[Diese Seite drucken]

Das geheime Buch

Reise ins Ungewisse

von

Heiko Bacher

Fortsetzung Teil 10

Wer den Roman noch nicht kennte oder nicht nur die kurze Zusammenfassung lesen möchte, geht ganz an den Anfang der Geschichte zur 18. Rossipotti-Ausgabe zurück oder zum letzten Kapitel in der letzten Rossipotti-Ausgabe

Was bisher geschah:

Der dreizehnjährige Tom und die zwölfjährige Jenny werden von Kart Orkid, einem Agenten des unbekannten Volkstammes Mok, gebeten, ihnen zu helfen. Laut einer uralten Prophezeiung des "Buch des Tuns" sind die beiden Kinder "To-Am" und "Jen-Yi" dazu bestimmt, die Moks vor "gelbem Hagel" und dem Untergang ihres Stammes zu retten.
Jenny glaubt Kart Orkid kein Wort und denkt nicht daran, nach Frankreich zu einem Volkstamm zu fahren, den es ihrer Einschätzung nach gar nicht gibt. Doch Tom lockt Jenny mit einer vorgetäuschten Entführung in die Auvergne, und so erfährt Jenny, dass es die Moks wider Erwarten doch gibt.
Die Moks leben in einer großen, viel verzweigten Höhle und haben ihre eigene Kultur und Geschichte. Tom und Jenny lernen, dass die Moks zu dem kleinwüchsigen Volksstamm der Pygmäen gehören und als indigenes Volk von den großwüchsigen Menschen in Europa vor langer Zeit bedroht und versklavt wurden. Aus dem Grund verstecken sie sich seit vielen Jahrhunderten in der Höhle. Da nun einer der Moks, Onk Ark, aus der Höhle geflohen ist, weil er nicht mehr in Dunkelheit leben möchte, und der Agent Kart Orkid aus unerklärten Gründen verschwunden ist, haben die Moks große Angst, dass sich die Prophezeiung erfüllt und sie von den großen Menschen entdeckt und wieder verfolgt oder sogar vernichtet zu werden. Sie trauen sich nicht mehr aus der Höhle, um mit den wenigen, befreundeten Bauern Waren und Essen zu tauschen und befinden sich in einer Art Ausnahmezustand.
Tom und Jenny reisen nach Rochefort am französischen Atlantik, weil die Stadt in der Prophezeiung genannt wird. Dort erfahren sie, dass der kindergroße Kart Orkid bei seiner Suche nach Onk Ark in ein Waisenhaus gesteckt wurde und dort nach kurzer Zeit von irgendwelchen Männern abgeholt und irgend wohin gebracht wurde. Daneben finden sie den abtrünnigen, plötzlich reich gewordenen, aber sehr schweigsamen Onk Ark in der Umgebung kriminell wirkender "Auftraggeber". Außerdem lernen die beiden Kinder den Journalisten Yves Scot kennen, der sich seit dem Auftauchen der merkwürdigen Kinder Onk Ark und Kart Orkid in Rochefort dem Geheimnis ihrer Herkunft auf die Spur kommen und eine große Story daraus stricken will. Bisher hat er immerhin heraus bekommen, dass Kart Orkid von den unbekannten Männern ins Gefängnis gesteckt wurde. Scot bittet die Kinder, ihm zu helfen, und schleust sie ins Gefängnis zu Kart Orkid ein. Da Kart Orkid im Gefängnis nicht offen sprechen kann, erfahren sie von ihm nicht viel mehr, als dass sie nach einem schwarzen Zeichen auf gelbem Grund recherchieren sollen. Yves Scot gegenüber behaupten sie allerdings, von Kart Orkid keinerlei brauchbare Informationen bekommen zu haben, weshalb Scot nicht weiter an den Kindern interessiert ist.
Was sie nicht wissen, ist, dass sie spätstens seit ihrem Gefängnisbesuch von den Auftraggebern von Onk Ark, Agenten des Europäischen Geheimdienstes (Direction Europain de la Securite, kurz: DES), beobachtet werden. Denn auch der Europäische Geheimdienst ist an der Höhle der Moks interessiert.
