Zurück

Abenteuer mit der Flupppuppe

Vorwärts

Krise

Betrüger-Schorschi hatte Durst, unglaublichen Durst.

Er war seit zwei Tage unterwegs und hatte so lange auch nichts mehr getrunken. Immerhin war er nur noch ein paar Schritte von der Wüste entfernt. Aber der Wind trieb ihm ständig Sand in die Augen, und eine Wasserstelle war weit und breit nirgends zu sehen. Wenn es nicht bald regnete, würde er es nicht einmal mehr bis zur Geizigen Geisel schaffen, geschweige denn wieder den ganzen Weg zurück. Sehnsüchtig schaute er die dunklen Wolken am Himmel an und hoffte, dass sie bald ein paar Tropfen von sich hergeben würden.

Meter für Meter schleppte er sich weiter. Noch wollte er nicht aufgeben, noch wollte er glauben, dass die Bewohner in ihrem Urteil, er sei ein Mörder, Unrecht behalten würden. Denn er war zwar kein guter Mensch. Er hatte in seiner Welt oft getrickst und gelogen und sich auf Kosten von anderen bereichert. Aber er war nie so weit gegangen, anderen nach dem Leben zu trachten oder ihnen ernsthaft schaden zu wollen. Schließlich war er ein Arzt! Ein erschwindelter Arzt zwar, aber trotzdem ein Arzt!

Und ein Versager, dachte er bitter. Er war ein Versager, in seiner wie in dieser Welt! Er gab es nicht gerne zu, aber er hatte in seinem Leben bisher nichts wirklich Gutes geleistet. Sicher, er hatte als Arzt verschiedene Auszeichnungen erhalten und einige seltene Krankheiten geheilt. Aber das war ihm nur gelungen, weil er Forschungsergebnisse gefälscht oder neuartige Therapien von Kollegen gestohlen hatte.

Und hier hatte er zwar das Baby vertrieben und so das Volk vor einer großen Hungersnot bewahrt. Aber dadurch hatte er auch den großen, todbringenden PLOPP verursacht.

Wie konnte man auf so ein Leben stolz sein?

Seit langer, langer Zeit fragte sich Betrüger-Schorschi zum ersten Mal, ob der Spruch „Überliste bestehende Gesetze, dann wird es dir gut gehen“ nicht womöglich falsch war? War es nicht viel eher so, dass dieses Motto ihn immer tiefer fallen ließ?

Aber konnte er, Betrüger-Schorschi, denn überhaupt anders handeln? Entsprach die List nicht seinem Wesen? Musste er nicht immer ein Betrüger bleiben?

Und machte nicht auch dieses Leben einen Sinn? Immerhin war ihm die Flupppuppe zugeflogen und hatte ihn hier her gebracht! Obwohl er ein jämmerlicher Betrüger war, hatte sie sich von seiner vorzüglich gekochten Suppe anlocken lassen. Die Flupppuppe hatte zu ihm, einem Betrüger, gehalten! Das bedeutete doch auch etwas!

Aber stand die Flupppuppe auch jetzt noch zu ihm? Zu einem Babyfeind und Herzblutkiller?

„Flupppuppe! Flupppuppe!“, rief Betrüger-Schorschi laut. „Hörst du mich?! Ich bin am Verdursten! Helfe mir! Oder möchtest du, dass ich sterbe? Findest du, ich habe schon genug Unheil angestiftet? Hast du mich deshalb zum Druiden gebracht, damit ich hier in der Wüste einen qualvollen Tod sterbe?

Ja wahrscheinlich, und wahrscheinlich hast du gut daran getan, Flupppuppe! Denn was für einen jämmerlichen Reisebegleiter hast du dir mit mir ausgesucht. ‚Seit heut’ ist auch mein Freund dabei / mit ihm gibt’s Ruhm und Geld wie Heu, / ich trage ihn jetzt übern Berg, / zu Abenteuern, Kind und Zwerg / auf meinen zarten, schlanken, / flugsichren Hinterpranken!’

Dass ich nicht lache! Ja, deine Pranken sind wohl zart, aber mit mir gibt’s nicht Heu, sondern Leid und Tod!“

Mutlos sank Betrüger-Schorschi auf den Sandboden.

Es war beinahe Nacht, und der Himmel hing wolkenverhangen und bedrohlich über der Wüste. Trotzdem wollte kein einziger Tropfen auf den Boden fallen. Mit einer letzten Geste bedeckte Betrüger-Schorschi seinen Oberkörper mit dem Beutel des Druiden und schlief kurz darauf ein.

 

„Dieser selbstmitleidige Mistkerl“, sagte Emily und trat zu dem schlafenden Betrüger-Schorschi. „So wird er niemals den Blauen Diamanten bekommen. Wem glaubt er eigentlich mit seinem Gejammer imponieren zu können? Uns läuft das Blut aus den Adern, ich schleppe mich jeden Meter mühsam weiter und weiß nicht, ob ich morgen meine Füße noch hoch bekomme. Und dieser Jammerlappen meint, ein Schläfchen einlegen zu müssen!“

Emily sammelte ihre Kräfte, um ihm mit dem Fuß einen Stoß in die Rippen verpassen zu können, als sie es sich plötzlich anders überlegte.

