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Salon Albert

 

Hallo Kinder,

herzlich willkommen in meinem literarischen Salon!
Wie ich sehe, habt ihr euch heute in die hintersten Stuhlreihen verdrückt. Kommt doch ein wenig näher! Ich verspreche euch, dass dieses Mal keine Nashörner durch den Raum stampfen werden!
Ihr zögert immer noch? Nun, vielleicht kommt ihr nach vorne, wenn ich euch sage, dass heute der große Traum-Zauberer Boris Vian zu uns kommt? Und ich glaube kaum, dass ihr alle seine Tricks aus 10 Metern Entfernung sehen könnt.
Schön Palmina, dass du den Anfang machst. Ah, Clara und Sophie sind auch wieder da! Und jetzt wagt sich selbst der kleine Leon in die erste Reihe!
Das ist toll! Das ist schön!
Dann können wir jetzt ja mit unserer Vorstellung beginnen:

Darf ich vorstellen: Boris Vian, Traum-Zauberer ohne Hut mit Stift und Papier.

Ein freudiger Trompetenschrei ertönt, (Boris Vian ist ein leidenschaftlicher Jazztrompeter, Anmerkung der Redaktion) und auf die Bühne tritt ein schlanker, hochgewachsener Mann in einem dunklen Anzug. In seinem schmalen Gesicht stehen wild, sehnsüchtig, aber auch nachdenklich blickende Augen, die an der Nase anzustoßen scheinen. Die untere Hälfte des Gesichts ist durch einen schönen, vollen Mund verziert.

Zauberer: Liebe Kinder, die traurige Botschaft gleich zu Beginn: Ich bin nicht Boris Vian. Boris Vian ist leider verhindert. Und das schon seit 46 Jahren, denn genau so lange liegt er bereits auf einem französischen Friedhof.

Aufgeregtes Murmeln im Publikum.

Zauberer: Doch jetzt die gute Botschaft: Vian hat längst nicht alles in sein Grab mitgenommen! Nicht seine Chansons und seine Opern, nicht seine Theaterstücke und Filme. Vor allem aber hat er uns seine Geschichten und Romane hier gelassen, mit denen es sich nun wunderbar zaubern lässt.
Nicht zuletzt hat er natürlich auch mich zurück gelassen! Wer ich bin? Ein Traumbild von Boris Vian. Als solches reise ich durch die Welt und bringe anderen das Zaubern bei. Wollt ihr jetzt in meine Kunst eingeweiht werden?

Publikum ruft laut "ja" und stampft aufgeregt mit den Füßen.

Zauberer: Dann aufgepasst: Was habe ich in meinen Händen?

Leon: Stift und Papier!

Zauberer: Richtig! (schreibt mit dem Stift etwas auf das Papier.) Und jetzt?

Leon: (liest langsam) "Der Schaum der Tage."

Zauberer: Ganz genau!

Palmina: Das war nicht gezaubert, sondern geschrieben!

Zauberer: Langsam, langsam. Der Zauber kommt erst noch. (Schnell kritzelt der Mann einige Sätze aufs Papier. Als er fertig ist, hebt er das Papier triumphierend in die Höhe, die Trompete lacht hell. Dann hält er Palmina den Zettel unter die Nase) Nun ist das gezaubert?

Palmina: (liest laut)

Aus: Der Schaum der Tage, zweites Kapitel:

"Die Aalpastete ist hervorragend", sagte Chick. "Wer hat dich auf die Idee gebracht?"
"Nicolas hatte die Idee", sagte Colin. "Es gibt da einen Aal - oder vielmehr, es gab einen, der jeden Tag durch den Kaltwasserhahn in sein Waschbecken kam."
"Das ist eigenartig", sagte Chick. "Was wollte er denn da?"
"Der Aal streckte seinen Kopf heraus und leerte die Zahnpastatube, indem er mit den Zähnen daraufdrückte. Nicolas benutzt amerikanische Ananas-Zahnpasta, und das hat den Aal wohl gereizt."
"Und wie hat er ihn gefangen?" fragte Chick.

"Er hat anstelle der Tube eine ganze Ananas hingelegt. Wenn der Aal an der Zahnpasta naschte, konnte er sie hinunterschlucken und seinen Kopf sofort wieder zurückziehen, aber mit der Ananas ging das nicht, und je stärker er zog, desto tiefer bohrten sich seine Zähne in die Frucht. Nicolas ..."
Colin stockte.
"Nicolas tat was ...?" fragte Chick.
"Ich möchte es lieber nicht erzählen, es könnte dir den Appetit verderben."
"Los doch", sagte Chick, "ich hab sowieso fast keinen mehr."
"Nicolas betrat in diesem Augenblick sein Zimmer. Er trennte dem Aal mit einer Rasierklinge den Kopf ab. Dann drehte er den Hahn auf, und der Rest kam zum Vorschein."
"War das alles?" fragte Chick. "Reich mir noch eimal die Pastete. Hoffentlich hat der Aal noch zahlreiche Verwandte in der Leitung."
"Nicolas hat jetzt Himbeer-Zahnpasta hingelegt, um das festzustellen ..."

