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Rossipottis 11 Uhr Termin

* * *

Aus Lilis frühem Leben

von Saza Schröder

Ein garstiges Kind.

Wenn ich groß bin, sagte Lili oft, wenn ich groß bin, werde ich euch alle töten. Dich auch Jakob.
Und du, fragte Jakob zurück, was machst du so allein auf der Welt?
Ich werde mich auch töten, um wieder bei euch zu sein. Ganz zuletzt natürlich.
Dann lachte Lili laut und böse und Jakob verstand sie nicht.

*

Aus Lilis frühem Leben.

Es gab viele Worte um Lili. Geh mir aus den Füßen Kind. Ach Gott Lili, so viele Fragen und wer zuviel fragt, der bekommt zuviel Antwort. Und klug ist das Kind. Klug für uns alle.
Die Mutter zum Vater: Das hat sie von euch. Eine Heimsuchung. Ein Fegefeuer. Wo haben wir dieses Kind nur her.
Die kleine Lili. Wo hatten sie die nur her?
Lange Nachmittage mit Jakob. Lili grübelt. Sie kann und kann sich nicht erinnern, ist nirgends sonst gewesen, immer und immer nur bei diesen Leuten. Die müssen doch wissen woher sie mich haben. Komm, sag es mir Jakob, du weißt es doch.

*

Wie der Jakob zu seiner Lili kam.

An einem kalten Abend stand sie vor der Tür mit dem Kind. Sie legte es dem Jakob in den Arm.
Da! Nun bist du endlich zu was gut in der Welt. Gib dir Mühe und wenn es schreit hat es Hunger.
Armes Kind. Als wärst du eine Katz, sagte Jakob. Und deinen Namen weiß ich auch nicht. Aber wahrscheinlich heißt du Lili.
Ritz. Ratz. Wie eine Katz. Lili zieht die Schultern bis zu den Ohren und schleicht mit spitzen Füßen durch das Gras. Ritz. Ratz.
Hör auf Kind, sagt Jakob, es ist doch nur eine Geschichte. Du bist wie jedes Kind aus deiner Mutter.
Warum weiß sie nicht, wo sie mich her hat.
Das sagt man so, wenn man sich wundert.
Warum wundert sie sich?
Weil du so bist.
Weil ich so bin. Ritz. Ratz. Wie eine Katz.
Lili singt durch den Garten und Jakob duckt sich mit ratlosen Augen.

*

Die Mutter

begegnet der Welt mit stolzem Blick. Sie geht mit weiten Schritten in schwingenden Kleidern. Sie schlingt das nachtschwarze Haar locker im Nacken und ihre Haut bleibt auch in der Sonne weiß. So weiß wie Schnee. So schwarz wie Ebenholz.
Alles Rot hat Lili. Tausend rotbraune Sommersprossen und goldrote Haare. Ein rostiger Sargnagel. Die Mutter zum Vater: Sie sieht aus wie ihr.
Die Katholische, sagt der Großvater über die Mutter, sieht aus wie der Otto Normalnazi sich eine Jüdische vorstellt. Dann fährt er durch Lilis roten Lockenwust: Aber wenigstens siehst du aus wie wir.
Lili wäre auch sonst gerne wie Jakob und der Großvater. Aber aus einem Hühnerei, sagt der Großvater, kommt ein Huhn, aus einem Drosselei eine Drossel und aus einer Katholischen eine Katholische. Jakob schaut mit mitleidigen Augen.
Du kannst nichts dafür. Der Vater genügt nicht.
Die Nazis hätten dich genommen, sagt die Mutter, denen genügte ein Vater. Und tu nicht, als wären wir eine Schande. Du und ich.
Lili glaubt ihrer schönen falschen Mutter kein Wort. Den Vater kann man nicht fragen. Das nicht und alles andere auch nicht.

*

Vom Kastanienbaum

Vor dem Küchenfenster gab es einmal einen Kastanienbaum. Wie oft saß sie in seinen Zweigen, hoch über Jakob, baumelte mit dünnen Beinen, sang Spottlieder, Unflat, den sie auf der Straße lernte. Nicht von Jakob. Das waren die Sommer, als Jakob noch Brennholz holte im Wald, duftende Scheite an die Schuppenwand stapelte bis fast zum Dach, und nie vergaß zum Baum zu sehen mit sorgenvollen Augen:
Fall nicht Kind. Und sing nicht diese katholischen Lieder.
Es gab viele Worte um Lilis Baum. Der Baum wirft nur Schatten. Nie haben wir Sonne. Ja. Ja. Die paar heißen Tage im Jahr.
Einen Winter lang brannte Lilis Baum im Ofen.

