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Salon Albert

 

Hallo Kinder,
auf in die nächste Runde meines literarischen Salons!
Dieses Mal stelle ich euch einen Autor vor, den ich wirklich schätze. Denn wie ich kann dieser Autor Monotonie und Stereotypie nicht ausstehen. Und wie ich liebt er dagegen Überraschungen und groteske Einfälle.
Der Autor heißt Eugène Ionesco wurde 1912 in Rumänien geboren und starb 82 Jahre später in seiner Wahlheimat Frankreich.
Ionesco schrieb Essays, ein paar Gedichte und mehrere Prosatexte. Berühmt wurde er aber vor allem durch seine Anti-Theaterstücke. Sie heißen so, weil sie dem bürgerlich-realistischen ein experimentell-absurdes Theater entgegensetzen. Absurd ist das Theater, weil es die Sinnlosigkeit unseres Seins und Tuns darstellen will, und nicht etwa, weil es selbst sinnlos wäre.
Das Leben ist für Ionesco absurd, weil es weder einen vernünftigen noch einen moralischen Grund für seine Sinnhaftigkeit gibt. Die Figuren in seinen parabelhaften Theaterstücken empfinden zwar ihre eigene Absurdität, doch versuchen sie, ihren sinnentleerten Alltag durch den leidenschaftlichen Gebrauch einer banalen Alltagssprache, durch verhärtete Gewohnheiten und immer wieder kehrende Handlungen zu ersetzen. Sie plappern und handeln ununterbrochen, doch stehen sie ihrem Tun eigentlich wie Marionetten als Fremde gegenüber. Auch die Handlung schreitet in Ionescos Stücken nicht logisch und kausal fort, sondern folgt der Phantasie des Autors, die aber immer um das Problem der Absurdität kreist.
Ihr fragt euch bestimmt, ob so ein Theater die Monotonie, die Ionesco angeblich störte, nicht noch verstärkte?!

Ja und nein. Einerseits wird einem zwar die sinnlose Gleichtönigkeit des Lebens und des Alltags so lange vor Augen geführt, dass sie einem beinahe zufallen. Andererseits lässt man sie dann aber aus Neugier doch offen. Denn die Monotonie selbst wird von Ionesco ad absurdum geführt. Und dadurch entstehen so überraschende Szenen und groteske Traum-Bilder, dass es wirklich schade wäre, wenn man sie verpassen würde!
In einem Stück von Ionesco lässt beispielsweise "Der neue Mieter" so lange Möbel in seine Wohnung transportieren, bis er sich keinen Millimeter mehr bewegen kann! Und Ionesco setzt noch eins drauf. Denn am Schluss ist nicht nur die Wohnung, sondern ganz Paris von den Möbeln des Mieters verstopft!

Da es in dieser Ausgabe um Tiere geht, möchte ich euch jetzt eine Erzählung von Ionesco vorstellen, die um das Thema "Nashörner" kreist. "Die Nashörner" wurden 1952 von Ionesco geschrieben und erst ein paar Jahre später von ihm in ein "Drama in drei Akten" umgeschrieben. Hier lese ich euch einen Auszug aus dem ursprünglichen Prosatext vor:

 

Die Nashörner

Wir plauderten über dies und jenes auf der Terrasse des Cafés, mein Freund Jean und ich, als wir auf dem gegenüber gelegenen Trottoir, riesig, mächtig, laut schnaufend, vorwärtsstürmend, die Warenstände umreißend, ein Nashorn erblickten. Die Passanten stoben heftig auseinander, um ihm den Weg freizugeben. Eine Frau stieß einen Angstschrei aus, ihre Hände ließen die Einkaufstasche fallen, und Wein ergoss sich aus einer zerschellten Flasche über das Pflaster; einige Spaziergänger, unter ihnen ein Greis, traten hastig in die Läden. Es dauerte keine Sekunde. Die Fußgänger verließen wieder ihre Zuflucht, Menschengruppen bildeten sich und folgten mit Blicken dem schon weit entfernten Nashorn, besprachen das Ereignis und zerstreuten sich.
Ich bin ziemlich langsam in meinen Reaktionen. Teilnahmslos nahm ich das Bild des laufenden Tieres in mich auf, ohne ihm übertrieben Wichtigkeit beizumessen. Zudem fühlte ich mich müde an jenem Morgen, ich verspürte einen bitteren Geschmach im Mund, die Folgen einer Zecherei am Abend zuvor: Wir hatten den Geburtstag eines Kollegen gefeiert. Jean war nicht mit uns gewesen, deshalb rief er auch nach den ersten Augenblicken der Bestürzung aus:
"Ein frei umherlaufendes Nashorn in der Stadt! Überrascht Sie das nicht? Das müsste verboten werden!"
"Das ist wahr", erwiderte ich, "Ich dachte nicht daran. Es ist gefährlich."
"Wir sollten bei den städtischen Behörden Einspruch erheben.
"Vielleicht ist es dem Zoo entflohen", meinte ich.
"Sie träumen wohl!", erwiderte er. "In unserer Stadt gibt es keinen zoologischen Garten mehr seit dem siebzehnten Jahrhundert, als die Tiere von der Pest dahingerafft wurden."
"Es stammt vielleicht aus dem Zirkus?"
"Aus welchem Zirkus? Die Stadt hat dem reisenden Volk den Aufenthalt im Gemeindebezirk doch untersagt. Seit unserer Kindheit kommt kein Zirkus mehr hierher."
"Wahrscheinlich hat es sich seit damals in den morastigen Wäldern der Umgebung verborgen gehalten", antwortete ich gähnend.
"Sie stehen ganz unter dichten Alkoholdämpfen ..."
"Sie steigen vom Magen herauf ..."
"Gewiss; und sie umhüllen das Gehirn. Wo sehen Sie morastige Wälder in der Umgebung? Unsere Provinz wird auch 'Das kleine Kastilien' genannt, so öde ist sie."
"Es hat sich vielleicht unter einem Stein verborgen gehalten? Vielleicht hat es sich ein Nest auf verdorrten Zweigen errichtet?"
"Sie langweilen mich mit Ihren Ungereimtheiten. Sie sind nicht imstande, ernsthaft zu sprechen."
"Heute vor allem nicht."
"Heute nicht minder als gewöhnlich."