Vielleicht war Betrüger-Schorschi wirklich am Verdursten?

Wer wusste schon, wie lange es die Menschen von drüben ohne Flüssigkeit aushielten? Die Bewohner im Blauen Gebirge konnten es durchaus eine Woche ohne Essen und Trinken aushalten. Das, was sie viel dringender brauchten, war Herzblut. Aber war das bei den Menschen von drüben auch so?

Emily beugte sich hinab zu Betrüger-Schorschi. Seine Lippen waren aufgeplatzt und rissig. Er atmete flach und die Brust schien merkwürdig eingedrückt.

„Ich muss ihm wohl oder übel einen kleinen Schluck von meiner seltsamen Soße geben“, seufzte Emily. „Obwohl ich eigentlich selbst jeden Tropfen brauche. Aber so wie es aussieht, macht er es tatsächlich nicht mehr lange. Und in dem Fall braucht er den Saft dringender als ich.“

Emily holte die Flasche aus ihrem Beutel und drehte den Verschluss auf. Dann setzte sie die Flasche an Betrüger-Schorschis Lippen. Es brauchte lange, bis die zähe rote Flüssigkeit in seinen Mund lief. So lange, dass Emily wusste, dass sie ihm den letzten Schluck aus ihrer Flasche gegeben hatte.

 

Betrüger-Schorschi erwachte mit einem blutigen Geschmack im Mund. Wahrscheinlich war von seinen aufgerissenen Lippen ein wenig Blut auf seine Zunge gekommen.

Er richtete sich auf und war erstaunt, wie frisch er sich fühlte. Sicher, er hatte geschlafen. Aber er war komischerweise nicht nur erholt, sondern auch nicht mehr so durstig wie vorhin.

Es war immer noch Nacht. Einerseits war das gut, denn so hatte er durch seinen Schlaf nicht so viel Zeit verloren. Andererseits wusste er nicht, wie er sich in der Dunkelheit orientieren sollte. Und würde er so nicht auch gleich in eines der Löcher fallen, die die Üpsiolaner in den Sand gruben?

Doch, still!

Was war das?

Hörte er da nicht leise, durch den Sand gedämpfte Schritte?

„Hallo?!“, fragte Betrüger-Schorschi mit banger Stimme. „Ist da jemand?“

Niemand antwortete ihm.

Statt dessen ein Tapsen im Sand.

„Wer ist da?“, rief Betrüger-Schorschi.

Das Tapsen entfernte sich langsam von ihm.

War das ein Üpsiolaner?

Wenn ja, sollte er ihm folgen. Denn laut Druide waren die Üpsiolaner Nachbarn der Geizigen Geisel.

Bestimmt war es ein Üpsiolaner. Wer sonst?

Betrüger-Schorschi lauschte noch einmal, dann ging er dem leisen Tapsen hinterher und war bald dicht hinter dem Üpsiolaner. Das Wesen schien schwarz wie die Nacht zu sein, und je näher er ihm kam, umso weniger konnte er es erkennen.

Oder war es vielleicht eine Üpsiolanerin? Betrüger-Schorschi konnte nicht erklären, warum, aber er fand, dass von dem Wesen ein weiblicher Geruch ausging. Wieder versuchte er, zu dem Wesen Kontakt aufzunehmen, doch wieder antwortete es ihm nicht. Schweigsam liefen sie weiter. Betrüger-Schorschi freute sich auf das Tageslicht, denn dann würde er die stille Begleiterin endlich zu Gesicht bekommen.

Nachdem sie ungefähr zwei, drei Stunden auf diese Weise gegangen waren, hörte das Tapsen plötzlich auf. Machte die Üpsiolanerin eine Pause?

Immerhin war sie die letzten hundert Meter auffallend langsam geworden. Jeder Schritt schien ihr schwer gefallen zu sein. Ging den Üpsiolanern also doch auch das Blut aus? Eigentlich hatte er den Druiden so verstanden, dass die Üpsiolaner schon vor den anderen Bewohnern hier und insofern auch anderen Gesetzen unterworfen waren. Aber anscheinend stimmte das nicht.

Betrüger-Schorschi lauschte. Alles blieb still. Er ging ein paar Schritte in die Richtung, in der er die Üpsiolanerin vermutete. Nichts!

Er wedelte mit den Armen, um sie vielleicht greifen zu können. Aber um ihn herum war alles Luft. Wahrscheinlich war es in einem der Löcher verschwunden, von dem der Druide gesprochen hatte.

Ohne das Tapsen traute sich Betrüger-Schorschi in der Dunkelheit keinen Schritt mehr zu machen. Sicherheitshalber setzte sich Betrüger-Schorschi in den Wüstensand und wartete das Ende der Nacht ab.