Über das Internet bekommen Tom und Jenny heraus, dass mit dem schwarzen Zeichen auf gelbem Grund wahrscheinlich das Zeichen für Biogefährdung oder für atomare Gefahr gemeint ist. Weil ihnen die Prophezeiung nun über den Kopf wächst, beschließen sie, zu den befreundeten Bauern der Moks zu fahren und sich von ihnen helfen zu lassen.
Von den Bauern erfahren Jenny und Tom, dass die Orte Tricastin und Marcoule keine Dörfer, sondern Atomanlagen sind. Die Bedeutung des schwarz-gelben Zeichens kreist sich deshalb immer mehr auf "atomare Gefahr" ein, und Jenny ist sich sicher, dass die Höhle der Moks als Endlager für Atommüll genutzt werden soll. Auch den anderen kommt diese Einschätzung sehr möglich vor, und so planen die Bauern, die Mitglieder der Bauern-Organisation Gesunde Landwirtschaft sind, ihre Organisation gegen das Endlager in ihrer Nähe zu mobilisieren. Gleichzeitig schicken sie Tom und Jenny mit dem Zug nach Hause. Zum einen, weil sie ihre Mission erfüllt zu haben scheinen, zum anderen, um sie vor weiteren Gefahren zu schützen. Doch auf der Zugfahrt nach Hause werden die beiden Kinder aus dem fahrenden Zug gestoßen und vom Europäischen Geheimdienst entführt, der von den Kindern erfahren möchte, was sie bereits über das schwarze Zeichen auf gelbem Grund wissen und an die Bauern ausgeplaudert haben.
In der Zwischenzeit entdeckt Yves Scot, dass er seit seinem Gefängnisbesuch mit den Kindern vom Geheimdienst überwacht wird. Die mit den Moks befreundeten Bauern müssen dagegen feststellen, dass es sehr schwierig ist, ohne jede Beweise für das geplante Endlager für Atommüll, die anderen Bauern gegen das Endlager zu mobilisieren. Als sie den Bauern als Beweis sogar den Eingang der eigentlich streng geheimen Mokhöhle als geplanten Ort der Einlagerung zeigen möchten, werden sie von einem Forstarbieter, der behauptet, das ganze Waldgebiet sei mit Eichenspinnern verseucht, vertrieben. Die anderen Bauern glauben dem Forstarbeiter und so scheint der Kampf gegen das Endlager und für die Rettung der Moks verloren ...

Und dann wird gelber Hagel fallen

"Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!" sprach der vornehme Mann in sein Funktelefon. "Das Kind ist zwar noch nicht in den Brunnen gefallen, aber ich schlage vor, am Montag mit dem Einlagern der Fässer zu beginnen ... Ja, natürlich muss das die Direktion und nicht ich entscheiden ... Ich weiß, dass mir das nicht hätte passieren dürfen! ... Wenn es schief geht, werde ich selbstverständlich Verantwortung dafür übernehmen ... ich weiß, dass mir nichts anderes übrig bleibt ... aber die Kinder sind doch unberechenbarer als gedacht ... außerdem sind es Kinder ... ja, Biogefährdung ... keine Ahnung ... ja, ich werde keine weiteren Schritte mehr ohne Ihre Einwilligung unternehmen ... Auf Wiederhören!"
Der vornehme Mann, der innerhalb des DESs Resident Liberty genannt wurde, stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und presste die Fingerspitzen aneinander. Die Dinge fingen an, ihm zu entgleiten. Oder sie entwickelten sich anders, als es der DES geplant hatte.
Dabei hatte am Anfang alles so einfach ausgesehen. Die Zusammenarbeit mit Onk Ark war federleicht gewesen, seine Angaben über die Höhle und die Moks sehr präzise und hilfreich. Gleichzeitig war er leicht einzuschüchtern und verstand es überhaupt nicht, sich für sich selbst einzusetzen. Nachdem Onk Ark dem französischen Geheimdienst gleich nach seiner Einweisung ins Waisenhaus sein eigenes Volk an sie verraten hatte, nur um sich selbst ein bequemes Leben zu sichern, wurden die Informationen an den Europäischen Geheimdienst DES weiter geleitet. Der DES hatte die Chance, in der Höhle der Moks ein europäisches Endlager für radioaktiven Müll einzulagern, sofort erkannt. Die Regierungen der Europäischen Länder waren mit der geheimen Einlagerung hochzufrieden. Endlich war die Frage, wohin der ganze Atommüll verschoben werden sollte, gelöst! Und das sogar, ohne irgend einen gesellschaftlichen Widerstand befürchten zu müssen! Denn niemand würde je heraus bekommen, wohin der ganze Müll verschwand. Vor diesem Hintergrund überlegte sich selbst Deutschland wieder, seine Atomkraftwerke länger als geplant am Netz zu lassen oder sogar neue zu bauen. Nur Frankreich war am Anfang skeptisch gewesen. Schließlich sollte das Endlager mitten in Frankreich entstehen. Aber nachdem ein unabhängiges Expertenteam der französichen Regierung versicherte, dass die Einlagerung der Fässer ökologisch völlig unbedenklich sei und mit Problemen frühestens in hundert Jahren zu rechnen sei, stimmte auch die französische Regierung den Plänen zu. Alles war also bestens. Das Gemeinwohl der Menschen, die in Europa lebten, zumindest in nuklearer Hinsicht für die nächsten Generationen gesichert.
