, in der Gott keine Fehler gemacht hat", sagt Rossipotti etwas unvermittelt. "Ein Paradies."

"In meiner Welt gibt es den Begriff Gott und Paradies gar nicht", sage ich. "Fische leben aus eigener Kraft."

"Dann sagen wir eben Utopie", sagt Rossipotti. "Gibt es in deiner Utopie Menschen?"

"Eher nicht", sage ich. "Wozu auch?"

"Als Leser unseres Magazins", sagt Rossipotti.

"In meiner guten, neuen Welt braucht man keine Magazine und Bücher mehr", sage ich. "Da beschäftigt man sich mit den wirklich wichtigen Dingen des Lebens."

"Und die wären?"

"Essen, Trinken, Schlafen, Fortpflanzen und Unterhalten", sage ich.

"Und worüber unterhält man sich, wenn man den ganzen Tag nur schläft, trinkt, isst, Kinder bekommt und sonst nichts weiter passiert?" fragt Rossipotti.

Ich gebe zu, das ist ein Problem.

"Ich glaube, ohne ein paar Attraktionen kommst du in deiner guten Welt vor Langeweile um", fährt Rossipotti fort. "Wie wäre es mit ein paar richtig guten Büchern?"

Rossipotti will meine Utopie mit einem Zug schachmatt setzen. Aber nicht mit mir. Ich werde sie mit allen mir zu Verfügung stehenden Argumenten verteidigen!
Es fragt sich nur, mit welchen?

"Ich habe hier ein Buch von Terry Pratchett, das dir bei der Entwicklung einer eigenen Welt helfen kann", sagt Rossipotti. "Der Autor versucht genau das Gleiche wie du."

"Wohl kaum", sage ich und sehe auf das blaue, dicke Buch mit dem Titel Die Insel. "Dort geht es doch nicht um die Schöpfung einer neuen Welt, sondern darum, wie man sich einrichtet, wenn man der einzige Überlebende nach einer Flutkatastrophe ist."

"Ja, schon", sagt Rossipotti. "Aber das macht keinen großen Unterschied. Genau so wie du mit deinem Vorwissen eine neue Welt bastelst, versucht der Junge Mau sich nach der Flutwelle eine neue Weltordnung aufzubauen. Die Flutwelle hat nämlich nicht nur seine Familie, Nachbarn und Freunde, sondern auch seinen Glauben an die alten Werte und religiösen Handlungen weggespült. Jetzt ist er alleine auf der Welt und kann sich entscheiden, wie er sie einrichten will."

"Aber nicht lange", entgegen ich. "Kein zwei Tage später stört ihn doch schon das englische Mädchen, das sich als Erbprinzessin herausstellt. Und obwohl sie sehr tolerant ist, bringt sie ihre eigenen Sicht auf die Dinge ein und beeinflusst Mau erheblich. Da ist nichts mehr mit tabula rasa und freier Weltenschöpfung!"

"Doch", widerspricht Rossipotti. "Und zwar, weil sich die beiden Jugendlichen im Gegensatz zu den meisten - oder allen? - anderen Robinson Crusoe Geschichten nicht bekriegen, sondern tolerieren. Dadurch setzen sie ganz neue Kräfte, Gedanken und Mechanismen frei. Das ist auch das Faszinierende an dem Buch: Dass das Zusammenleben grundlegend neu gedacht und auf das neue Fundament der Freundschaft und des gegenseitigen Vertrauens gestellt wird."

"Also ist eine gute Welt doch denkbar, die nicht langweilig zu sein braucht", sage ich zufrieden. Terry Pratchett hat mich aus der schachmatten Situation gerettet. Danke!

"Langweilig vielleicht nicht", gibt Rossipotti zu. "Aber sicher zu schön, um wahr zu sein."

Terry Pratchett: Die Insel. Manhattan in der Verlagsgruppe Random House. München 2009.

* * *

Jasmin Behringer. Ich und die Kanzerlin

"Weißt du, welcher Aspekt uns bei den Besprechungen noch völlig fehlt?" fragt Rossipotti, ohne ernsthaft auf eine Antwort zu warten. "Der reale!"

