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Rossipottis 11 Uhr Termin

Jetzt geht es los

Lutz Rathenow

Herr Boll will eine Geschichte erzählen. Er ist leider so heiser, dass er gerade noch krächzen kann. Frau Sellerie bietet sich gern als Ersatz an. Auf dem Weg zu uns verrenkt sie sich dummerweise den Fuß. Hören wir solange Frau Knorr zu. Sie fängt gleich an. Zuvor muss sie noch die Fingernägel fertig lackieren. Sie malt grüne Punkte auf lila Untergrund. Das dauert. Herr Knorr könnte einspringen. Aber er hat zu tun. Stupst seine Zähne zum vierten Mal der Reihe nach an. Um zu testen, ob wirklich keiner weh tut. Er schont seine Zähne und will sie keinem unnötigen Luftzug aussetzen. Deshalb öffnet er den Mund kaum noch, was auch er als ärgerlich empfindet. Aber Opfer für die Gesundheit müssen sein. Nehmen wir Fräulein Huschhusch. Sie sitzt im Sessel und klappt seufzend ein Buch zusammen. Sie hat es zu Ende gelesen. Da schlägt sie es auf und beginnt erneut von Anfang an. Fräulein Huschhusch weiß nämlich nicht mehr, ob sie sich noch an den Inhalt erinnert. Bliebe Herr Kühn. Den lässt leider die Frau nicht weg. Er muss Fenster putzen, den Hund trockenlegen, die Teppichfransen beschneiden und beim Gasherd die Ausströmdüsen mit Wattestäbchen reinigen. Herrn Wanderer übergehen wir. In seiner Freizeit sitzt er stets im, kniet vor oder liegt unter dem Auto. Frau Redlich würde uns gern etwas erzählen. Wirklich, sehr gern. Bedauerlicherweise muss sie gerade jetzt zu einer Sitzung. Sie steckt schnell ein frisches Taschentuch ein, damit sie ihren Mund rasch verdecken kann, wenn es aus ihr gähnt. Der Rest der Erwachsenen hockt vor den Fernsehapparaten und zappt sich durch die Sender. Man will ja am nächsten Tag mitreden und sagen können, wie schlecht das Programm war. "Lass diese Späße!" knurren die aufmerksamen Eltern, wenn wir ihren Kopf aus der Blickrichtung Bildschirm drehen. Und jene, die gerade am Einschlafen waren, machen nur "Hä?!" Nun reicht die Warterei. Wir schleichen auf die Straße und erleben selber die Geschichten, die uns keiner erzählen will.

* * *

Die Geschichte hat Lutz Rathenow Rossipotti freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Sie ist in dem Buch Es war einmal ein Wolf. Geschichten für Kinder jeglichen Alters im Burgverlag zu Weißensee in Thüringen im Jahr 2000 erschienen. In dem Buch findet ihr auf 145 Seiten noch viele andere skurrile und lustige Geschichten von Lutz Rathenow. Das Buch ist nur beim Burgverlag zu Weißensee, Langer Damm 2 in 99631 Weißensee erhältlich. Wenn ihr es bestellen möchtet, muss sich deshalb euer Buchhändler oder ihr euch selbst direkt an den Verlag wenden.

 

Die folgende Minigeschichte ist auch von Lutz Rathenow, allerdings aus einem anderen Buch. Das Bild dazu hat Egbert Herfurth gezeichnet.

Eine Ameise spaziert

Eine Ameise spaziert versehentlich
in den geöffneten Mund einer Maus.
Die Maus kriecht in einen Käse.
Den Käse schluckt eine Katze.
Die Katze springt in einen Hut.
Den Hut setzt sich ein Mann auf den Kopf
und steigt auf ein Fahrrad.
Das Rad fährt in einen bereitgestellten Güterzugwagen.
An den koppelt man eine Lokomotive,
die auf ein großes Schiff rollt.
Das Schiff schaukelt über das riesenblaue Meer.
Bis nach Kuba. Amerika. Grönland. Zum Nordpol.
Oder zur unentdeckten Insel, die nur ich kenne.
Ein Kran hebt dort den Zug vom Schiff.
Die Lok wird abgehängt und verlässt den Güterwagen.
Der Mann auf dem Rad öffnet die Tür und radelt hinaus.
Von der langen Reise ist ihm schwindelig. Er kippt um.
Der Hut stürzt vom Kopf.
Die Katze fällt aus dem Hut.
Der Käse rollert aus der Katze.
Die Maus springt aus dem Käse.
Eine Ameise spaziert aus der Maus und freut sich,
dass die Sonne scheint.

 

Aus: Lutz Rathenow/Egbert Herfurth: Der Himmel ist heut blau. Der Kinderbuch Verlag Berlin 2000. 49 Seiten. Neu: Das Buch wird übrigens neu aufgelegt. Ab Oktober 2004 könnt ihr das Buch für den sagenhaften Preis von 1,50 Euro beim Auer Verlag unter der ISBN-Nummer 340303118 bestellen!