Doch dann war Kart Orkid aufgetaucht und ihre Schwierigkeiten hatten begonnen. Dieser bockige Agent der Moks war offensichtlich bereit, für sein Volk zu sterben und gab ihnen keinerlei Informationen. Schlimmer noch, sobald er geahnt hatte, dass die Moks in irgendeiner Gefahr waren, wollte er aus dem Waisenhaus verschwinden und die Moks informieren!
Das hatte natürlich auf keinen Fall geschehen dürfen, und sie hatten ihn sofort aus dem Verkehr gezogen und in eines ihrer Hochsicherheitsgefängnisse gesteckt. Doch anstatt, dass sie ihn dort unschädlich gemacht hatten, hatte er es verstanden, Informationen aus ihnen heraus zu quetschen. Ja, es war ihm sogar gelungen, diese an befreundete Kinder weiterzugeben!
Zugegeben, die Kinder hatten nur Besuchsrecht bekommen, weil der DES es so gewollt hatte. Auf diese Weise wollte der DES heraus finden, was Kart Orkid den Kindern anvertrauen würde. Und sie wollten erfahren, was die Kinder bereits wussten und in welcher Beziehung sie zum Journalisten Yves Scot standen.
Doch nach dem Gefängnisbesuch waren sie beinahe so schlau wie zuvor gewesen. Aus den verschlüsselten Wortfetzen konnten sie nur entnehmen, dass Kart ihnen Informationen über das Atomkraftzeichen weiter tratschte und dass der Journalist sehr wahrscheinlich ahnungslos war. Das hatte auch die spätere Bespitzelung des Journalisten bestätigt. Der Besuch hatte ihnen selbst also nichts Positives, dagegen einiges Negatives eingebracht.
Dass Scot wirklich von nichts wusste, hatte Resident Libertys Karriere gerettet. Denn nachdem seine beiden Agenten zu schlampig gewesen waren, die Kinder schon am Strand von Portes-des Barques zu entdecken und sich über deren Kenntnisstand zu informieren, wurde er nach dem negativen Ausgang des Gegfängnisbesuchs dafür verantwortlich gemacht, dass die Kinder nun Informationen von Kart Orkid erhalten hatten und diese weiter tragen konnten. Im Unterschied zu dem potentiell gefährlichen Scot wurden die Kinder allerdings zu lange nicht als echte Gefahr für die Sache des DES angesehen. Und zwar deshalb, weil es nur Kinder waren, und man sie gegebenfalls einfach verschwinden lassen konnte. Wie der DES schnell heraus gefunden hatte, wussten die Eltern der Kinder nicht einmal, wohin Tom und Jenny verreist waren. Die Kinder waren unvorsichtig genug gewesen, ihren Eltern zu erzählen, dass sie in ein Ferienlager gehen wollten. Nun, die Unvorsichtigkeit oder Dummheit der Kinder war ihr Glück: Ihre Eliminierung würde niemand mit dem DES in Verbindung bringen können.
Doch so einfach ihre Eliminierung auch sein würde: Es war trotzdem ein Fehler gewesen, die Kinder nicht von vorne herein ernster genommen zu haben. Denn hätte er es getan und sie früher verhört, hätte er früher erfahren, dass nicht nur sie selbst, sondern auch einige Bauern wussten, dass es die Moks gab!