"Ich denke, die Elfen und Drachen waren real?" frage ich lauernd. Gibt Rossipotti jetzt endlich zu, dass er vorhin nur geflunkert hat?

"Ich meine real nicht im Sinne von echt existierend", sagt Rossipotti, "sondern im Sinne von schnöde sichtbar, für jeden erfahrbar und nachvollziehbar."

"Also die normale Wirklichkeit", sage ich. "Aber passt das überhaupt zum Thema unserer Ausgabe?"

"Natürlich!" sagt Rossipotti. "Schon wenn ich meine Nachbarn besuche, betrete ich eine andere Welt. Kennst du zum Beispiel nicht Harry Brunz von nebenan? Der schläft zwischen lauter Motorrädern, weil er keine Werkstatt hat. Oder bei Frau Petersen steht ihr toter Hund ausgestopft auf dem Fernseher!"

"Komische Nachbarn hast du", sage ich. "Das hört sich in meinen Ohren nicht gerade real an."

"Willst du damit sagen, dass deine Nachbarn realer sind als meine?" fragt Rossipotti. "Eine literarische gebildete Qualle und ein sprechender Pudding?!"

Ich versuche, unsere Diskussion in fruchtbarere Bahnen zu lenken und frage deshalb: "Und welches Buch möchtest du unter diesem wirklichkeitsnahen Aspekt vorstellen? Das Leben der anderen?"

"Ach was", winkt Rossipotti ab. "Das ist doch ein Film für Erwachsene."

"Dann vielleicht das Buch Andere leben anders von Richard Kirn und Chlodwig Poth?"

"Ha, ha", meint Rossipotti, "auf diese Erfindung falle ich nicht rein."

Von wegen Erfindung. Das Buch gibt's tatsächlich. Aber das brauche ich Rossipotti jetzt nicht verklickern, weil ich eh keine Ahnung habe, wovon es handelt.

"Wir stellen Jasmin Behringer. Ich und die Kanzlerin vor", bestimmt Rossipotti. "Besser gesagt: Du stellst das Buch vor!"

"Ich?" frage ich perplex. "Warum ausgerechnet ich?"
Ich denke an den schmalen, weißen Band, der die Gedanken und Eindrücke der 14 jährigen Jasmin enthält und sage: "Ich kann mich überhaupt nicht in ein pubertierendes Mädchen versetzen, das Kanzlerin werden will."

"Der Autor des Buchs, Martin Baltscheit, offensichtlich auch nicht", sagt Rossipotti. "Das sind also schon mal gute Voraussetzungen."

"Aber ich interessiere mich weder für die Farbgebung im Kanzleramt, noch für die sich streitenden Parlamentarier!" versuche ich mich aus der Affäre zu ziehen. "Und es ist mir auch völlig egal, ob die Kanzlerin der hochtrabenden Praktikantin Jasmin Behringer zulächelt oder nicht!"

"Prima", sagt Rossipotti. "Dann bist du genau richtig für den Job! Denn dann hast du offensichtlich noch genug Distanz zum Zentrum der Macht und einen erfrischend anderen Blick auf die Dinge. Martin Baltscheit scheint die Distanz während seines eigenen Praktikums im Kanzleramt etwas verloren gegangen zu sein."