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Die Geschichte von Alexa Hennig von Lange ist eine Geburtstagsgeschichte und hätte deshalb auch gut in die letzte Rossipotti-Ausgabe "Geburtstagsfieber" gepaßt. Da der Geburtstag aber sehr erstaunlich ausgeht, ist sie auch für diese Ausgabe wunderbar geeignet. Lest selbst:

Papa

Alexa Hennig von Lange

Eigentlich wohnt Lene bei Mama. Doch manchmal besucht Lene ihren Papa - wenn er Zeit hat. Immer, wenn Lene bei Papa ist, kommen viele Leute. Papa sagt: "Das sind alles meine Freunde." Heute zeigt Papa auf Lene und sagt: "Da ist das Geburtstagskind." Die Freunde heben Lene hoch, schwingen sie durch die Luft, bis alle lachen, und jemand sagt: "Pass auf, sie ist doch keine Puppe."
Lene will lieber im Flur stehen bleiben. Aber Papa schiebt sie vor sich her ins große Zimmer.
Drinnen brennen Kerzen. Vor den Fenstern ist es Nacht. Die Freunde sitzen dicht an dicht auf bunten Kissen, rauchen Zigaretten und hören laut Musik. Da platzen einem ja die Ohren, denkt Lene. Sie sitzt allein auf einem Kissen, und Papa hat ihr ein Glas Apfelsaft gegeben. In der Mitte vom Zimmer dreht sich eine Frau schnell im Kreis. Dann noch schneller. Lene sieht mit offenem Mund zu, und dabei rutscht ihr das Glas aus der Hand. Jetzt ist ihre Hose nass und die Hände kleben.
Lene will lieber nicht mehr mit Papa und den Freunden im Zimmer sein. Sie geht raus in den Flur, und an den Wänden entlang stehen noch mehr Freunde. Zwischen ihnen schlängelt sie sich hindurch. Papa sagt immer: "Wenn du müde bist, legst du dich ins Bett."
Die Tür vom Schlafzimmer ist angelehnt. Drinnen ist es dunkel, und der Lichtschalter ist viel zu weit oben. Da kommt Lene nicht dran. Vorsichtig geht Lene weiter. Die Musik kommt durch die Wände, das Lachen von Papa und den Freunden auch. Da ist Papas weiche Decke. Doch bevor Lene sich darunter legen kann, wird sie schon wieder auf den Flur hinausgeschoben. "Lass uns mal allein, Kleine", sagt eine Frauenstimme.
Ich bin nicht mehr klein!, denkt Lene. Schließlich hat sie heute Geburtstag und ist fünf Jahre alt.
Lene weiß nicht, wohin sie gehen soll. Darum setzt sie sich in die Küche. Da ist es nicht so laut. Nur ein Freund steht in der Ecke und umarmt Papas große Pflanze. "Warum machst du das?" fragt Lene. Ihr ist kalt, die Strumpfhose ist nass und juckt ganz fürchterlich an den Beinen. Der Freund murmelt: "Meine liebe, liebe Pflanze. Du bist auch nur ein grüner Mensch." Lenes Augen klappen immer wieder zu. Trotzdem guckt sie zu dem großen, braunen Brot, das auf dem Küchentisch liegt. Es ist glatt und glänzt, und an einer Seite fehlt nur der kleine Kanten. Und da, im Inneren des Brotes, brennt tatsächlich noch Licht!
Lene spaziert über die Tischplatte, direkt in das Brot hinein. Das geht ganz leicht. Da, wo der Kanten war, ist nämlich ein Eingang, der direkt in die Brothöhle führt. In der Höhle gibt es einen Tisch und zwei Stühle. Die Wände und der Boden sind warm und weich. Auf dem Tisch stehen ein bunter Geburtstagskuchen mit fünf Kerzen, ein Teller mit Wurst und Käse und ein Glas Milch. Jetzt merkt Lene, dass sie großen Hunger hat. Den Kuchen will sie nicht gleich anknabbern. Darum reißt sie sich erst mal Brot von der Brothöhlenwand und legt ordentlich Käse und Wurst darauf. Das schmeckt gut. Danach trinkt sie ein paar Schlucke Milch - zum Runterspülen. Aber nicht alles, damit sie später noch etwas hat.
Nun ist Lene aber ziemlich müde. Zum Glück gibt es in der Brothöhle auch ein Bett. Schnell zieht Lene ihre Juckstrumpfhose aus und hängt sie über den Stuhl, damit sie über Nacht trocknen kann.
Gerade als Lene unter der Bettdecke liegt, kommt Papa durch den Brothöhleneingang gekrochen. Den Teddy und die Puppe hat er auch gleich mitgebracht. Zu dritt singen sie Lene das Geburtstagslied, und danach essen alle den Kuchen auf. Wenn man keine Zahnbürste dabeihat, darf man das eigentlich nicht machen. "Heute ist das egal", sagt Papa. Lene hat schließlich Geburtstag. Als der Kuchen aufgegessen ist, setzt sich Papa zu Lene auf die Bettkante. Er lacht und sagt: "Du bist mein Geburtstagskind." Dann gibt er Lene einen Gutenachtkuss und knipst im Brot das Licht aus.
Papa legt sich neben Lenes Bett auf den weichen Boden. Er nimmt ihre Hand und flüstert: "Dich lasse ich bis morgen früh nicht mehr los." Der Teddy und die Puppe liegen rechts und links von Lenes Kopf, und dann träumen alle noch einmal von dem schönen Geburtstagsfest.

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Die Geschichte hat uns freundlicherweise der Rowohlt Taschenbuch Verlag zur Verfügung gestellt. Sie steht in einem Sammelband mit vielen Gute-Nacht-Geschichten, die unterschiedliche Autoren geschrieben haben. Unter ihnen auch Jo Pestum, Matrina Dierks, Jürg Schubiger und Paul Maar, von dem ihr in dieser Rossipotti-Ausgabe auch ein Interview findet. (Zum Interview )
Falls ihr euch noch mehrere Geschichten anschauen wollt, findet ihr sie in dem Sammelband:

Paul Maar, Angela Sommer-Bodenburg, Alexa Hennig von Lange u.a. mit Illustrationen von Jutta Bücker: Ich bin aber noch gar nicht müde. Geschichten für wache Kinder. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg. Februar 2004. 245 Seiten.

 

 

 © Rossipotti No. 3, Mai 2004