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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher

 

Rossipottis Leibspeise

Lieblingsbuch

vorgestellt von Helma Hörath

* * *

Das Abenteuer

"Das echte Abenteuer stinkt immer noch nach Kohl und Keller!" sagt Rossipotti und stürzt sich damit ohne lange zu fackeln in unser aktuelles Thema.

"Wohl kaum!" sage ich. "Erstens stinken Abenteuer nicht, sondern duften. Und zweitens duften sie nicht nach Kohl und Keller, sondern nach Wildnis, Schweiß, Dreck und einer starken Brise Meersalz."

"Die echten eben nicht!" beharrt Rossipotti. "Die echten Abenteuer finden nicht in der Wildnis oder auf dem Deck eines Piratenschiffes statt, sondern hier, direkt vor unserer Nase!"

Ich runzle skeptisch die Stirn.

"Gut, gut!" sagt Rossipotti und zieht mit seinen großen Nasenlöchern Luft ein. "Bei uns riecht es in der Tat im Moment mehr nach Papier, Buchumschlägen und heiß gelaufenen Computerkabeln, aber keine hundert Meter weiter spielt sich gerade ein großes Abenteuer ab!"

"Ach, und welches?"

"Die Katze Tanja spielt mit ihrem neuen Ball!"

"Pah!" sage ich verächtlich. "Das soll ein Abenteuer sein?"

"Der Ball verschwindet", sagt Rossipotti und sieht mich erregt an.

"Interessant!" sage ich abschätzig und frage mich, ob Rossipotti das geeignete Krokodil für diese Ausgabe ist.

"Da wird der Himmel plötzlich dunkel und die Bäume biegen sich im herannahenden Sturm", fährt Rossipotti seine Geschichte fort. "Und Tanja entdeckt am Ende der Straße ein altes, allein stehendes Haus ..."

"So, so", sage ich, "und aus einem Fenster im oberen Stock schaut wahrscheinlich ein Gespenst heraus und winkt mit dem Ball!"

"Falsch!" sagt Rossipotti. "Ich erzähle gerade keine Horror- , sondern eine Abenteuergeschichte! Und deshalb schaut aus dem Fenster auch kein Gespenst, sondern nur eine brennende Glühlampe!"

"Interessant", sage ich und wundere mich über Rossipottis Interesse an dieser banalen Geschichte.

"Tanja klingelt, die Tür öffnet sich leise und die Katze geht hinein. Drinnen ist es kalt und dunkel. Aber aus einer Tür im oberen Stockwerk dringt ja zum Glück das Licht der Glühbirne. Tanja geht nach oben und wird von einem grimmig aussehenden Hund empfangen." Rossipotti macht eine dramatische Pause. "Und der Hund hält tatsächlich ihren Ball in der Hand!"

"Der Hund sieht die Katze Tanja, er geht auf sie los und zerfleischt sie!" lasse ich mich mitreißen. Beim bloßen Gedanken daran, stellen sich mir die Gräten auf.

"Quatsch!" sagt Rossipotti. "Dann wäre das Abenteuer ja vorbei, bevor es richtig begonnen hat. Nein, der Hund sagt: 'Auf dich habe ich schon gewartet!'"

"Und?" frage ich gespannt. "Was passiert dann?"

Rossipotti sieht mich amüsiert an und sagt: "Wird nicht verraten. Aber auf jeden Fall riecht es nach Kohl und Keller!"

Rotraut Susanne Berner: Das Abenteuer. (Bilderbuch) Beltz & Gelberg. Weinheim/Basel 1996.

* * *

Spritztour

"Wahrscheinlich hast du recht, dass sich auch viele Abenteuer hier bei uns abspielen und nicht nur im wilden Irgendwo", überlege ich und knüpfe damit an unsere vorige Unterhaltung an. "Sonst würden wir selbst ja gar keine Abenteuer erleben!"

"Und das wäre wirklich ungerecht", sagt Rossipotti. "Es kommt eben nur auf das Raster an, das man anlegt. Mit groben Rastern kann man nur die großen Abenteuer wie 'Gefangen im Eismeer' oder den 'Schatz im Silbersee' erkennen. Mit einem feineren Raster empfindet man es schon als Abenteuer, wenn man sich in einer fremden Stadt verirrt. Und mit einem noch feineren Raster, klingt es schon nach Abenteuer, wenn man sich morgens statt Marmelade Honig aufs Brot schmiert."

"Das hört sich eher zwanghaft an", kommentiere ich Rossipottis letztes Beispiel. "So was kann nur jemand als Abenteuer empfinden, der die kleinste Abweichung seines normalen Alltags nicht verkraftet."