"Regen Sie sich nicht auf, mein lieber Jean. Wir wollen uns wegen des Tieres nicht streiten." [...]

"Das sind aber zwei komische Typen", bemerkt Palmina, als Albert das Buch zuklappt. "Der eine findet es kaum erwähnenswert, dass ein Nashorn durch die Stadt rennt und der andere findet es so unglaublich, dass er das Nashorn gleich verbieten will."

"Wie würdest du es denn finden, wenn hier jetzt ein Nashorn vorbei rennen würde?" fragt Albert interessiert und stößt ein paar Wasserblasen aus.

"Lustig!" sagt Palmina überzeugt. "Das wäre doch etwas anderes, als immer nur mit einer Qualle im Glas zu reden!"

"Aha", sagt Albert, ohne auf die Beleidigung einzugehen. "Und fändest du es auch lustig, wenn dir ein Nashorn auf den Fuß treten oder sein Horn in die Brust rammen würde?"

"Natürlich nicht", sagt Palmina. "Aber so weit würde ich es gar nicht kommen lassen. Ich würde ihm einfach aus dem Weg gehen."

"Bei einem Nashorn schaffst du das vielleicht", sagt Albert. "Aber was machst du, wenn vier oder fünf Nashörner auf dich losstürmen"

"Woher sollen die denn plötzlich alle kommen?" fragt Palmina.

"Ich könnte mich zum Beispiel in ein Nashorn verwandeln!" sagt Albert.

"Unsinn!" lacht Palmina. "Du ein Nashorn? Unvorstellbar!"

"Na, dann stell dir eben Rossipottis Leibspeise als Nashorn vor", sagt Albert. "Oder die Kulturtasche."

"Die Kulturtasche würde sich tatsächlich ganz gut als Nashorn machen", überlegt Palmina. "Die Farbe und das Material sind schon ein bisschen nashornhaft."

"Wenn du dir die Kulturtasche als Nashorn vorstellen kannst", meint Albert, "musst du dir auch Rossipotti als Nashorn vorstellen können. Denk nur, wie vernarrt er in seine Kulturtasche ist!"

"Rossipotti ein Nashorn?" ruft Palmina aus. "Aber das ist doch absurd!"

"Absurd oder nicht", sagt Albert. "Stell dir einfach vor, die anderen wären Nashörner, nur wir nicht. Was würdest du dann tun?"

"Ich würde es für einen schlechten Traum halten und warten, bis ich wieder aufwache."

"Es wäre aber kein Traum ..."

"Dann würde ich dich bitten, mit mir in ein anderes Land zu gehen, in dem es auch noch andere Lebewesen außer Nashörner gibt."

"Die Grenzen sind aber dicht, und wir dürfen nicht ausreisen."

"Dann verstecken wir uns einfach vor den Nashörnern!"

"Für den Rest unseres Lebens?" fragt Albert entrüstet. "Palmina, ich hätte dir mehr Standfestigkeit zugetraut!"

"Ach, lass mich doch mit deinen Nashörnern in Ruhe!" ruft Palmina und schaut Albert wütend an. "Erzähle mir lieber, wie die Geschichte von Ionesco weiter geht!"

"Jean wird zum Nashorn!" sagt Albert triumphierend. Ob es Palmina nun passt oder nicht: Die Geschichte handelt nun einmal von Nashörnern.

"Jean wird zum Nashorn?" wiederholt Palmina. "Und da kritisierst du meine Standfestigkeit? Ehrlich gesagt wundert es mich nicht besonders, dass Jean zum Nashorn wird. Er klebt zu sehr am Alltag und verliert gleich die Fassung. Da muss er ja leicht aus der Form geraten."

"Aber die Kollegen und Nachbarn des Ich-Erzählers werden auch zu Nashörnern!" fährt Albert in seiner Nacherzählung fort. "Alle werden Nashörner. Nur der Ich-Erzähler nicht."

"Das ist schlimm für ihn, einziger Mensch unter Nashörnern zu sein!" stellt Palmina fest, "Bleibt er so gelassen wie am Anfang der Geschichte oder will er am Ende die Nashörner doch auch verbieten lassen?"

"Wohl kaum", antwortet Albert. "Leute wie der Ich-Erzähler, die es nicht überrascht, wenn ein Nashorn durch die Stadt rennt, lassen sich auch nicht von vielen Nashörnern beeindrucken. Außerdem - wenn fast alle Nashörner sind, wer sollte sie dann noch verbieten?"

"Aber wie geht es denn dann mit ihm weiter?" fragt Palmina.

"Er wird überrascht!" sagt Albert rätselhaft. "Und das ist bei jemand, der vieles für möglich hält, wirklich überraschend!"

"Ach?!" ruft Palmina neugierig aus. "Wovon wird er denn überrascht?"

"Von der Unmöglichkeit, ein Nashorn zu werden!"

 

* * *

Diese und noch drei andere absurde Erzählungen von Ionesco findet ihr in dem Buch:

Eugène Ionesco: Die Nashörner. dtv. München 1994.

 © Rossipotti No. 8, Juli 2005