[Diese Seite drucken]

Salon Albert

Liebe Tiefseebewohner, liebe Palmina, liebe Kinder!

Jahrelang habe ich davon geträumt: Ich komme zurück an die Urstätte meines Wirkens und halte in der Tiefen See meinen literarischen Salon ab!

Wie ich sehe, haben sich viele Meeresbewohner eingefunden.
Deshalb: Ein begeistertes "Hallo" an alle Muscheln, Korallen und Seesterne! "Hallo" an Palmina, meine treueste Zuhörerin und Mitstreiterin. "Hallo" auch an den kleinen Katzenhai, der sich hinter dem Riff versteckt hat, um nicht die anderen Zuhörer zu erschrecken. Und nicht zuletzt auch ein dickes "Hallo" an euch, Leser und Leserinnen aus dem Internet. (Wie habt ihr es nur geschafft, so tief zu mir hinabzutauchen?)

Heute lese ich euch zwei Texte von einem Autor vor, der meiner Meinung nach sehr bekannt sein müsste, der es aber seltsamerweise nicht ist: Daniil Charms.
Charms wurde 1905 in Rußland (Petersburg) geboren und starb dort bereits 37 Jahre später.
Das war kein lustiges Leben in Rußland zu jener Zeit. Wenn jemand etwas sagte oder tat, was den Machthabern nicht passte, landete man im Gefängnis oder hieß es "Kopf ab."
Zuerst war es der Zar, der Charms Vater zu Tode verurteilte - glücklicherweise wurde das Urteil zu lebenslanger Haft umgeändert. Dann waren es die Sozialisten, die Charms selbst erst in die Verbannung und ein paar Jahre später ins Gefängnis schickten. Dort starb er 1942 unter bis heute nicht geklärten Umständen.
Wenn man bedenkt, dass Charms neben diesen unseligen Umständen viele Jahre seines Lebens am Hungertuch genagt hat, seine Texte so gut wie nie gedruckt und erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden, könnte man meinen, dass seine Geschichten vor Verbitterung nur so knistern.
Erstaunlicherweise sind sie aber ganz im Gegenteil voll von komischen Einfällen und sinnlosen Späßen. Daniil Charms ist ein Meister des Absurden. Und das heißt bei ihm: Der Inhalt der Geschichte verflüchtigt sich noch während des Lesens. Am Ende sieht man nur noch einen feinen Nebel durch das Zimmer wehen, der einem beweist, dass da doch einmal etwas gewesen sein muss.
Charms Geschichten enden deshalb auch öfters mit dem Satz: "Sprechen wir nicht weiter darüber". Oder: "Ich würde ja gerne weiterschreiben. Aber ich habe vergessen, was."
Wenn ihr darauf achtet, findet ihr sicher ein paar Autoren, die sich Charms Verflüchtigungs-Prinzip zu eigen gemacht haben.

Doch jetzt will ich euch endlich die erste Geschichte vorlesen. Sie heißt "Sonett". Nicht "so nett", sondern "Sonett". Das ist eine Gedichtform. Die Geschichte ist zwar kein Gedicht, aber sie könnte durchaus eins sein, wenn Charms sie als Gedicht geschrieben hätte. Man kann also sagen, dass die Geschichte ein Gedicht ist. Und das geht so:

Sonett

Mir ist mal etwas ganz Eigenartiges passiert: Ich hatte auf einmal vergessen, was eher kommt - sieben oder acht. Ich ging zu den Nachbarn und fragte, was sie meinten. Aber wie groß war meine Verwunderung, als sich plötzlich herausstellte, dass auch sie die Reihenfolge der Zahlen vergessen hatten.
1,2,3,4,5 und 6 wussten sie noch, aber wie weiter, das hatten sie vergessen.
Wir gingen zusammen zum Kaufhaus "Gastronom" in der Snamenskaja, Ecke Bassejnaja, und fragten die Kassiererin. Die Kassiererin lächelte traurig, nahm ein kleines Hämmerlein aus dem Mund, zog die Luft durch die Nase ein und sagte: "Meines Erachtens kommt sieben in dem Fall nach acht, wen acht nach sieben kommt."
Erfreut bedankten wir uns bei der Kassiererin und liefen hinaus. Doch plötzlich, als wir uns die Auskunft der Kassiererin genauer überlegten, verstummten wir wieder, denn sie kam uns völlig sinnlos vor.
Was tun? Wir gingen in den Sommergarten und fingen an, die Bäume zu zählen. Doch als wir bei sechs angelangt waren, blieben wir stehen und gerieten in Streit. Nach Ansicht der einen folgte sieben, nach Ansicht der anderen acht.
Wir würden noch lange gestritten haben, aber zum Glück fiel ein Kind von der Bank und brach sich beide Kiefer. Das brachte uns von unserem Streit ab.
Da trennten wir uns und gingen nach Hause.