"Möglich", sagt Rossipotti. "Aber sind Abenteuer anfangs nicht immer nur störende Abweichungen vom Alltag? Erst im Nachhinein wird einem ein Ereignis doch zum Abenteuer."

"So betrachtet sind ja sogar unsere Unterhaltungen abenteuerlich", stelle ich fest.

"Warum?" fragt Rossipotti. "Hast du heute etwa einen Einfall, der so unalltäglich ist, dass er mich vom Hocker haut?"

Ich werfe Rossipotti einen wütenden Blick zu und frage mich, ob es "Gefangen im Eismeer" oder im Angesicht eines Krokodils gefährlicher ist.

"Reden wir vielleicht doch lieber über die großen Abenteuer", versucht Rossipotti einzulenken. "Hast du einen Einfall, welches wir vorstellen können?"

Wenn Rossipotti glaubt, ich spiele jetzt den lieben Fisch, hat er sich geschnitten!

"Also doch wieder Alltag", sagt Rossipottil. "Du bist beleidigt und ich habe die tollen Einfälle!"

"Von wegen!" sage ich reflexartig. "Wer stellt hier denn die meisten Titel vor?!"

"Wenn du dich meinst, fällt es dir sicher nicht schwer, mir sofort ein passendes Buch zu nennen!"

"Natürlich nicht", sage ich und überlege fieberhaft, welches großartige Abenteuerbuch ich in letzter Zeit gelesen habe. Es muss so toll sein, dass es Rossipotti vom Hocker haut.

"Und?" hakt Rossipotti nach. "Wie heißt es denn?"

Mist!
Mir fallen gerade nur Fantasy-Schinken ein oder die alten bekannten Abenteuer-Bücher. Warum gibt es auch keine guten neuen Abenteuer-Bücher?

"Wusste ich es doch!" triumphiert Rossipotti. "Im Gegensatz zu dir fallen mir gleich mindestens drei tolle Bücher ein, zum Beispiel ..."

"Spritztour!" falle ich Rossipotti schnell ins Wort.
Mir ist da nämlich gerade ein genialer Gedanke gekommen! Ich werde Rossipotti "Spritztour" als Roman verkaufen, in dem es um ganz große Abenteuer geht! Und wenn er angebissen hat, werde ich es ihm vor die Füße werfen und sagen: "Ätsch, reingefallen. Das Buch handelt doch wieder nur von den lästigen Abweichungen des Alltags!"

"Spritztour?" fragt Rossipotti. "Hört sich nicht gerade abenteuerlich an."

"Ist es aber", schwärme ich dem ahnungslosen Krokodil vor. "Es fängt alles ganz harmlos an: Der Jugendliche Ian macht einen Ferienjob in einer amerikanischen Donuts-Filiale und langweilt sich zu Tode. Das einzige, was ihn wachhält ist der Gedanke an das nächste Wochenende, an dem er zum ersten Mal seine Chat-Freundin Danielle treffen wird. Weil sie nach den Fotos atemberaubend aussieht und sie ihm eine heiße Nacht versprochen hat, will er mit seinem Auto für sein allererste Date mit einem Mädchen sogar quer durch Amerika fahren."

"Und wer von unseren Lesern interessiert sich für die heiße Nacht eines verklemmten Jugendlichen?!" fragt Rossipotti.

"Das ist doch nur die Rahmenhandlung für einen wahnsinnig abenteuerlichen Roman!" sage ich und fahre vollmundig fort: "Ian hat nämlich nur drei Tage Zeit um insgesamt zweitausend Kilometer hin und wieder zurück zu fahren. Das wäre an sich kein Problem. Aber seine beiden Freunde Lance und Felicia, hängen sich an ihn und bringen die ganze Reise durcheinander. Sie lenken ihn von der Route ab, zwingen ihn wegen einer Lebensmittelvergiftung ins Krankenhaus und schaffen es sogar, dass man sie von der Polizei verfolgt. Du siehst: Das ist Abenteuer pur, mitten in der Zivilisation!"

Nach meiner kleinen Rede hole ich tief Luft, um noch eines drauf zu setzen:
"Alles ist außerdem unglaublich witzig erzählt, schrillend komisch sozusagen, und trotzdem ist es auch ungeheuer spannend, allein schon wegen des Count downs ..."