"Hmpf" mache ich, schnappe mir aber trotzdem das charmant nach einem Notizbuch aussehende Buch Martin Baltscheits, der darin das gefakte Praktikum der gefakten Jasmin Behringer beschreibt.
Als ich es aufklappe, fällt mir aus dem hinteren Buchdeckel ein kleines, blaues Büchlein entgegen. Stimmt, das hatte ich ganz vergessen! Auch Jasmins fiktiver Bruder, ein angeberischer, auf naiv getrimmter, siebenjähriger Junge, darf sich zu Wort melden. Das Bruder-Büchlein soll wohl witzig rüber kommen, aber auf mich wirkt es eher wie die verzweifelte Beigabe einer Auftragsarbeit.
Aber ich möchte gar nicht weiter meckern, denn es ist eine unausgesprochene Regel zwischen Rossipotti und mir, dass wir nur Bücher vorstellen, die uns gefallen.
Also: Hm ...
Was gefällt Rossipotti eigentlich an dem Buch?
Dass Zoran Drvenkar es davor angeblich korrigiert hat?
Oder schmeckt Rossipotti die blaue Courier-Schrift des Texts?
Oder ist er froh, dass der Autor Martin Baltscheit während der einen Woche im Kanzleramt nicht viel mehr herausbekommen hat, als Rossipotti selbst in zwei Stunden am Tag der offenen Tür?
Oder wurde Rossipotti von Martin Baltscheit bestochen, eine Rezension zu schreiben? Ja, so muss es sein!
Ich stelle mir vor, wie Rossipotti im Cafe sitzt, als Martin Baltscheit die Tür öffnet. Sein Blick fällt auf das rote Krokodil, vor Überraschung stolpert er und fällt der Länge nach auf den Boden. Rossipotti hilft ihm auf und Martin Baltscheit ist so gerührt, dass er Rossipotti eine riesengroße Schokotorte bestellt. Während Rossipotti die Schokotorte verspeist, erzählt ihm Martin Baltscheit, dass ihm das Buch Jasmin Behringer große Bauchschmerzen verursacht, weil er darin nicht die Wahrheit über Angela Merkel, ihren Bunker und ihre Mitarbeiter erzählen durfte. Der Bundesnachrichtendienst habe ihm das ganze Manuskript durchgestrichen, und fast nur das darin gelassen, was eh schon alle wussten. Und dann habe ihn auch noch der Verlag gezwungen, Zitate aus Wikipedia einzubauen, damit es jungen Lesern besser gefalle. Aber dadurch wirke jetzt sein Buch nicht nur anbiedernd, sondern verliere auch an Glaubwürdigkeit! Jedes Kind wisse heute außerdem, dass in dem Lexikon nur die halbe Wahrheit stünde.
Als Rossipotti seine Torte aufgegessen hat, rülpst er und legt seinen Arm um Martin Baltscheits Schulter. "Mach dir nichts draus", sagt er. "Manchmal zwingen einen einfach die äußeren Umstände, Dinge zu schreiben, hinter denen man nicht steht. Die Torte war übrigens wirklich lecker. Dafür bekommst du eine gute Rezension in meinem Magazin. Ich werde den Fisch schon auf deine Linie bringen."
"Aber warum kannst du die Besprechung nicht selbst schreiben?" fragt Martin Baltscheit verzweifelt.
"Weil es dafür schon zwei Schokotorten geben müsste!"

Plötzlich steht Rossipotti hinter mir und liest über meine Schulter die Rezension.
"Prima!" sagt er. "Dein Text gefällt mir wirklich gut! Und weißt du auch warum? Weil man darin so gut wie nichts über Baltscheits Buch, aber sehr viel über dich und deine eigene Vorstellungswelt erfährt!"

Martin Baltscheit: Jasmin Behringer. Ich und die Kanzlerin. Boje Verlag. Köln 2009.