*

Den Vater

sieht Lili nur selten. Er riecht nach Pfeifentabak und Rasierwasser. Er kann Rad schlagen und pfeifen wie ein Pirol. Die Mutter lacht und trägt neue Kleider. Jedes Mal will er zu Hause bleiben. Aber Lili hastet nicht mehr zur Tür, wenn sein schnelles Auto mit sirrenden Reifen den Kiesweg aufwirbelt. Sie stellt sich nicht mehr in den Weg, wenn er mit langen Schritten die Treppe hinaufstürmt. Sie will seine Hand nicht mehr in den Haaren spüren. Na Kind. Sie ist ihm schon entfallen noch bevor er ihr die Hand vom Kopf nimmt. Lili frisst keine Kreide mehr.
Er will sich vergessen, sagt der Großvater.
Kann man das, fragt Lili, sich selber vergessen?
Man wird sehen, sagt der Großvater.
Lili schläft immer öfter im Gärtnerhaus. Eines Tages, sagt sie zu Jakob, eines Tages gehe ich nicht mehr hinüber.
Sie wird dich nicht lassen, sagt Jakob, wenn er weg ist, will sie dich wiederhaben.
Man wird sehen, sagt Lili mit bösen Augen, man wird sehen.

*

Die Frau Pollak

macht im Haus die Arbeit. Sie bezieht Lilis Bett und bügelt mit rotem Gesicht viele Stapel Wäsche. Sie kocht das Essen, und, extra für Lili, Griesbrei ohne Sauerkirschen.
Die Frau Pollak, sagt Lili, die Frau Pollak ist immer lieb und der Großvater lacht bissig: Die ist nicht lieb Kind, die kann nur nicht bös sein.
Die Frau Pollak ist fast allein auf der Welt. Ich hab doch nur den Hund und dich, sagt sie und legt eine warme Hand in Lilis Rücken.
Komm, sagt der Großvater, sei geduldig, du bist alles was der Jakob hat außer mir.
Sei brav, sagt der Onkel Sonntag, du bist doch alles was dein Großvater noch liebt auf der Welt.
Und wenn der Vater, um sich zu vergessen, in ferne Länder reist, ist Lili, bis er wiederkommt, alles was die Mutter hat. Für Jakob und den Großvater ist Lili gerne alles. Und manchmal, nur manchmal, wäre Lili auch gerne alles für den Vater. Aber darf man das der Fau Pollak sagen, wo sie doch fast allein auf der Welt ist und wo man so über sie herhetzt im Milchladen.
Schon wieder scheinschwanger.
Jeschusmaaria, jedes Jahr ein Mal.
Wer? Die Pollaken?
Nein! Ich glaub der Hund.
Wer denn nun, der Hund oder die Pollaken?
Beide, sagt Lili, die es ja wissen muss von ganz hinten und schämt sich ein wenig dafür, diesmal beide.

*

Der Großvater

wohnt hinterm Rosengarten im kleinen Gartenhaus. Dort näht er aus weichem Leder Schulranzen für die Kinder vom Juwelier und für die Enkel vom Bürgermeister und Geldbörsen und Handtaschen für ihre Mütter und Väter. Die Kinder gehen mit Lili zur Schule und Lili ist stolz auf den Großvater. Auch für Lili macht der Großvater Ranzen aus weich gegerbtem Leder und rote und gelbe Schuhe. Für niemand sonst, nicht einmal für den Jakob, macht der Großvater noch Schuhe.
Soviel Luxus für das Kind, sagt die Mutter. Was soll sie denken wer sie ist? Eine Prinzessin soll sie sein, sagt Jakob, und stellt seine Lili auf das Schuppendach: Von so hoch sollst du auf die Welt schauen. Denkt sie sich denn, die Katholische, dass nur sie einen Stolz hat auf der Welt?
An manchen Tagen kommen der Onkel Sonntag, der gar kein richtiger Onkel ist und Hiob Kollwitzer, der ein Holzbein und Phantomschmerzen hat. Sie erzählen sich Geschichten in einer Sprache, die Lili noch nicht versteht. Sie nicken und zupfen an ihren Bärten, sie nennen Namen von Menschen die Lili nicht kennen kann, weil sie geblieben sind und manchmal kann Lili nicht mehr atmen.