"Wow! Da hast du dich aber ins Zeug gelegt", sagt Rossipotti und zieht unter seinem Bambusstuhl eine zerfledderte Ausgabe des Buchs 'Spritztour' hervor. "Ich hätte von dir erwartet, dass du das Buch unter den 'lästigen Abweichungen des Alltags' einordnest! Aber dass du erkannt hast, dass das Buch im Gegenteil von großen Abenteuern handelt, das haut mich jetzt wirklich vom Hocker!"

Andy Behrens: Spritztour. Aus dem Amerikanischen von Heike Brandt. Beltz & Gelberg. Weinheim Basel 2008.

* * *

Die blaue 2

"Was denkst du, welche Gattung abenteuerlicher ist: Der Roman oder das Bilderbuch?" fragt Rossipotti.

"Das Bilderbuch!" schätze ich.
Hätte Rossipotti mir sonst vorhin gleich von Rotraut Susanne Berners Bilderbuch vorgeschwärmt?

"Woher weißt du das?" fragt Rossipotti und schaut mich beinahe beleidigt an. "Ich war mir sicher, dass du auf den Roman tippst, die klassische Abenteuergattung."

"Psychologisches Einfühlungsvermögen!" antworte ich knapp. "Würde dir auch nicht schaden!"

"Was?!" sagt Rossipotti und funkelt mich gefährlich an. "Hältst du dich jetzt etwa schon für Jerry Magoon?"

"Wer ist das denn?"

"Offensichtlich niemand, den du kennst", sagt Rossipotti. "Und das liegt daran, dass du dich immer hinter deiner Tastatur vergräbst und nie rausgehst und eigene Abenteuer erlebst!"

"Immerhin bin ich dir bis in den Amazonas nachgereist, um einen alten Piratenschatz auszugraben!"

"Ich erinnere mich. Aber wie ich gehört habe, probierst du seit Tagen, das Schloss der Kiste zu knacken!" sagt Rossipotti ungnädig.

"Wolltest du nicht erklären, warum die Gattung Bilderbuch so abenteuerlich ist?" lenke ich vom Thema ab.

"Gut, dass du mich daran erinnerst!" Rossipotti hat den Köder ohne Probleme gefressen. Er beugt sich zu mir vor und flüstert mit rauer Stimme: "Das Bilderbuch ist deshalb häufig abenteuerlicher, weil der Abenteuerroman seit längerem beinahe ausgestorben ist! Plötzlich waren tausende von Abenteuer heimatlos. Sie haben Asyl beantragt, und die Bilderbücher waren bereit, sie aufzunehmen!"

"Was ist das denn für ein Quatsch?!" sage ich abweisend. "Mit dieser Behauptung kommst du keine fünf Schritte weit!"

"Mir doch egal!" sagt Rossipotti gelassen. "Es reicht mir, wenn ich damit zum nächsten Buch komme!"
Rossipotti nimmt ein weißes, quadratisches Buch mit einem großen blauen Kreis auf dem Cover in die Hand: "Die blaue 2 von David A. Carter ist - außer dem roten Punkt und den 600 schwarzen Punkten vom selben Künstler - das aufregendste Pop-up-Buch, das ich bisher gesehen habe."

"Schon möglich", sage ich. "Aber was ist daran abenteuerlich?"

"Die raffinierte Papierkonstruktion, die sich in ungeahnte Bereiche vorwagt, die Heldin des Buchs, die blaue 2, die auf jeder Seite in neue, spannende Irrfahrten verwickelt wird und nicht zuletzt die vieldimensionalen, poppigen Kunstwerke, die den Betrachter von Anfang bis zum Schluss in den Bann ziehen!" erklärt Rossipotti. Und schwärmend fügt er noch hinzu: "Wer zu Hause auf seinem Sofa eine verblüffende Expedition über Vulkane, durch verschlungene Pfade und Phantasiemaschinen machen möchte, sollte sich dieses Buch unbedingt besorgen!"

David A. Carter: Die blaue 2. Ein Pop-up-Buch. Boje Verlag. Köln 2008.

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Operation Red Jericho

Rossipotti sitzt auf seinem Bambushocker und frisst sich durch einen Stapel alter Ausgaben von Tom Sawyer, Robin Hood, Robinson Crusoe und der Schatzinsel, und ich blättere gerade in dem wirklich erstaunlichen Buch "Die blaue 2" als plötzlich Palmina ins Zimmer gestürzt kommt.

"Das Schloss!" ruft sie außer Atem. "Ich habe das Schloss von deiner Schatzkiste geknackt!"

"Wirklich?!" rufe ich und vor Aufregung fällt mir "Die blaue 2" aus der Flosse. "Und? Was ist in der Kiste drin? Dukaten, Goldbarren, Diamanten?"