"Das mit dem Kiefer finde ich eine prima Idee", meldet sich Perlmuschel-Otto zu Wort. Er sitzt auf seiner Schatzkiste und spuckt hin- und wieder Perlen auf den Grund. "Mit Kindern kann ich sowieso nichts anfangen."
"Blubb", macht Palmina. "Das ist gemein, dass ich mit meiner Glasglocke so schlecht sprechen kann! Ich bin nämlich überhaupt nicht deiner Meinung, Perlmuschel-Otto! Das mit dem gebrochenen Kiefer ist der blödeste Ausgang, den ich mir für die Geschichte denken kann. Der Autor hatte einfach keine andere Idee für den Schluss gehabt, und dann musste ein Kind dafür herhalten."
"Was hast du gesagt?" fragt Perlmuschel-Otto. "Man versteht dich so schlecht unter deiner Haube!"
"Ich habe Palmina gut verstanden", mischt sich Albert ins Gespräch. "Palmina hat ganz recht. Auf Kosten der Kinder eine Geschichte enden lassen ist ein mieser Trick. Aber so weit ich Daniil Charms kenne, konnte er Kinder trotzdem ganz gut leiden. Das war nur ein kleiner Witz am Rande."
"Also ist er doch verbittert gewesen!" grummelt Palmina unter ihrer Haube
.
"Vielleicht ein bisschen. Ein klitzekleines bisschen", gibt Albert zu. "Aber ich muss zu seiner Verteidigung sagen, dass er mehrere Kinderbücher geschrieben hat. Für seine Mitarbeit bei der Kinderzeitung 'Josh', das heißt auf deutsch 'Igel' wurde er sogar verhaftet. Vielleicht hat er sich im Moment der Verhaftung den Schluss mit dem zerbrochenen Kinder-Kiefer ausgedacht."
"Wenn die Zeitung nicht 'Igel' geheißen hätte, wäre ihm sicher nichts passiert", meldete sich ein kleiner orangener Seestern zu Wort.
"Wir kommen vom Thema ab", sagt Albert ein wenig ungeduldig. Zum ersten Mal, seit er wieder zu Hause ist, fühlt er sich ein wenig unwohl. "Am besten lese ich euch jetzt eine zweite Geschichte vor. Vielleicht leuchtet euch bei dieser Geschichte ein, dass Charms eigentlich witzige Einfälle hat, auch wenn er zuweilen etwas schroff sein kann.

Sie heißt:

Wie hieß dieser Vogel doch gleich?

Ein Engländer konnte und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie dieser Vogel heißt.

"Es ist ein Kruckuck", sagte er. "Ach nein, nicht Kruckuck - Kurckuck! Oder nein, nicht Kurckuck, sondern Kurickuck. Verdammt! Nicht Kurickuck - Kiruckuck. Quatsch, auch nicht Kiruckuck, sondern Kuruckuck."
Soll ich Ihnen eine Geschichte erzählen von diesem Kruckuck? Das heißt, nicht Kruckuck - Kurckuck! Oder nein, nicht Kurckuck, sondern Kurickuck. Verdammt! Nicht Kurickuck - Kuruckuck. Quatsch, nicht Kuruckuck, sondern Kuruckruck! Nein, wieder verkehrt! Kurickiruck? Nein, nicht Kurickiruck! Kuruckiruck? Nein, auch verkehrt!

Ich habe vergessen, wie dieser Vogel heißt. Aber hätte ich es nicht vergessen, dann würde ich Ihnen eine Geschichte erzählen von diesem Kruckurckurickiruckuruckruck.

 