Lieblingsbuch

vorgestellt von Helma Hörath

Trinbagonen in Potsdam

Irgendwann im September saß ich an einem Sonntagnachmittag in unserem herbstsonnendurchfluteten Wohnzimmer und blätterte in der Zeitung. Da blieben meine Augen an folgender Überschrift hängen: "Trinbagonen in Potsdam". Was für eine Schlagzeile!
Ich glaubte im ersten Augenblick, meine Fantasie würde wie ein wilder Hengst mit mir durchgehen oder hätte vielleicht in einem gerade durchschmökerten Fantasy-Buch gewurzelt. Nein, nein, da stand wirklich etwas von Trinbagonen. Aber ehrlich, klingt das nicht nach Raumschiff Enterprise, nach Ritter der Artusrunde, nach einem längst verschollenen Volksstamm im Regenwald?
Alles klärte sich dann ganz einfach, als ich weiter las.
Die Trinbagonen sind Musiker und kommen von den karibischen Schwesterinseln Trinidad und Tobago. Leider konnte ich mir das Konzert nicht anhören. Aber meine Gedanken wanderten sofort um unsere halbe Erdkugel in die Karibik. Es ist eine Welt, die ich nur von der Landkarte oder von Reiseberichten kenne, also, überhaupt nicht, und ich würde sie doch gerne richtig kennenlernen wollen. Wenn ich die Augen schließe, dann höre ich schon die Blechtrommeln, die aus leeren Metallfässern hergestellt wurden. Ein schneller Rhythmus, der zum Tanzen anregt. Hörst du sie auch, die karibischen Klänge? Bedrohlich? Ach, nein. Fremd? Ja. Aber schön, finde ich.
Alles Unbekannte kann Angst machen, fördert aber auch die Fantasie oder die Neugier und gehört in die andere Welt, die Welt, die man nicht jeden Tag um sich hat, in die man möglicherweise auch keinen Schritt setzen möchte und die einen doch sehr, sehr interessiert, die man vielleicht nicht sieht, die man nur fühlt oder nur hört, die man aber auf jeden Fall noch erobern möchte, die man erforschen, sich erschließen möchte. Und jeder Mensch hat auf all diese anderen Welten eine eigene, seine Sicht. Aus dieser Blickrichtung suchte ich die Bücher zum aktuellen Rossipotti-Thema heraus und biete dir damit auch ein Stückchen meiner Deutungen dieser anderen Welten.
Von der Karibik, der Inselwelt Mittelamerikas, lade ich dich ein, mit mir entweder noch viel weiter westwärts zu springen oder wieder nach Europa zurück und von dort aus direkt in die aufgehende Sonne hinein, ganz weit nach Osten. Da gibt es ein riesiges Land, in dem alle unsere Märchen entstanden sein sollen, in dem Tiger und Elefanten leben und in dem Mogli seinen Bären-Freund Balu fand.

Pooja - das Elefantenmädchen

Wenn dich ein Elefantenrüssel durchkitzelt …
… dann bist du im indischen Dschungel oder du hast das Buch mit Poojas Erzählung aufgeschlagen. Pooja - ausgesprochen Puudscha - ist ein indischer Name und bedeutet so viel wie Verehrung oder auch Anbetung der Götter. Auf dem Titelbild erkennst du aber, dass das Mädchen blond und blauäugig ist. Es ist also ganz augenscheinlich keine Inderin und doch zeigen die großformatigen, wirklich beeindruckenden Fotos, dass es durch einen dicken Draht seines Herzens ganz eng mit den Elefanten, seinen Lieblingstieren, verbunden ist. Nur einen Teil des Jahres lebt Pooja in Deutschland, die Wintermonate verbringt sie mit ihren Eltern immer im Süden Indiens, ganz in der Nähe des Mudumalai-Nationalparkes. Dort leben in freier Wildbahn die Elefanten, die größten auf dem Land lebenden Tiere.
Pooja erfährt von Subbu, dem Fährtenleser, alles über die Dschungelwelt und über die Bedeutung der Elefanten für die indischen Menschen. Es sind für sie heilige Tiere. Sie gelten als Sinnbild des Elefantengottes Ganesha. Er ist ganz besonders beliebt, weil er Glück bescheren soll. Die Menschen verehren ihn und hoffen, dass er ihnen alle Hindernisse aus dem Weg räumen wird. Darum gibt es in vielen Tempeln auch richtige Elefanten. Sie haben dort die Aufgabe, den Tempelbesuchern die mitgebrachten Geschenke abzunehmen. Als Dank und als Gruß von Ganesha segnen sie die Pilger, in dem sie ihnen mit ihrem Rüssel sanft auf den Kopf tippen. So sind die Tiere meist viele Stunde des Tages in Aktion. Sie können nicht artengerecht leben, haben zu wenig Bewegung und werden oftmals auch nicht richtig ernährt.
Darum werden diese Elefanten einmal im Jahr für einige Zeit zur Erholung in den Dschungelnationalpark geschickt. Und dort treffen Pooja und Shanti, die Tempel-Elefantin, auf einander. Das kleine sechsjährige deutsche Menschenmädchen und die riesige alte indische Elefantendame werden Freundinnen. Pooja lernt die Elefanten kennen und fühlt mit ihnen. Sie beobachtet sie und erfährt von den Mahouts, den Männern, die immer mit den gezähmten Elefanten leben:
Elefanten haben Launen wie die Menschen. Sie empfinden Mitleid und Kummer. Die älteren Tiere geben ihre Erfahrungen an die jungen weiter. Elefanten knüpfen und pflegen Freundschaften. Sie empfinden Einsamkeit und können an Herzeleid sterben. Sie können über weite Entfernungen Kontakt zu einander aufnehmen. Sie lieben ihre Kinder und nehmen Rücksicht auf einander. Sie trauern um Verstorbene und sie können weinen.
Wenn du mit Pooja zu den indischen Elefanten reisen willst, dann empfehle ich dir, dieses Buch in deiner Kinderbibliothek auszuleihen.