Das aber war eine Katastrophe! Denn im Unterschied zu den Kindern, konnten sie nicht alle Bauern verschwinden lassen! Wie konnten sie aber dann verhindern, dass die Bauern ihr Wissen über die Moks und die Höhle an die Öffentlichkeit bringen? Noch schien es zwar so, als ob die Bauern selbst ein starkes Interesse daran hatten, die Existenz der Moks geheim zu halten. Aber wie lange war das noch so?
Wie er aus den Unterlagen des DES wusste, waren zumindest die Pignons in der GL organisiert. Was, wenn die Pignons die GL gegen die angebliche Biogefährdung im Wald mobilisierten? Das war mehr als wahrscheinlich. Denn egal um welche biogefährlichen Stoffe es sich dabei handelte, um Bakterien, Viren oder andere gefährlichen Mikroorganismen, so würden sie vehement in das Biosystem eingreifen. Dadurch stellten sie natürlich eine Gefahr für die Lebensgrundlage der Bauern dar! Wie lange würden sie ihre eigenen Interessen, die Biogefährlichen Stoffe in ihrem Wald zu verhindern, den Interessen der Moks, nicht entdeckt zu werden, unterordnen?
Es war wirklich ein großer Fehler von ihm gewesen, diese Information nicht früher aus den Kindern heraus gelockt zu haben! Wenn er früher von den mit den Moks befreundeten Bauern gewusst hätte, hätte er völlig anders gehandelt. Dann hätte er das von den Kindern gestreute Gerücht über die biogefährlichen Stoffe dem DES selbst zu Nutze machen können! Das wäre ein genialer Schachzug gewesen und hätte ihm sicher viel Lob und vielleicht sogar eine Sonderprämie eingefahren! Aber so? Leider war in seinem Beruf der Grad zwischen großem Erfolg und totalem Misserfolg oft erstaunlich schmal.
Aber nicht nur die Kinder hatte er in seinem Verhör falsch behandelt. Auch diesen verräterischen Onk Ark. Auch aus Onk Ark hätte er heraus bekommen können, dass die Moks seit Jahrhunderten mit Bauern befreundet sind!
Warum nur hatte Onk Ark ihm nichts von der Freundschaft zwischen den Moks und den Bauern erzählt? War Onk Ark etwa doch nicht so harmlos, wie er immer geglaubt hatte?
Immerhin hatte Onk Ark auch die Kinder auf Yves Scot Spur gebracht. Das hatte zumindest Tom vorhin behauptet. Und auch das hatte Onk Ark ihm verschwiegen. Aus Angst oder Berechnung oder aus einem ganz anderen Grund? Welches Spiel trieb Onk Ark? War er möglicherweise ein Doppelagent?
Resident Liberty stöhnte. Eigentlich glaubte er nicht, dass der Mok irgendetwas gegen sie plante. Immerhin hatte er keinerlei Versuch unternommen, Kontakt zu den Moks aufzunehmen, seit sie ihn rund um die Uhr beschatteten. Aber vielleicht war er raffinierter als sie alle dachten? Oder lag sein illoyales Verhalten nur daran, dass er als Mok in anderen Bahnen dachte als sie selbst? Und falls es so war: Inwieweit waren seine Angaben dann überhaupt vertrauenswürdig?
Nervös stand Resident Liberty auf und trat ans Fenster. Er schob mit zwei Findern die Lamellen der Jalousie auseinander und spähte nach draußen. Vor dem dunklen Himmel zeichneten sich schwach ein paar Bäume ab. Das gegenüber stehende Haus war nur noch als schwarzer Schatten erkennbar. Kein Auto, kein Fußgänger schien um diese Uhrzeit noch unterwegs zu sein. Die einzige Bewegung kam vom Wind. Kraftvoll rüttelte er an den Ästen und bog sie nach unten. Womöglich kam heute noch ein Sturm auf. Zumindest wohl aber ein Gewitter. Für die Pflanzen in seinem Garten würde ein Regen sehr nützlich sein. Die letzten Tage waren heiß und trocken gewesen, und niemand hatte sich um den Garten gekümmert. Er selbst war seit mehreren Tagen im Dauereinsatz und hatte keine Zeit dafür gehabt. Seine Frau war auf Geschäftsreise und seine einzige Tochter, die sich sonst in ihrer Abwesenheit um Haus und Garten gekümmert hatte, schon seit mehr als einem Jahr aus dem Haus.