Ein paar Lacher im Publikum. Einige klatschen. Der Mann verbeugt sich.

Palmina: Ich gebe zu, nicht schlecht für den Anfang.

Zauberer: Nicht schlecht? Das war ein wunderbares Zauberkunststück! Oder kannst du so einfach mal einen Aal aus dem Wasserhahn zaubern?

Palmina: (lenkt ab) Und was kannst du noch?

Zauberer: Viel. Sehr viel. Dinge, von denen du nicht einmal zu träumen wagst!

Palmina: Ich habe keine Angst vor Träumen.

Zauberer: Auch nicht vor Träumen, in denen deine Mutter gierig fauliges Fleisch frisst, in dem schon lauter fette Maden sitzen?

Angeekelter Aufschrei aus dem Publikum.

Palmina: Es gibt Schlimmeres.

Zauberer: Du bist ein vorwitziges Mädchen! Gerade recht für mein nächstes Zauberkunststück. Darf ich dich auf die Bühne bitten?

Clara: Geh nicht, Palmina! Wer weiß, ob er dich in ein Kaninchen verzaubert?

Palmina: Blödsinn! Hast du nicht gesehen, dass er nur mit Stift und Papier zaubert?

Palmina geht auf die Bühne. Das Spotlight wird auf sie gerichtet. Der Zauberer nimmt aus seiner Hosentasche ein großes Tuch und breitet es über Palmina aus. Das Licht geht aus und die Trompete spielt ein trauriges Lied. Das Licht geht wieder an, der Zauberer zieht das Tuch weg und ...

Clara: Das hast du jetzt davon! Du bist zwar kein Kaninchen, aber du sitzt in einem Käfig wie ein Kaninchen!

Palmina: Die Luft hier ist so dünn. Das Atmen fällt mir schwer.

Zauberer: Und wenn schon. Du hast immerhin noch Platz, dich zu bewegen.

Leon: Seht doch, der Käfig wird kleiner!

Sophie: Palmina, du musst herauskommen, sonst erdrücken dich die Stäbe!

Palmina: Ich bekomme fast keine Luft mehr!

Der Käfig ist so klein geworden, dass die Stäbe Palminas Körper berühren. Im Zuschauerraum herrscht gespannte Stille.

Clara: (ruft aufgeregt) Hallo du! Zauberer oder Traumbild von Boris Vian oder wer immer du auch bist: Du musst Palmina helfen!

Zauberer: Mal sehen, ob ich etwas für sie tun kann ... Ah, in meiner Tasche habe ich noch eine kleine blaue Schnecke gefunden. Na, Palmina, wie wäre es damit? Wenn du die blaue Schnecke isst, verschwindet der Käfig und du kannst wieder frei atmen!

Palmina sagt nichts, nickt aber leicht mit dem Kopf. Das Atmen fällt ihr immer schwerer. Der Mann beugt sich jetzt zu ihr hinunter und steckt ihr die kleine blaue Schnecke in den Mund. Dann breitet er wieder das große Tuch über den Käfig. Es wird dunkel und die Trompete gibt ein undefinierbares Quietschen von sich. Es wird wieder hell, der Zauberer zieht das Tuch weg und zu sehen ist: Kein Käfig, aber Palmina!

Die Menge applaudiert. Palmina geht mit weißem Gesicht wieder zu ihrem Platz.

Clara und Sophie: (rufen) Wir wollen schöne Träume sehen! Keine Alpträume!"

Zauberer: Wollt ihr den Traum von der Frau sehen, in deren Lunge eine Blume wächst?

Alle: Nein!

Zauberer: Wollt ihr den Traum von einer anderen Frau sehen, die mit einem "Herzausreißer" durch die Pariser Buchläden zieht?

Alle: Nein!

Zauberer: Wollt ihr dann vielleicht den Traum sehen, in dem Professor Frißtfrißt einen kranken Stuhl behandelt?

Alle: Ja! Das klingt lustig!

Zauberer: Gut! Dann lese ich euch jetzt ein Kapitel aus Vians "Herbst in Peking" vor. In dem Buch passieren so viele erstaunliche Dinge, dass es hier viel zu lange dauern würde, euch in die Handlung richtig einzuweihen. Nur soviel: Ein paar Ingenieure, Sekretärinnen, Ärzte und Bauarbeiter werden in die Wüste von "Exopotamien" geschickt, um dort eine Eisenbahnlinie zu bauen. - Mit seinem Titel fängt das Buch übrigens nichts an, und auch die Eisenbahnlinie interessiert es nur am Rande. Viel wesentlicher sind dagegen die losen Beziehungen zwischen den Menschen und den Dingen, das Nichts, eigenwillige Modellflugzeuge und fiebrige Stühle.
Nun also aufgepasst: Es folgt Szene D 6, in der ein Stuhl eine Hauptrolle spielt:

Herbst in Peking

D

6

"Hören Sie zu", sagte Cornélius Onte.
Er sprach mit undeutlicher, unsicherer Stimme und seine Augenlider fielen zu. Frißtfrist machte ein empörtes Gesicht.
"Genügt Ihnen Ihr Evipan nicht? Wollen Sie trotzdem wieder mit Ihren berühmten Vorschlägen anfangen?"
"Aber nein!" sagte Corn
élius. "Es ist ... dieser ... Stuhl ..."
"Na und?" sagte Frißtfrißt. "Er ist krank. Wir behandeln ihn. Sie wissen doch, was ein Krankenhaus ist, oder nicht?"
"Oh!" wimmerte Cornélius. "Nehmen Sie ihn weg! Er hat die ganze Nacht über geknarrt ..."
Der Assistenzarzt, der neben Frißtfrißt stand, schien ebenfalls mit den Nerven am Ende zu sein.
"Stimmt das?" fragte ihn der Professor.
Der Assistenzarzt bejahte es durch ein Zeichen.
"Man könnte ihn an die Luft setzen", sagte er. "Es ist ein alter Stuhl."
"Es ist ein Stuhl Louis XV", sagte Frißtfrißt. "Und außerdem, wer von uns hat denn gesagt, dass er Fieber hat, Sie oder ich?"
"Ich", sagte der Assistenzarzt.
Er war jedesmal wütend, wenn Frißtfrißt sich um den Stuhl kümmerte.
"Dann behandeln Sie ihn."
"Aber ich werde verrückt!" wimmerte Cornélius.
"Umso besser", sagte Frißtfrist. "Dann werden Sie mir auch nicht mehr auf die Nerven gehen mit Ihren Vorschlägen. Geben Sie ihm wieder eine Spritze", fügte er hinzu, wobei er sich an den Assistenzart wandte und dabei auf Cornélius zeigte.
"Auuu ... Auuuuu ...", beklagte sich Cornélius. "Ich habe schon kein Gefühl mehr in meinem Hinterbacken!"
In diesem Augenblick gab der Stuhl eine gräßliche Serie knochigen Knarrens von sich. Ein widerlicher Geruch breitete sich um sein Bett herum aus.
"So ist es die ganze Nacht ..." murmelte Cornélius. "Verlegen Sie mich bitte."
"Wir stopfen Sie in ein Zimmer mit nur zwei Betten, und trotzdem sind Sie nicht zufrieden?" protestierte der Assistenzarzt.'
"Zwei Betten und ein Stuhl, der stinkt", sagte Cornélius.
"Oh, es reicht", sagte der Assistenzarzt. "Glauben Sie vielleicht, dass Sie gut riechen?"
"Seien Sie höflich zu meinem Kranken", wies ihn Frißtfrist zurecht. "Was hat er denn, dieser Stuhl? Etwa eine perforierende Okklusion?"
"Ich glaube", sagte der Assistenzarzt. "Außerdem hat er Hochdruck, 49."
"Gut", sagte Frißtfrist. "Sie wissen ja, was Sie zu tun haben. Auf Wiedersehen."
Er drückte Cornélius kräftig auf die Nase, um ihn zum Lachen zu bringen und ging hinaus.

Publikum ist erst still und klatscht dann begeistert. Die Trompete schreit "vivat, vivat" und macht hintereinander mehrer Saltos. Der Zauberer verbeugt sich bescheiden. Dann faltet er das Tuch zusammen, fängt die Trompete ein und macht sich bereit zum Gehen.

Alle: Wie? Du gehst schon? Du kannst uns doch jetzt nicht allein lassen!

Clara: Was passiert mit dem Stuhl?

Palmina: Was passiert mit der Frau und der Blume?

Leon: Was passiert mit der Himbeerzahnpasta?

Sophie: Und was ist mit dem Herzausreißer?

Alle: Wir wollen mehr sehen! Wir wollen alles von Boris Vian sehen!

Der Mann lächelt und zaubert aus seiner Tasche mehrere Bücher. Die Bücher setzen sich zuerst auf seine beiden Schultern, dann flattern sie quer durch den Raum. Die Kinder springen in die Luft, um sie zu erhaschen, und jedes ergattert eines.
Bald sind die Kinder in ihre Bücher vertieft, bald wird Palmina durchs Zimmer fliegen, Leon mit Hufeisen durch den Raum galoppieren und bald werden aus Claras und Sophies Ohren Orchideen wachsen.

Und der Zauberer?
Der ist auf dem Weg zu euch! Hört ihr nicht seine Trompete schreien?

* * *

Die zitierten Texte findet ihr in:

Boris Vian: Der Schaum der Tage. Aus dem Französischen von Antje Pehnt. Verlag Volk und Welt. Berlin 1984. 215 Seiten. (Heute gibt's das Buch beim Verlag Klaus Wagenbach) Achtung! Die Furchtsamen müssen hier die Augen schließen.

Boris Vian: Herbst in Peking. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2005. 292 Seiten.

 © Rossipotti No. 9, Oktober 2005