"Nicht ganz!" sagt Palmina.

"Der Kompass von Kapitän Hook?" fragt Rossipotti. "Oder doch nur Glasperlen?"

"Nein!"

"Nun sag schon!" drägel ich.

"Ein Buch!"

"Ein Buch?!" frage ich entsetzt. "Die ganze Arbeit für ein Buch?"

"Für ein ganz besonders feines Buch", sagt Palmina. "Es hat einen roten Leineneinband und wird von einem schwarzen Gummiband zusammen gehalten."

"Ein Notizbuch also?" frage ich hoffnungsvoll.
Vielleicht enthält das Notizbuch ja den Hinweis auf einen Schatz?!

"Ich glaube schon", antwortet Palmina und holt hinter ihrem Rücken das Schatz-Buch vor. "Auf jeden Fall macht es einen sehr geheimnisvollen Eindruck."

Ich nehme das Buch und lese auf dem Deckel: "Operation Red Jericho."
Unten klebt ein brauner Zettel mit dem Vermerk: Geheime Mission.
Ich blättere schnell die Notizen durch und entdecke viele Karten, vergilbte Fotos und streng vertrauliche Pläne von Schiffen, Kampfgeräten und merkwürdigen technischen Erfindungen. Und da, fast am Ende finde ich tatsächlich auch eine Schatzkarte! Zumindest steht da auf einem Zettel "Wenzi Island" und auf englisch "Sheng Fats Piratenflotte".

"Was gefunden?" fragt Rossipotti und zwinkert seltsam mit den Augen.

"Nö!" sage ich. Falls ich mit dieser Karte einen Schatz finde, werde ich ihn ganz sicher nicht mit Rossipotti teilen!

"Das hätte mich auch gewundert", sagt Rossipotti. "Ich dachte nämlich, das Buch handelt von zwei Kindern, die an Bord des geheimnisvollen Forschungsschiffs Expedient nach ihren vermissten Eltern suchen und dabei in einen Strudel gefährlicher Ereignisse geraten."

"Stimmt ja auch!" sagt Palmina und zeigt auf den Klappentext. "Ein gewisser Joshua Mowll hat in dem Archiv seiner verstorbenen Tante die ganzen Notizen gefunden und zu einem Buch zusammen gestellt. Ich habe vorhin ein bisschen reingelesen und es scheint sehr spannend zu sein."

"Es ist auf jeden Fall eines der wenigen neuen Abenteuerbücher, die auf dem Markt sind. Der Seltenheitswert macht es also kostbarer als einen Diamanten! - Aber wenn du es nicht haben willst, ich nehme es gerne."
Rossipotti greift nach dem Buch und beißt schnell eine Kante davon ab.

Ich schreie auf, reiße Rossipotti das Buch aus der Hand und verziehe mich damit in meinen Rahmenwinkel. Schon bald hat mich das Buch so gefangen genommen, dass ich es sogar verschmerzen kann, dass es keine Schatzkarte, sondern nur die Karte zu Sheng Fats Räuberhöhle enthält.

Joshua Mowll: Operation Red Jericho. Cecile Dressler Verlag. Hamburg 2008.

 

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Lieblingsbuch

vorgestellt von Helma Hörath

Spectacelte Miracelte - als ob's ein Wunder sei Oder war's ein Abenteuer nebenbei?

Prince William, Maximilian Minsky and Me. Eine Liebesgeschichte mit Hindernissen

Vielleicht hast du das auch schon erlebt: Was auf den ersten Blick so leicht aussieht, entpuppt sich beim zweiten Hinschauen als superschwer. So erging es mir bei der Aufgabe, Kinderbücher mit Abenteuerliteratur auszuwählen. Ich suchte, nahm ein Buch in die Hand, blätterte und las, fand es gut, dann wieder nicht oder glaubte ich, dass die nächste Geschichte noch viel besser sei. Also, ich fand nichts Passendes.