Er seufzte. Die Zeit verging schnell. Viel zu schnell. Manchmal hatte er das Gefühl, das Leben dauerte nur einen Wimperschlag lang. Auf jeden Fall zu kurz, um sich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren zu können.
Immer wieder beschlich ihn das Gefühl, sein Leben mit den falschen Dingen zu vergeuden. Was machte er schon? Wenn man einmal von der offiziellen Variante absah, dass er, wie alle anderen Mitarbeiter des DESs, die Europäische Union vor schwerwiegender internationalen Kriminalität, Terroranschlägen und allgemeinen Gefahren beschützte, blieb in Wirklichkeit nicht viel von seiner, Peter Flynts, Tätigkeit übrig. Im Gegenteil. Als Resident Liberty spionierte er Leute aus, bedrohte sie und verdrehte immer wieder die Realität, nur um die Ziele des DES umsetzen zu können! So wie zuletzt beim Auftrag "Eichenspinnerprozession", bei dem sie eine Situation künstlich hergestellt und als natürlich dargestellt hatten! War so eine Arbeit wirklich sinnvoll?
Sollte er den kurzen Wimpernschlag seines Lebens nicht lieber mit seiner Frau im Garten sitzen, sich besser um seine Pflanzen kümmern und den Schmetterlingen bei ihrem ersten, oder vielleicht auch letzten Flug zusehen?
Peter Flynt stöhnte und ließ die Jalousie wieder zuschnappen. Solche Gedanken waren Gift für ihn! Solche Fragen durfte er sich nicht stellen! Wahrscheinlich entglitten ihm deshalb in letzter Zeit öfters die Dinge! Wahrscheinlich war er deshalb nicht mehr in Höchstform. Nicht, weil er zu alt für diesen Job war, wie seine Tochter vermutete - und mit 52 war er das sicher noch nicht - sondern weil er sich solchen trüben Gedanken hingab!
Doch damit musste jetzt Schluss sein! Er musste sich konzentrieren, er durfte die Dinge nicht schleifen lassen. Er musste seine Agenten härter anpacken, er musste wieder Herr der Situation werden!
Mit energischen Schritten ging er zu seinem Schreibtisch, zog aus einer Schublade einen tennisballgroßen, harten Gel-Gymnastikball und fing an, ihn zu kneten. Das tat gut! Der Druck des Balls auf seinen Handflächen holte ihn wieder zurück in seine Welt. In die Welt des geheimen Kampfs für das europäische Gemeinwohl!
Entschlossen warf er den Ball an die Decke, fing ihn wieder auf, warf ihn hoch, fing ihn auf ... so lange, bis sich alle seine Gedanken in diesem Fang-Spiel gesammelt hatten und er mit dem Gummiball zu verschmelzen schien.
"Sie wollten uns sprechen, Resident Liberty?" sagte Agent Brunner alias Mister X und trat mit Agent Moulin in das Bürozimmer.
Resident Liberty fing den Ball ein letztes Mal auf, freute sich, dass er ihn kein einziges Mal hatte fallen lassen, und legte ihn in die Schublade zurück.
"Ja, richtig", sagte Resident Liberty zackig und sah seine Agenten scharf an. "Es ist Zeit, Sie daran zu erinnern, welche Rolle Ihnen als Agent zukommt!"
Agent Brunner runzelte die Stirn. "Was meinen Sie damit?"
"Sie beide haben in diesem Auftrag mehrmals versagt!" stellte Resident Liberty sachlich fest. "Sie haben die Kinder nicht bei Portes-des-Barques entlarvt, sie haben die Verfolgung der Kinder von Aurillac nach Sanissage verpatzt und Sie haben es nicht geschafft, zu verhindern, dass die Kinder ihr Wissen an die Bauern weiter geben."
"Wie hätten wir ahnen können, dass zwei x-beliebige Kinder am Strand an Onk Ark interessiert sind?" versuchte Agent Brunner sich zu verteidigen. "Und nach dem Gefängnisbesuch lautete unser Auftrag nur, die Kinder zu beobachten, nicht, sie zu entführen. Und haben wir sie verloren? Nein! Den Auftrag zur Entführung haben Sie uns erst einen Tag später erteilt. Und den haben wir wieder ohne Probleme ausgeführt!"