*

Das Alfredchen.

Am Schabbes darf der Großvater nicht heben und auch der Jakob hilft Lili nicht über die Mauer. Darum geht Lili den weiten Weg um die Mauer bis zum Gartentor. Dabei sucht sie die Straßenseite nach den Hakenkreuzen ab, die das Alfredchen mit Schulkreide dran schmiert.
Ich schlag ihn, schreit Lili dann, ich zerschlag ihn bis er blutet.
Der Großvater zuckt mit den Schultern: Wenn's schlimmer nicht kommt.
Und Lili holt den Wassereimer und die Bürste und schrubbt mit Grimm im Herzen. Lili darf am Sabbat heben und schrubben wie die Frau Pollak, und muss sich doch umdrehen, wenn das Alfredchen Judenbankert über den Schulhof ruft.
Das hat er von seinem Vater, sagt die Frau Pollak, der war was in der Partei.
Hör nicht hin, sagt die Mutter.
Die Lehrerin hört vielleicht wirklich nicht und Lili sagt auch nichts mehr.

*

Der Jakob.

Es brennt am Ende der Straße und Lili will die Flammen sehen.
Komm Jakob, die Ziegelei brennt!
Nein Kind.
Doch! Ich will die Flammen sehen. Lauf mit!
Aber der Jakob hört nicht. Er wirft sich an die Schuppenwand, rutscht langsam in die Hocke. Er starrt mit leeren Augen durch Lili hindurch, aus seinem Mund kommen leise schmatzende Geräusche.
Hör auf! Wir gehen nicht zur Ziegelei. Hör auf!
Aber der Jakob hört sie nicht.

*

Ein Kornfeld bis zum Horizont.

Er hat seinen Verstand
Sagten sie
Im Viehwagen gelassen
Und verziehen ihm alles
Als ich es wissen wollte
Ging ich zu ihm
Sag mir
Wie viele
Waren es wirklich
Seine Hand zeigte zum Kornfeld
So viele
Kaum eine Geste
Kaum ein Wort

* * *

Rossipotti: Vielen Dank an Saza Schröder, die uns diese eindrückliche Geschichte zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat!

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Ausgequatscht

von einem anonymen Rossipotti-Leser zum Thema "Quatsch" eingesendet.