" Die Geschichte wiederholt sich ja ab der Mitte wie eine CD, die einen Sprung hat," ruft Palmina durch ihre Taucherglocke.
"Man kann auch sagen, dass sie sich in sich selbst spiegelt," wirft die Qualle Albert ein. "Und was sieht man in einem solchen Fall?"
" Immer dasselbe. Man kann die Geschichte nur beenden, indem man sie vergisst, oder nicht weiter davon spricht."
"Aber das Gegenteil davon ist doch der Fall", widerspricht eine Koralle. "Die Geschichte geht einem nicht mehr aus dem Ohr! Sie macht einen ganz schwindelig. Wenn man nicht aufpasst, verdrillt sie einem sämtliche Äste."
"Und sie macht überhaupt keinen Sinn!" ruft eine Wasserschnecke empört. "Wenn ich mir schon so viel Zeit zum Zuhören nehme, dann möchte ich auch etwas Nützliches erfahren."
"Was wäre denn für Sie nützlich?" fragt Albert interessiert.
"Nützlich wäre für mich zum Beispiel, zu erfahren, wie ich eine Koralle hoch klettern kann, ohne mich daran zu verletzen. - Aber von 'Kurickucks' oder 'Krickurucks' oder wie das auch immer heißt, habe ich noch nie etwas gehört. Damit habe ich nichts zu tun!"
"Die Geschichte erzählt von der Unmöglichkeit, sich an den Namen eines Vogels zu erinnern", erklärt Palmina. "Die Geschichte handelt von einem Kuckuck. Genau deshalb gefällt mir die Geschichte. Sie erzählt von einem Kuckuck, ohne das Wort überhaupt zu erwähnen. Trotzdem weiß jeder, wovon die Rede ist."
"Ist ein Kuckuck nicht ein Vogel, der über Wasser fliegen kann?" fragt die Schnecke skeptisch?"
Palmina nickt unter ihrer Haube.
"Dann frage ich mich, warum Albert uns eine Geschichte von etwas vorliest, das wir nie zu Gesicht bekommen werden", schreit jetzt die Schnecke. "Das ist eine Frechheit! Wahrscheinlich will er uns nur zeigen, was wir alles nicht kennen! Er will uns vorführen und neidisch machen!"
"Das stimmt doch nicht!" widerspricht Albert. "Ich gebe zu, dass ich mir nicht überlegt habe, dass die Kuckucks-Geschichte hier unten vielleicht nicht das passende Thema ist, aber ich selbst lese oft Geschichten über Dinge, die ich noch nie gehört und gesehen habe. Das macht für mich eigentlich erst den Reiz des Lesens aus: Etwas Neues zu erfahren."
Die Schnecke verzieht sich beleidigt in ihr Haus. Die anderen Zuhörer schauen etwas ratlos. Sie wissen nicht, ob sie der Schnecke oder Albert recht geben sollen.
Schließlich meldet sich Perlmuschel-Otto zu Wort: "Wenn man beim Vorlesen nur auf den Klang achtet, hört sich die Geschichte verdammt gut an! Beinahe gleich, wie wenn ich mit meinen beiden Schalen klatsche."
"Ich habe auch nur dem Klang gelauscht", säuselte der Seestern. "Ich glaube ohnehin nicht, dass die Geschichte einen anderen als einen musikalischen Inhalt hat. Aber genau deshalb finde ich sie ein wenig zu hart. Weniger K- und U-Laute und dafür mehr S- und O-Laute in der Geschichte fände ich angenehmer."
"Darüber lässt sich nicht streiten", grummelt Otto. "Das ist Geschmackssache."
"Wie wäre es, wenn wir die Geschichte einfach umschreiben?" schlägt Palmina vor.
"Die Geschichte geht dann so:

Wie hieß dieses Seegras doch gleich?

Ein Hummer konnte und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie dieses Seegras hieß. "Es ist das Zosterka ", sagte er. "Ach nein, nicht Zosterka - Zortera! Oder nein, nicht Zortera, sondern Zurtera. Verdammt! Nicht Zurtera - Zirtura. Quatsch, auch nicht Zirtura, sondern Zorteratera."
Soll ich Ihnen eine Geschichte erzählen von diesem Zortera? Das heißt, nicht Zortera Zosterka - Zurtera! Oder nein, nicht Zurtera, sondern Zirtura. Verdammt! Nicht Zirtura - Zorteratera. Quatsch, nicht Zorteratera, sondern Zorterturita! Nein, wieder verkehrt! Zortuterita? Nein, nicht Zertuterita! Zorterturita? Nein, auch verkehrt!

Ich habe vergessen, wie dieses Seegras heißt. Aber hätte ich es nicht vergessen, dann würde ich Ihnen eine Geschichte erzählen von diesem Zorterturitertura."

"Bravo!" ruft die Schnecke begeistert. Anscheinend war sie während Palminas Vortrag wieder aus ihrem Haus herausgekrochen. "Ich liebe Zostera! So heißt das Seegras nämlich. Das habe ich, nebenbei bemerket, schon nach dem ersten Satz gewusst!" Stolz richtet sich die Schnecke auf und dreht ihre Fühler in alle Richtungen.
"Mir gefällt diese Geschichte auch besser ", stimmt der Seestern der Schnecke zu. "Obwohl sie mir immer noch eine Idee zu hart ist."
"Also mir hat die erste Geschichte besser gefallen", sagte Perlenmuschel-Otto. "Aber da ich ein harmoniesüchtiges Wesen bin, lasse ich mir auch die von Palmina gefallen. Im übrigen habe ich noch nie viel von Hummern gehalten. Die Geschichte erscheint mir deshalb sehr realistisch.
"
Die Qualle Albert sieht Palmina dankbar an und sagt: "Da haben wir ja noch mal Glück gehabt. Ich hätte es nämlich nicht schön gefunden, wieder bei Rossipotti zu Hause im Wasserglas zu sitzen und denken zu müssen, dass ich in meiner echten Heimat so wenig Erfolg mit meinem literarischen Salon gehabt habe. Aber mit Palminas Nachsatz findet ihr Daniil Charms doch ein wenig in Ordnung?"
"Durchaus charmant!" sagt die Schnecke. "Auch mir ist es schon oft passiert, dass ich nicht mehr wusste, wie etwas heißt. Aber wie kann man nur den Namen der Zostera vergessen! Nein, so etwas Ulkiges kann wirklich nur einem Hummer passieren!"

* * *

Die beiden Geschichten von Daniil Charms in der Übersetzung von Ilse Tschörtner wurden uns freundlicherweise vom Luchterhand Literaturverlag zur Verfügung gestellt. Ihr findet sie beide in dem Band:

Daniil Charms: Zwischenfälle. Luchterhand Literaturverlag, München 2003. 366 Seiten.

 © Rossipotti No. 3, Mai 2004