Pooja Marske: Pooja - Das Elefantenmädchen. Droemer Verlag. München 2006.

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Der goldene Kompass

In einem zweiten Buch lernte ich eine andere Welt kennen, in der Tiere und Menschen eine noch größere Einheit bilden als im indischen Mudumalai.
Alles scheint ganz harmlos loszugehen. Man denkt, es beginnt ein historischer Roman, was ja für uns, die Menschen des 21. Jahrhunderts schon gar nicht so ohne ist, kennen wir doch die Regeln des damaligen Lebens nicht genau. Wir befinden uns jetzt mit diesem Buch in Großbritannien und schauen in einen großen Speisesaal, mit Plätzen für Lehrer, Rektor, Conrektoren und Schüler. Von irgendwoher hört man das Klappern von Geschirr. Dann öffnet sich die große Eingangstür. Ein Kind und ein Tier schleichen herein. (Ach, nein, doch nicht Harry Potter! Dieses Buch muss ich hier wirklich nicht mehr vorstellen.)
Es ist das Mädchen Lyra. Ganz dicht neben ihr ist ihr Daemon. Jeder Mensch hat von Geburt an solch einen tierischen Daemonen, der nicht von seiner Seite weicht. In der Kindheit kann jeder Daemon verschiedene Tiergestalten annehmen, danach verliert er diese Fähigkeit und bleibt nur noch in einem einzigen Tierkörper. Und spätestens jetzt weißt du, dass es ein Fantasy-Buch ist, das ich dir jetzt empfehlen will:

Lyra besucht ein College in Oxford. Sie lebt dort ohne Familie und ist außerdem das einzige Kind unter den vielen Studenten und Universitätslehrern.
Deshalb bekommt sie ihre Unterweisungen ganz allein von den verschiedenen Professoren in deren Spezialfächern. Sie hat also keine richtige Schule, weiß manches nicht, was ihre Altersgefährten schon lange vor ihr lernten. Dafür kann sie aber mit vielen wissenschaftlichen Begriffen und Geräten umgehen. Diesem anstrengenden Unterricht entflieht Lyra so oft sie kann und geht mit ihrem Spielgefährten Roger, einem Küchenjungen, auf Entdeckungsreisen, über die Dächer in andere Stadtviertel, durch die tiefen Keller der zum College gehörenden Gebäuden bis zu den Grabstätten der vor Jahrhunderten verstorbenen Rektoren der Universität.
Dort finden sie nicht nur die Skelette der Menschen, sondern auch die Geister der Daemonen. Auf immer und ewig sind sie mit den Verstorbenen verbunden. Zu Lebzeiten haben sie ihre Partner-Menschen vor Gefahren gewarnt, sie in allen Situationen beraten und - wenn es sein musste - gegen Daemonen gekämpft, die zu schlechten Menschen gehörten und von ihnen zu bösen Taten angestiftet wurden.
Dann taucht Lyras Onkel Lord Asriel auf, der - wie sie viel später erfährt - ihr Vater ist. Auch eine wunderschöne Lady interessiert sich für sie. Wie sie dann mitbekommt, ist diese eine Gegnerin ihres Vaters und spielt auch bei der Erforschung eines ganz besonderen Staubes und des Polarlichtes sowie der Brücke in die andere Welt eine wichtige und sehr zwielichtige Rolle. Immer wenn die scheinbar reizenden Mrs Coulter mit ihrem goldfarbenen Affen-Daemonen auftaucht, werden Kinder entführt. Als dann auch Roger verschwindet, macht sich Lyra auf die Suche. Sie findet ihn und viele der anderen verschwundenen Kinder. Dabei muss sie gefährliche Abenteuer bestehen, bei denen sie auch vom Leben ihrer Mutter erfährt, und nicht immer geht alles positiv aus.
Roger und Lyra geraten in einen erbitterten Kampf zwischen Gut und Böse, in denen neben Hexen auch Eisbären und andere Kräfte eingreifen. Das Ergebnis dieses Kampfes soll über die Zukunft dieser und der anderen Welt entscheiden …