Zum Glück dauerte es nicht mehr lange, bis die Dunkelheit Richtung Westen zog und die Morgendämmerung die Wüste in ein silbriges Licht tauchte. Löcher konnte er im Boden allerdings keine entdecken. Wohin war die Üpsiolanerin dann verschwunden?

Sobald es hell genug war, suchte Betrüger-Schorschi den Sand und seine niederen Dünen nach der Üpsiolanerin ab. Und da sah er sie: In etwa zwanzig Meter Entfernung lag sie als ein schwarz gekleidetes Bündel hinter einer Sandverwehung.

Er ging zu ihr und drehte sie auf den Rücken. Merkwürdig leicht war dieses Wesen. Er strich ihm die Haare aus dem Gesicht und fuhr zusammen: Seine nächtliche Führerin war keine Üpsiolanerin, sondern Emily!

Tausend Fragen schossen Betrüger-Schorschi gleichzeitig durch den Kopf: Warum war sie hier? Warum war sie nicht gleich mit ihm gekommen? War sie ihm gefolgt, weil sie ihm nicht getraut hatte, oder hatte sie ihm helfen wollen? Warum hatte sie die Gefahr der Reise auf sich genommen? Wäre sie nicht besser in der Nähe des Herzens geblieben? War dem Druiden etwas zugestoßen? Oder gab es Neuigkeiten über die Herzblutkammer?

Betrüger-Schorschi beugte sich zu Emily hinab. Sie hatte die Augen geschlossen, aber sie atmete noch.

Er hob ihren Arm ein wenig hoch, um ihren Puls zu fühlen, ließ ihn aber gleich wieder erschrocken fallen, weil er nur ein Stück dickes Papier in der Hand gehalten hatte!

Wie lange war er jetzt unterwegs?

Zweieinhalb Tage, wenn er richtig rechnete. Offensichtlich waren die drei Tage vom Druiden zu großzügig berechnet gewesen. Zumindest dann, wenn man sich vom Herzkessel entfernte.

Er kniete sich neben Emily. Ihr Kopf war noch aus Fleisch und Blut. Betrüger-Schorschi streichelte die Wange von Emily und flüsterte: „Das habe ich nicht gewollt! Wenn ich geahnt hätte, was mit euch geschieht, wenn das Baby den Kesselberg verlässt, hätte ich es in Ruhe gelassen! Ihr hättet mich besser in eure Geheimnisse einweihen sollen! Nie und nimmer hätte ich es riskiert, das Baby zu verärgern! Emily, du musst mir glauben, ich wollte euch nichts tun! Emily! Emily!“

Betrüger-Schorschi warf sich auf Emilys papierene Brust und schluchzte. „Emily, ich würde alles für euch tun, damit ihr wieder lebendig werdet! Alles!“

„Hör auf mit dem Gejammer“, stieß Emily mit großer Anstrengung hervor. „Es ist noch nicht zu spät! Solange der Druide nicht tot ist, ist noch nichts verloren! Geh zur Geizigen Geisel! Beeil dich!“

„Aber ich geh doch schon“, wimmerte Betrüger-Schorschi.

„Lass dich nicht von den Üpsiolanern aufhalten.“

Emilys Stimme war nur noch ein Wispern.

„Emily“, weinte Betrüger-Schorschi. „Ich verspreche dir, wenn es mir gelingt, den Blauen Diamanten noch rechtzeitig zum Druiden zu bringen, werde ich nie wieder jemanden betrügen! Ich werde ein guter Mensch werden! Der beste, den es jemals gab!“

„Hör auf mit der Angeberei ...“, sagte Emily langsam. „Hör auf mit deinem sentimentalen Gewimmer ... tu endlich etwas ... lass dich nicht von den Üpsiolanern aufhalten ...“

Emilys Stimme erstarb, und als Betrüger-Schorschi seinen Kopf hob, sah er, dass ihr Mund zu Papier geworden war.

Betrüger-Schorschi wollte gerade laut aufschluchzen, da fiel sein Blick auf Emilys Augen. Sie waren noch lebendig und sie schienen ihm sagen zu wollen: „Ich hasse Leute, die wegen jeder Kleinigkeit flennen!“

Da riss Betrüger-Schorschi sich zusammen. Er nickte Emily zu, und ihre Augen erstarrten zu schwarz bemaltem Papier.

Als Emily so als zweifarbige Anziehpuppe vor ihm lag, hatte er eine Idee. Er rollte sie zusammen und steckte sie in seine Tasche. Wenn es ihm gelang, den Blauen Diamanten noch rechtzeitig zum Druiden zu bringen, war Emily gleich bei ihnen und müsste nicht hier aufwachen. Und wenn es ihm nicht gelang, dann, ja dann konnte er sie, wenn er je wieder nach Hause kommen würde, als Andenken an seine Abenteuer im Blauen Gebirge als Poster an die Wand heften.