Was ist denn nur ein Abenteuer?
Das fragte ich mich wirklich in diesem Augenblick. "Aber das ist doch völlig klar", würdest du vielleicht zu mir sagen, wenn wir uns jetzt gerade gegenüber sitzen würden. "Ein Buch, in dem Abenteuer spannend beschrieben werden, das ist ein Abenteuerbuch." Richtig. Und was ist ein Abenteuer? Und jetzt würdest du vielleicht antworten: "Also, wenn Harry Potter sich das erste Mal mit seinem Zauberstab in die Lüfte erhebt; wenn Robin Hood den Sheriff von Nottingham besiegt; wenn der fliegende Löwe mit seinen Freunden den Betrüger Mr. Knister zur Strecke bringt."
Ja, natürlich, alles, was du aufgezählt hast, das sind außergewöhnliche Situationen. Diese Ereignisse oder ihr Ausgang können von den betroffenen Personen meist vorher nicht eingeschätzt werden. Sie entführen sie in eine fremde Welt. Um wieder in die heimische, bekannte Umwelt zurückkehren zu können, muss der Held - das ist der, der handelt - zahlreiche Gefahren passieren, die all seinen Mut herausfordern, die manchmal ausweglos erscheinen und die ihm am Ende einen neuen Weg zeigen, die ihn stärken, in denen er anderen hilft, einen Ausweg zu finden … Ja, alles das macht ein Abenteuer aus.
Aber im ganz normalen Alltag von dir und mir, gibt es denn da auch Abenteuer? Oder: Muss man eine neue Tierart im Amazonas-Gebiet oder in den tiefsten Tiefen des Ozeans entdecken, um ein Abenteuer bestanden zu haben? Muss man zur Raumstation ins All geflogen sein, um ein Abenteuer erlebt zu haben? Also, was ist ein Abenteuer?
Unser heutiges Wort Abenteuer leitet sich von dem mittelhochdeutschen aventiure und dem französischen aventure her. Beide haben ihre Wurzeln in dem lateinischen Verb advenire = geschehen, sich ereignen, etwas, was geschieht, sich ereignet. Demnach ist ein Abenteuer etwas, was dem Menschen (oder zum Beispiel einem Tier, dem der Erzählende einer Geschichte menschliche Eigenschaften verleiht) zustößt, etwas durch das er zum Handeln gezwungen wird, dessen Ausgang er vielleicht erhofft oder erahnt, aber vor dem Ende noch nicht kennt.

Wie mir eine Schnecke half
Vor kurzem sah ich eine Schnecke an der Wand neben der Tür meines Wohnhauses. Für einen Moment verspürte ich das Bedürfnis, sie vom Stein abzuziehen und auf die Blätter des Busches neben der Eingangstreppe zu setzen. Aber ich ließ sie an ihrem Platz. Gestern besuchte ich eine Nachbarin im ersten Stock. Ich musste ein wenig auf ihr Öffnen der Wohnungstür warten und schaute dabei aus dem Treppenfenster. Und wen seh' ich da? Die Schnecke! Sie ist also die ganze Zeit die Hauswand weiter nach oben "geklettert". Warum macht sie das? Leider kann sie mir diese Frage nicht beantworten. Ich stand da, beobachtete die Schnecke und ich musste unwillkürlich an meine noch immer unerledigte Aufgabe für die neue Rossipotti-Ausgabe denken. Ich überlegte mir: Die Schnecke ist ein richtiger Abenteurer. Das ist nämlich jemand, der sich in Situationen begibt, in denen ihm das Unerwartete, Gefahrvolle und alle Kräfte Abverlangende begegnen kann, ja begegnen muss. Es ist ein Schritt aus der Ordnung, aus dem Überlieferten, aus dem Festgefügten. Das kann sich überall ereignen, im Urlaub, zu Hause in der Familie, in der Schule, bei der Arbeit, in der Freizeit. Also jeder von uns kann ein Abenteurer sein. Und jetzt hatte ich meine Richtung für die Büchersuche gefunden. Ich traf meine Auswahl, was auf einmal ganz problemlos und schnell vor sich ging.
Vielleicht wird dir meine Zusammenstellung seltsam erscheinen. Aber bitte, wage dich mit mir in das Abenteuer meiner Bücherliste!

Prince William, Maximilian Minsky und Me

Hier geht es um Kinder in Berlin, deren Eltern aus den USA und Deutschland kommen und verschiedene Muttersprachen haben. So wird zu Hause in deutscher und englischer Sprache erzählt, gestritten und gelacht. Aber nicht nur damit wächst Nelly Sue Edelmeister auf. Sie ist eine brillante Schülerin. Weltraumforscherin will sie werden. Zu ihrem täglichen Leben gehören deshalb Bücher über schwarze Löcher, die Milchstraße und das All zu ihrem täglichen Lesestoff. Was anderes interessiert sie eigentlich nicht. Gerade bereitet sie sich auf ihre Bat-Mizwa vor. Das ist die festliche Aufnahme der jungen Erwachsenen in die jüdische Gemeinschaft vor. (Es ist so ähnlich wie die Konfirmation in den evangelischen Glaubensgemeinschaften.) Wieder einmal streitet sie sich mit der Mutter. Sie möchte nämlich unbedingt ein teures Mikroskop haben. Der Vater aber hat nur hin und wieder einen Auftritt als Musiker. Die Mutter muss die Familie allein mit ihrem Verdienst als Journalistin über Wasser halten. Gerade an diesem Tag hat sie einen großen Auftrag verloren. Da sieht die 13jährige Sue im Fernsehen einen Bericht über den Tod der englischen Prinzessin Diana. Und da passiert es, dass sie sich in den Prinzen William verliebt. Kaum zu glauben, aber wahr. Was Nelly alles anstellt, um in den Buckingham Palast und zu ihrem Prinzen zu gelangen, das erfährst du in dem Buch:

Jetzt aber kommt die Herausforderung für dich: Die in deutscher Sprache beschriebene Handlung wird natürlich erst komplett durch die Dialoge. Diese aber sind in englischer Sprache. Du brauchst ein wenig Wagemut, vielleicht oder ganz sicher auch ein Wörterbuch. Dann kann eigentlich nichts schief gehen.

Holly-Jane Rahlens: Prince William, Maximilian Minsky and Me. Rowohlt Verlag. Hamburg 2005.

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Jenny-Kalbsknochen und Peter-Osterhase oder Krach in der Klasse

In dieser Geschichte um Jenny und Peter läuft einiges verquer und das gleich vom allerersten Schultag an. Jenny Müller ist für ihr Alter von sechs Jahren sehr groß. Und nicht nur das, sie kann auch schon lesen, was sie voll Stolz der Lehrerin und den Mitschülern gleich in der ersten Vorstellungsrunde mitteilen muss.
"Das Riesenkalb kann schon lesen", sagt ein Mitschüler, der Uwe heißt. "Sie ist nicht nur groß, sie hat auch spitze Knochen", sagt Rita, die sich als erstes Kind vorgestellt hat. "Jenny ist ein Kalbsknochen." Und so wird Jenny der Kalbsknochen, der von allen geärgert wird. Jeden Morgen muss sich Jenny zwingen zur Schule zu gehen. Eine Freundin hat sie auch sicher deshalb noch nicht. Dann fällt ihr auf, dass auch Peter einen Spitznamen verpasst bekommen hat. Weil er immer Mohrrüben kaut und weil er zwei relativ große Schneidezähne hat, rufen ihn die anderen Mitschüler Peter-Osterhase. Sie bemerkt noch etwas, nämlich dass er genau so allein ist wie sie. Endlich wagt sie es, ihn anzusprechen. Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen und bietet ihm ihre Freundschaft an. Gemeinsam wehren sie sich, nicht immer mit den richtigen Mitteln. Aber am Ende haben alle etwas dazu gelernt, sogar die Lehrerin.

Margot Schroeder: Jenny-Kalbsknochen und Peter-Osterhase oder Krach in der Klasse. Mit Bildern von Sabine Metz. Reihe "rotfuchs" im Rowohlt Verlag. Hamburg 1985. (Erstlesebuch).

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Abenteuerbücher deiner Großeltern

Blauvogel - Wahlsohn der Irokesen

Manche Abenteuergeschichten werden von jeder Kindergeneration gelesen und geliebt. Frag mal deine Eltern, was sie in deinem Alter gelesen haben! Wenn ich an meine Kindheit denke, dann fallen mir zwei Bücher sofort ein. Das eine ist "Die Schatzinsel" von Robert Louis Stevenson (das erste Mal auf dem englischen Büchermarkt 1883 zu finden) und "Blauvogel" von Anna Jürgens mit dem Ersterscheinungsjahr 1950. Jim Hawkins und seine Erlebnisse auf der Schatzinsel sagen dir bestimmt etwas. Aber Blauvogel, den Wahlsohn der Irokesen, kennst du vielleicht noch nicht. Und da diese Geschichte für mich das schönste Indianerbuch ist, das ich kenne, muss ich es dir vorstellen.
Die Handlung spielt 1755 in Nordamerika, als die weißen Siedler nicht nur miteinander Krieg führten, sondern den indianischen Ureinwohnern ihren Lebensraum Stück für Stück wegnahmen. Wenn in den Kämpfen zwischen Weißen und Rothäuten, wie die Indianer wegen ihrer Kriegsbemalung abfällig von den eingewanderten Europäern genannt wurden, ein Häuptlingssohn getötet wurde, dann stahlen die Indianer sozusagen als Ersatz und Ausgleich einen weißen Jungen, der die Stelle des Toten einzunehmen hatte. Dieses Schicksal widerfährt Georg. Gemeinsam mit Blauvogel, so wird er von seiner neuen Familie wegen seiner Augenfarbe getauft, tauchen wir Leser ganz weit in das Leben der Indianer ein, erfahren sehr viel über den Zusammenhalt der Familien, über die Spiele der Kinder, über die Traditionen ... Und alles bleibt sehr spannend, bis zuletzt. Denn nach Jahren schließen Weiße und Indianer einen Vertrag, der den Austausch der ehemaligen Kinder - auch auf der anderen Seite leben jugendliche Indianer in den Familien - regelt. Wieder wird Georg gezwungen, eine vertraute und von ihm geliebte Welt zu verlassen. Wenn du wissen willst, wie er sich selbst entscheidet, ob er wieder Georg wird oder doch Blauvogel bleiben will, dann empfehle ich dir, dieses Buch zu lesen. Es hat zahlreiche Nachauflagen dieses Buches gegeben. Du findest es auch heute in der Buchhandlung.