Philipp Pullmann: Der goldene Kompass. Carlsen Verlag. Hamburg 1996.

Übrigens ist Der goldene Kompass der erste Band des wirklich äußerst spannenden Fantasy-Mehrteilers, zu dem noch die Bücher gehören: Das Magische Messer und Das Bernstein-Teleskop.

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Es fragt die bunte Kuh: Wer bist denn …?

Ein Siebener und noch viel mehr zum Staunen und Ausprobieren serviere ich dir ganz in der Nähe der bunten Kuh. In dem Buch geht nur um sieben Zeilen. Hier sind meine:

Am Teich.
Ich sitze auf einem Stein und beobachte die Blesshühner.
Was sehen sie unter Wasser, wenn ich nur ihre Beine sehe?
Gelb und dünn, so zappeln sie nur einen Moment in der Luft.
Dann sind sie wieder im Wasser und meinen Blicken entschwunden.
Am Teich.
Ich sitze auf einem Stein und beobachte die Blesshühner.

Diese einfache und doch ganz eindrucksvolle Gedichtform lernte ich vor vielen Jahren von einer Poesiepädagogin aus Holland. Ich möchte dich anregen, mit solch einem Siebener das Tor in die Welt der Lyrik und der selbst verfassten, kleinen Gedichte aufzustoßen. Dir liegen Gedichte nicht? Aber ich bin ganz sicher, einen Siebener kannst du schreiben. Wie der Titel der Gedichtart sagt, brauchst du sieben Zeilen, die sich nicht reimen sollen:
Die 1. Zeile bezeichnet einen Ort;
in der 2. Zeile taucht die Ich-Person mit einer Tätigkeit auf;
die 3. Zeile umfasst eine Frage oder einen Vergleich;
in der 4. Zeile wird ein einzelnes Element in den Mittelpunkt gerückt;
in der 5. Zeile wird diese Einzelheit noch etwas näher betrachtet;
die 6. Zeile ist gleich der 1. Zeile
und die 7. Zeile ist wie die 2.
Und los geht's!
Zu solchen Sprach- und Wortspielen gibt es sehr viele Bücher. Ich habe dir hier nur eines herausgesucht mit Rätseln um Buchstaben, Silben, Reimen, Rhythmen und vieles mehr.

Elke Müller-Mees: Es fragt die bunte Kuh: Wer bist denn …? Urania-Verlag. Freiburg 2003.