Wenn ich dir etwas erzähle, musst du versprechen, dass du es niemandem weiter erzählst, in Ordnung?
Du musst es versprechen, mir dein Ehrenwort geben, hörst du? Also, zwei Finger hochhalten, nein drei, oder wie macht man das? Drei sagst du? So so, das könntest du aber auch nur so sagen, nicht? Damit du den Schwur brechen kannst, weil er dann ungültig ist, wenn du zu wenig Finger hebst... ich weiß das, ja, ich durchschaue sie alle, genau wie dich!
Es sind wirklich drei Finger, meinst du? Nun, aber auch das könnte geschwindelt sein, schließlich weißt du, dass ich es hier, an dieser Stelle nicht nachprüfen kann. Aber gut, ich werde der Sache auf den Grund gehen... gleich morgen am besten, direkt nach dem Frühstück, mal sehen. Jetzt hälst du am besten vier Finger hoch, oder nein, doch lieber alle fünf, in Ordnung? Nur um sicher zu gehen, weißt du ... ich gehe immer auf Nummer sicher.
Ich soll endlich anfangen, sagst du? Meine Güte, bist du ein ungeduldiger Geselle! Also wirklich, Ungeduld, das ist so eine Sache! Kennst du den Spruch, wer immer Zeit gewinnen will, verliert dabei mehr Zeit oder so ähnlich? Sehr interessant, das muss ich schon sagen, und ich denke da steckt viel Wahrheit drin ... oh ja, wenn ichs mir recht überlege, steckt darin eine Art Lebensphilosophie!
Was sagst du? Ich verstehe dich nicht. Warum auf einmal so schlecht gelaunt, mein Freund, wo ich dir ... Moment mal: habe ich Sie eigentlich schon gefragt, ob ich Sie duzen darf? Oh mein Gott, habe ich nicht, sagen Sie? Das tut mir leid! Habe ich Sie wirklich nicht gefragt, nein? Gütiger Himmel, man stelle sich vor, das würde zur Sitte werden, einfach jeden zu duzen, nein! Eine Unsitte wäre das, ja wirklich...
Aber gut, wo waren wir stehen geblieben? Ich wollte dir etwas erzählen, sagst du? Etwas erzählen, ja genau ... Etwas erzählen ... mhh ... jaaaa ...
Ähm, darf ich fragen, was?
Das weißt du nicht, nein? Aber warum denn nicht?
Weil ich es dir noch nicht erzählt habe ... so so.
Nun ja, das ist allerdings ein Argument, denke ich. Das lasse ich gelten. Aber jetzt sag mal, wie habe ich angefangen ... ich brauche nur einen Anhaltspunkt, damit es mir wieder einfällt, weißt du, was ich dir erzählen wollte, meine ich.
Ich habe dich mit erhobenen fünf Fingern schwören lassen? Schwören ... ja ... mit erhobenen Fingern ... aber wieso denn mit fünf? Mit Dreien tut man das doch gewöhnlich, nicht wahr? Nun, das tut jetzt nichts zu Sache ... schwören lassen, jaaa NATÜRLICH!! Jetzt weiß ich wieder, was ich erzählen wollte ... Ja, wie Schuppen ist es mir von den Augen gefallen ... buchstäblich, na ja vielleicht auch nicht buchstäblich, aber immerhin.
Ich soll endlich anfangen, sagst du? Aber nun sei doch nicht so ungeduldig ... Ungeduld, ja das ist so eine Sache! Ach übrigens, kennst du den Spruch, dass der, der Zeit gewinnen will, dabei nur Zeit verliert ... ich denke da ist etwas Wahres dran. Ja, wirklich! Das hab ich dir schon erzählt? Oh, wie konnte das nur passieren? Weißt du, ich bin manchmal etwas vergesslich. Du musst mir verzeihen.
Aber gut, ich wollte dir etwas erzählen, oder? Ach, habe ich Sie eigentlich schon gefragt, ob ich Sie duzen -
He, nun unterbrechen Sie mich doch nicht!
Ich habe Sie gefragt, sagen Sie?
Vortrefflich!
Also, ich denke ich könnte nun anfangen und -
das denkst du auch, sagst du? Sehr schön! Also ich will beginnen:
Zu allererst, also nur als kurze Einleitung: Eigentlich ist das, was ich dir erzählen werde, nicht so wichtig, weißt du? Ein bisschen Quatsch, ein bisschen Tratsch. Sonst nichts. So ein kleines Gerüchtchen, nichts weiter ... nimm es dir also nicht so zu Herzen ... vergiss nie: es ist ganz und gar unbedeutend!
Mhh, wenn ichs mir recht überlege, ist es gar nicht erzählenswert ... unwichtig könnte man sagen ... unwichtig, bedeutungslos, eben einfach Quatsch.
Also ich frage mich, ja, ich frage mich wirklich: Wozu soll ich dir diesen Quatsch eigentlich erzählen ... ja wozu? Ich meine, wo es doch sowieso nur ein bisschen Tratsch ist ... ein Gerücht, zusammengesetzt aus Quatsch und Quatsch, also mit ein bisschen Quatsch, meine ich ... du weißt schon. Ich möchte auch nicht einfach alles ausquatschen, verstehst du? Ich möchte keine Tratschtante sein ... und wie gesagt, im Grunde ist es nur Quatsch, Blödsinn, Unfug! Wozu soll ich es dir erzählen? Nur, damit du es weiter erzählen kannst? Es ist quatschiger Quatsch, matschiger Matsch, unsinniger Unsinn-
Waaaaas????? Sagen Sie das noch mal! Ich bin ein bescheuerter Bescheuerter, haben Sie gesagt! Ein bescheuerter Bescheuerter!!!! DAS lasse ich mir nicht länger bieten! Unverschämtheit!! Und an Sie unverschämten Unverschämten hätte ich fast, das geheimste Geheimnis aller geheimsten Geheimnisse ausgequatscht ...

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Rossipotti: Hallo Anonymus! Wir freuen uns, wenn du dich outest und wir deinen richtigen Namen erfahren! Falls du dich nicht mehr erinnerst: Du hast uns am Fr 11.05.2007 um 22:02 im 11-Uhr-Termin zugezwinkert und wir haben dir als Belohnung für deinen Text einen Quatschtext zurückgeschickt. Bitte melde dich!