Anna Jürgen: Blauvogel - Wahlsohn der Irokesen.
Das erste Mal ist es im Kinderbuchverlag Berlin mit Zeichnungen von Kurt Zimmermann erschienen. Auf dem aktuellen Büchermarkt gibt es eine Ausgabe vom Beltz Verlag mit den Illustrationen von Martha Hofmann-Ptak.

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Das große Spectaculum: Kinder spielen Mittelalter

Ja, manchmal wünsche ich mir auch, in andere Welten zu tauchen, große Reisen zu machen ... stinkreich zu sein. Und ich stelle mir das als ein tolles Abenteuer vor. Aber wenn man so viel Geld hat, dass einem nichts zu teuer ist, dass man in jedes Land der Erde sofort und augenblicklich reisen kann, ob das dann noch abenteuerlich ist? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, wo der Begriff "stinkreich" herkommt. Er hat seine Wurzeln natürlich in alter Zeit.
Genau nachlesen kannst du das in dem Buch "Das große Spectaculum". Ja sicher, in dem Buch geht es auch um Ritter, Turniere, Kampfgetümmel, schöne Burgfräulein. Aber jetzt will ich dich nicht in eine Ritterburg entführen, sondern in ein Bauernhaus mitnehmen. Dort ist die Bäuerin gerade dabei, ihren für die Familie selbst gewebten Stoff zu färben. Die vorgegebene Kleiderordnung lässt ihr dabei nur die Farben grau und blau zu. Dazu benutzt sie eine einheimische Pflanze, die noch heute in Deutschland zu finden ist. Sie heißt Waid. Die Waidpflanze bestimmte viele Jahrhunderte das Leben der Färber und der Händler zum Beispiel in der Stadt Erfurt. Die Färbeprozedur ist sehr langwierig, mit Sud, einem dicken Pflanzenbrei kochen, mit Einweichen, mit Trocknen ... Zuerst haben die Stoffteile nicht die gewünschte blaue oder blaugrüne Farbe. Die erhalten sie, in dem die zum Trocknen ausgelegten Stoffe mit Hölzern geschlagen werden. So gelangt mehr Sauerstoff in die Fäden und sie färben sich schließlich blau. In dieser alten Handwerkstechnik findest du die Wurzeln des Begriffes "grün und blau schlagen". Auch Wurzeln eines anderen von uns heute ganz selbstverständlich gebrauchten Begriffes geht auf die Färberei im Mittelalter zurück. Pfiffige Händler erkannten, dass sich die Teile der Waidpflanze zu Kugeln drehen und in großen Mengen in Lagerhäusern bis zu ihrer endgültigen Verwendung (sie wurden in diesem Zustand auch in andere Länder verkauft) aufbewahren ließen. Unter einer Bedingung, sie mussten immer leicht feucht gehalten werden und das geschah meist mit Abfallwasser, auch mit Urin. Sicher kannst du dir vorstellen, was für ein "Duft", um nicht zu sagen Gestank, aus den Lagerhäusern der Stoffhändler herverkroch. Wenn die Leute durch eine so furchtbar riechende Straße gehen mussten, dann war ihnen klar, dass der Inhalt der Lagerhäuser dem Besitzer einen großen Gewinn bringen. Er war jetzt schon stinkreich.
Nachlesen kannst du das und vieles, vieles mehr in dem wunderbaren Sach-, Geschichten- und Beschäftigungsbuch.

Kristina Hoffmann-Pieper, Hans Jürgen und Bernhard Schön: Das große Spectaculum: Kinder spielen Mittelalter. Mit Illustrationen von Susanne Szesny. Ökotopia Verlag Münster 1995.