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Haie und andere Meeresräuber

Und jetzt die Weiterführung. Denn mein Siebener hat dir gleichzeitig auch noch eine andere Welt gezeigt, die sehr, sehr viele Menschen fasziniert, vielleicht auch dich. Richtig, ich meine die Unterwasserwelt.
Auch zu diesem Thema gibt es wohl genauso viele Bücher wie im Bereich der Sprachspiele und des Kreativen Schreibens. Es gibt dazu Fantasy-Geschichten, es gibt Fotobücher, es gibt Berichte über Expeditionen und Erforschungen einzelner Meeresbewohner, es gibt Wassermärchen …
Ich will dich hier nur auf einen, aber einen sehr, sehr interessanten Titel aufmerksam machen. In diesem Buch geht es um gefährliche Haie, grässliche Skorpione und riesige Schildkröten und viele eindrucksvolle Informationen über diese Meeresräuber. Aber nicht das ist das Besondere. Das Außergewöhnliche ist die Gestaltung.
Die amerikanischen Papierkünstler Robert Sabuda und Matthew Reinhart haben mit Schere, Klebstoff und raffinierten Faltungen, sich in einander schiebenden und heraushebenden Papierteilen 35 Pop-up-Bilder geschaffen.
Diese dreidimensionalen papierenen Tierskulpturen ziehen den Betrachtenden in ihren Bann. Man möchte das Geheimnis ergründen. Man möchte wissen, wie sie gemacht wurden. Man möchte eintauchen in die Welt dieser besonderen Buchkunst. Immer wieder schlägt man die Seiten ganz, ganz langsam auf und zu und wieder auf und wieder zu und wieder auf ...

Sabuda & Reinhart: Haie und andere Meeresräuber. Oetinger Verlag. Hamburg 2008.

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Kopf hoch, Fledermaus!

Ich habe als Kind gern mit dem Kopf nach unten auf dem Bett gelegen oder mich mit den Beinen an die Reckstange gehangen. Später habe ich das auch bei meiner kleinen Tochter beobachtet. Wenn du das eventuell noch nie gemacht haben solltest, dann musst du das unbedingt gleich einmal versuchen. Du wirst sofort erkennen, wie durch diese eigentlich doch kleine Veränderung eine große Wirkung erzielt wird, wie anders auf einmal die alltägliche Umgebung anzusehen ist.
Ein Mensch, der immer auf den Händen geht und mit den Zehen die Äpfel vom Baum pflückt, wird früher oder später als Spinner bezeichnet. So geht es auch der Fledermaus. Sie behauptet nämlich, der Himmel ist über den Füßen und die Wolken hängen als Saum unten am Himmel. Wahrscheinlich ist die Fledermaus dumm oder total verdreht oder vielleicht sogar gefährlich, denken die anderen Tiere. Irgendwann kommen sie darauf, die Dinge doch mal so zu betrachten, wie sie von den Fledermäusen gesehen werden. Und auf einmal wird diese andere, so bedrohliche Welt ganz klar und total verständlich.

Jeanne Willis (Text), Tony Ross (Illustrationen): Kopf hoch, Fledermaus! Sauerländer Verlag. Düsseldorf 2009.

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Fledermäuse beobachten und Faszination Fledermaus

Ja, sicherlich du hast schon recht. Das ist mehr ein Bilderbuch und für jüngere Kinder bestimmt. Aber zu jedem Bild, das Tony Ross zeichnete, kannst du dir eine eigene Kopfüber-Kopfunter-Geschichte ausdenken. Und das vielleicht sogar zusammen mit deinen kleineren Geschwistern. Dann wirst du sicherlich ganz schnell merken, dass das nicht nur Spaß macht, sondern dass du viel mehr über die Welt der Fledermäuse wissen musst, ehe du über sie schreiben kannst. Darum will ich dich noch auf zwei weitere Titel aufmerksam machen.
Das erste ist ein Buch, das dir sehr viele Informationen zum Erkennen, Beobachten und Schützen von Fledermäusen vermittelt.
Das zweite ist ein großformatiges Buch mit wunderbaren und erstaunlichen Fotos, aber auch viel Text in deutscher und englischer Sprache.
Bei beiden solltest du deine Eltern bitten, mit dir gemeinsam zu lesen und vielleicht dann auch später zusammen auf abendliche Beobachtungspirsch zu gehen. In Deutschland gibt es übrigens 32 Fledermausarten. Ob und welche in deiner Nähe leben, erfährst du ganz sicher beim Naturschutzbund deines Ortes.