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Der Gedankenstapler

von Hubert Schirneck

Er hieß Ricardo und wohnte in Kalabrien, in einem ganz kleinen Dorf. Einige der Bauern behaupten heute, sie hätten schon gleich nach der Geburt bemerkt, dass Ricardo etwas Besonderes gewesen sei. Zum Beispiel, so erzählen sie, steckte er niemals den Daumen in den Mund, wie andere Babies. Stattdessen legte er den Zeigefinger seiner rechten Hand an die Schläfe und blickte nachdenklich auf das bunte Plastikspielzeug, das über der Wiege hing. Angeblich verließ er schon im Alter von zwei Monaten sein Bettchen ohne fremde Hilfe, weil er die Standuhr erreichen wollte, die in einer entfernten Ecke des Schlafzimmers stand. Man mag das glauben oder nicht.

Wie auch immer, Ricardo wuchs heran und wurde ein wissbegieriger Junge, der alles anfassen und ausprobieren musste. Er kroch in jede Ecke, untersuchte jedes Gerät, das sich im Haus fand. Manchmal hob er einen ganz gewöhnlichen Stein auf, trug ihn stundenlang in der Hand und zeigte ihn stolz herum, als hätte er einen besonderen Schatz gefunden. Auch Bücher hatten es ihm angetan. Im Alter von vier Jahren, als die Erwachsenen noch glaubten, er würde sich nur die Bilder anschauen, hatte er sich bereits das Lesen beigebracht. Außerdem redete er ununterbrochen. Alle seine Gedanken musste er mitteilen, und manchmal gab er so seltsame Sätze von sich, dass die Mutter erstaunt innehielt und der Vater sagte: “Was unser Ricardo doch für eine Phantasie hat.” Aber sehr viel Zeit zum Staunen hatten die Eltern nicht, denn sie mussten hart arbeiten.

Später, in der Schule, war Ricardo der Beste, ohne sich überhaupt anzustrengen. Der normale Unterricht langweilte ihn sogar, und er beschäftigte sich nebenher mit viel komplizierteren Dingen.

Eines Tages, Ricardo war sieben oder acht, bat er seine Eltern, ausnahmsweise im Wohnzimmer schlafen zu dürfen: “Mein kleines Zimmer unterm Dach ist zu winzig und zu eng für die vielen Gedanken, die ich ständig habe. Es ist schon ganz vollgestopft damit. Und vor allem nachts, da kommen die Gedanken zu Tausenden, wie eine ganze Armee. Im Wohnzimmer, da ist Platz, da kann ich die Gedanken besser stapeln.”

Die Eltern zuckten die Schultern, also schlief Ricardo im Wohnzimmer, das die Familie sonst nur am Wochenende benutzte.

Als sie das Zimmer am Sonntag betraten, war es derart vollgestellt mit Gedanken, dass man die Möbel kaum noch sah. Bis an die Decke türmten sie sich. Und es waren wahrhaftig merkwürdige Gedanken darunter: “Taschenuhren mögen keinen Linksverkehr.” oder “Ein Buch ist ein langsames, blaues Feuer.” oder “Ich stand still in der Zeit, nur der Vorhang bewegte sich.”

Ricardo zuckte die Schultern und sagte: “Voll, kein Platz mehr.”

Also machte er in der Scheune weiter. Nach einigen Wochen war auch dort nur noch eine schmale Gasse frei.

Aber schließlich – gab es nicht noch mehr Scheunen im Dorf?

Sogar im Kuhstall wurden Ricardos Gedanken gelagert. Den Kühen gefiel das gar nicht: Die Gedanken störten sie beim Fressen.

Auch den anderen Bauern im Dorf gefiel das alles nicht: Die Gedanken störten sie beim Arbeiten.

(...)

* * *

Rossipotti: Wir freuen uns sehr, dass Hubert Schirneck uns einen Blick auf seine noch nicht fertig geschriebenen Geschichte hat werfen lassen! Vielen Dank! Die Einfallsreichen von euch können die Geschichte fertigschreiben und an uns schicken. Wir werden sie dann hier veröffentlichen.

 © Rossipotti No. 15, Mai 2007