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Zu Besuch bei Meister Hokusai in Japan. Eine Abenteuer-Lese-Reise in den Fernen Osten

Was die Ritter in Europa darstellten, das waren die Samurai in Japan, einer fernen asiatischen Inselwelt, weit, weit im Osten unseres Erdballs. Ganz fasziniert blätterte ich in dem Band 94 der Buchreihe WAS IST WAS und betrachtete die Welt der Samurai, ihren Aufstieg, ihren Niedergang und ihre für uns Europäer seltsam anmutende Kultur, die ihre Auswirkungen bis in die unmittelbare Neuzeit hat. Die Spuren der alten Samurai-Tugenden sind sogar heute noch in allen Schichten der japanischen Bevölkerung zu finden. Dieses Sachbuch kann ich dir nur empfehlen.
Aber wirklich ans Herz lege ich dir ein anderes, dessen Geschichte auch in der Samurai-Zeit spielt und von Hokusai, dem großen Meister des Farbholzschnittes berichtet. Zwar sind die Figuren der beiden Kinder Kiku und Yoshi sowie ihre Erlebnisse auf dem Weg zu ihrem Großvater, eben diesem Meisterkünstler, ausgedacht, aber Katsushika Hokusai selbst hat wirklich gelebt und zwar von 1760 bis 1849. Er ist der berühmteste Künstler Japans. Sein Lieblingsmotiv war der heilige Berg Fujiyama. 100 verschiedene Ansichten vom Fuji fertigte er an. Einige davon und andere Bilder des Meister Hokusai mit Wasserfällen, mit Pflanzen und Vögeln, mit riesigen Wellen und geschwungenen Brücken in schwindelerregenden Höhen kannst du dir in diesem richtig schön aufgemachten Buch ansehen. Nebenbei erfährst du auch noch etwas vom Leben im Japan vor 200 Jahren. Auf den letzten beiden Seiten kannst du auch etwas über das wirkliche Leben des Künstlers lesen. Auch ein Glossar ist dort abgedruckt. In solch einem Glossar sind unbekannte Wörter in alphabetischer Reihenfolge mit den Erklärungen ihrer Inhalte aufgeführt. Dort findest du auch eine kurze Beschreibung der künstlerischen Holzschnitt-Technik.

Julia Altmann (Hrsg.): Zu Besuch bei Meister Hokusai in Japan. Erschienen in der Reihe "Abenteuer Kunst". Prestel Verlag. München, Berlin, London, New York 2001.

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Kochschule für Kids
Leckere Rezepte aus der ganzen Welt

Zuletzt geht's immer um die Wurscht.
Ach, übrigens, du musst gar nicht in die weite Ferne reisen, um in eine unbekannte, geheimnisvolle, aufregende Welt einzutauchen. Öffne die Küchentür und du kannst das größte Abenteuer deines Lebens bestehen! Vielleicht ist dir nicht klar, was man beim Kochen alles erleben kann. Probier es selbst aus! Dann wirst du merken, dass man in der Küche nicht nur viel arbeiten muss, sondern dass beim Kochen auch Mut, Erfindertum und Ausdauer gefragt sind, dass es manchmal gut ist, Erfahrungen der Eltern oder Großeltern zu übernehmen und dass es manchmal richtig und wichtig ist, neue Kochwege zu beschreiten. Auch das Kochen ist eine Expedition, bei der man oft nicht genau weiß, was am Ende herauskommen wird.
Also alles Angaben, die wir auch zum Definieren des Wortes Abenteuer gebraucht haben. Damit du die Gefahren dieser Abenteuerreise aber doch vorher schon etwas eingrenzen kannst, empfehle ich dir das Buch:

Katharine Ibbs: Kochschule für Kids. Mit Fotos von Howard Shooter. Dorling Kindersley Verlag. München 2005.

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So, nun brauchst du aber endlich Zeit, um dir das eine oder andere von mir hier vorgestellte Buch in der nächsten Kinderbibliothek oder in der Buchhandlung in deiner Nähe zu besorgen. Ich wünsche dir große Abenteuer beim Lesen, beim Kochen, beim Schließen von Freundschaften, beim Ausprobieren alter Menschheitserfahrungen …
Noch einen Rat: Ein Abenteurer muss immer neugierig bleiben.
Darum werde ich jetzt nachschauen, wo die Schnecke abgeblieben ist. Wenn es dich interessiert, dann berichte ich dir das nächste Mal von meinen Entdeckungen auf der Schneckenspur. Darauf freut sich schon heute deine Helma

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 © Rossipotti No. 18, Juni 2008