Klaus Richarz: Fledermäuse beobachten, erkennen. Kosmos Verlag. Stuttgart 2004.

Bernd Stein/Marcus Angebauer: Faszination Feldermaus. Von einem, der auszog Fledermäuse zu fotografieren.
Verlag M. Faste. Kassel 2004.

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Die Maske der 1000 Gefahren

Wenn ich in einem Buch viele Seiten überschlage, dann bedeutet es meist, dass ich die Beschreibung der Handlung als langweilig empfinde. Aber da ich das Ende der Geschichte wissen will, lege ich das Buch nicht halb ausgelesen ins Regal, sondern überblättre das, was ich meine, nicht unbedingt lesen zu müssen. Vielleicht hast du das bei dir auch schon beobachtet.
Ganz anders war das bei dem folgenden Buch. Ich war beim Lesen die ganze Zeit nur am Vor- und Zurückblättern und doch zog mich dieses Buch in seinen Bann. Ich las es hintereinanderweg, musste aber ganz zwangsläufig nach vorne und nach hinten blättern.
Es ist wirklich kein normales Buch. Und die Geschichte ist so spannend, dass ich nicht geneigt bin, dir irgendetwas davon zu verraten. Ja, vielleicht ist das nur eine Ausrede und ich weiß nicht, welchen Handlungsstrang ich dir auch nur ein wenig beschreiben sollte. Ich konnte oftmals nur an den Bildern erkennen, ob ich die Seite schon einmal gelesen hatte. Denn es gibt viele Wege zu einem glücklichen oder auch unglücklichen Ende und nur du bestimmst, wie alles ausgehen wird.
Aber es ist ja meine Aufgabe, dich für dieses Buch zu interessieren, darum also:
Stell dir vor, dein Onkel schickt dir aus Brasilien eine Maske. Du setzt sie auf. Damit ändert sich schlagartig dein ganzes Leben. Du bist zwar noch in dieser Welt, aber dein Körper steckt jetzt in dem einer Fliege. Schon sieht alles total anders aus. Du bist jetzt eine Fliege und musst entscheiden, ob du wegfliegst oder sitzen bleibst und ob du dabei das Opfer einer Fliegenklatsche wirst, die von deiner eigenen Mutter geführt wird.
Es ist ein kleines, fast unscheinbares Buch und doch gehört es ab sofort zu meinen Lieblingen. Ich bin ganz sicher, dass das auch bei dir so sein wird, wenn du es dir in der nächsten Buchhandlung besorgst. Der Preis von 4,95 € ist sicherlich auch im Rahmen deines Taschengeldes erschwinglich. Natürlich kannst du es dir auch schenken lassen oder in der Kinderbibliothek ausleihen.

Carrick Hill: Die Maske der 1000 Gefahren. Mit Illustrationen von Maria Satter. Ravensburger Buchverlag. Ravensburg 2008.

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Der Begriff der Maske leitet sich übrigens von dem arabischen Wort maskharat ab, was so viel bedeutet wie Narr, Posse, Hänselei oder Scherz. (Eine Posse ist ein Bühnenstück, das durch Verwechslungen, ulkige Zufälle und unwahrscheinliche Übertreibungen die Zuschauer zum Lachen bringt.) Die Maske ist eine Gesichtsbedeckung mit unterschiedlichen Aufgaben. Sie schützt das Gesicht, verbirgt aber auch das wahre Aussehen. Mit Hilfe der Maske verwandelt sich der Träger in die dargestellte Figur. Sie ermöglicht ihm, neue Rollen in seinem Leben zu übernehmen oder mit der Maske in eine andere Welt zu schlüpfen.
Manchmal spielt dabei ein Geruch eine Rolle, manchmal auch Musik oder auch nur ein einzelner Ton, der uns mitnimmt in eine andere Welt und uns vielleicht zu den Trinbagonen bringt.
Viel Spaß und Freude beim Entdecken der anderen Welten in den von mir ausgesuchten Büchern wünscht sich
Helma

 
 © Rossipotti No. 21, Nov. 2009