"Genau das meine ich damit, einmal über ihre Rolle als Agenten nachzudenken!" sagte Resident Liberty. "Natürlich sind Sie in erster Linie Befehlsempfänger. Aber das heißt nicht, dass Sie selbst nicht den Kopf einschalten sollen! Meiner Meinung nach hätten Sie beispielsweise die Fischerhütte in Portes-des Barques keine Sekunde lang aus den Augen lassen dürfen. Und Sie hätten natürlich auch nicht Mme de Sel einfach weiter fahren lassen dürfen, sondern sie bis zu ihrem Hof verfolgen und dort bleiben müssen. Denn dann hätten Sie gleich und nicht erst einen halben Tag später bemerkt, dass die Kinder längst bei den Pignons sind und dort ihr Wissen verbreiten können. Verstehen Sie, was ich meine?"
Agent Brunner schwieg, aber Agent Moulin meldete sich zu Wort.
"Ja, wir verstehen Sie: Wenn wir vorausschauend gehandelt hätten, hätten wir sowohl verhindert, dass die Kinder Yves Scot kontaktieren, als auch, dass sie den Pignons die Gefahr durch das schwarze Zeichen auf gelbem Grund mitteilen können."
"Exakt!" sagte Resident Liberty. "Möchten Sie sich nicht auch dazu äußern, Agent Brunner?"
"Wenn wir vorausschauend gehandelt hätten, wüssten die Kinder weder etwas von dem Zeichen, noch hätten sie die Bauern informieren können, dass die Moks gefährdet sind."
"Ich sehe, dass Sie bereit sind, Ihre Schuld einzugestehen", sagte Resident Liberty. "Ich bin schon gespannt, welche Konsequenzen das für Sie haben wird. Zuerst bringen wir aber diesen Auftrag zu Ende. Und zwar reibungslos. Checken Sie zuerst, ob die Kinder uns mit der Biogefährdung einen Bären aufgebunden haben!"
"Ist schon geschehen!" sagte Agent Brunner diensteifrig. "Ich habe eben von Forstarbeiter 2 telefonisch erfahren, dass ungefähr vor einer Stunde 15 Bauern in der Nähe des Höhleneingangs im Wald waren und dort herum geschnüffelt haben."
"Wegen der Biogefährdung?" fragte Resident Liberty knapp. "Oder haben die Bauern etwas anderes im Wald gesucht?"
"FA 2 hat nur mitgeteilt, dass die Bauern das Absperrband durchgerissen haben und mindestens einer der Bauern seine Geschichte von der Eichenspinnerprozession nicht geglaubt hat. Ich gehe davon aus, dass der Bauer statt dessen die Biogefährdung im Hinterkopf hatte."
"Wenn uns die Kinder früher erzählt hätten, dass sie den Bauern ihren Verdacht wegen der Biogefährung mitgeteilt haben, hätten wir uns das zu Nutze machen können und den Wald nicht wegen der Eichenspinnerprozession, sondern gleich wegen der Biogefährdung im Wald dicht machen können!" zischte Resident Liberty, "In dem Fall wären die Bauern regelrecht froh gewesen, dass wir den Wald abriegeln und sich die Behörden so gut um das Problem kümmern. Sie wären getrost auf Ihre Höfe zurück gegangen und wir könnten in aller Ruhe die radioaktiven Fässer in die Höhle einlagern!"
"Sie sind zu weich mit den Kindern gewesen, Chef!" wagte sich Agent Brunner zu sagen.
"Ja, Weichheit ist meine Schwäche!" sagte Resident Liberty kalt. "Vor allem Ihnen gegenüber! So wie ich es sehe, sind vor allem Sie daran Schuld, dass die Kinder überhaupt so weit gekommen sind!"
"Gut", sagte Agent Brunner, "aber hatte es nicht auch einen Vorteil, dass wir die Kinder nicht früher gestoppt haben? Sonst hätten wir nie heraus gefunden, dass auch Yves Scot hinter uns her schnüffelt! Doch so können wir ihn observieren und sind über jeden seiner Schritte informiert!"
"Scot ist ein winziger Fisch", sagte Resident Liberty. "Er macht nichts, was uns interessiert. Offensichtlich hatte er nach dem Gefängnisbesuch auch keinerlei Kontakt mehr zu den Kindern. Die Bauern und die Moks sind ihm völlig unbekannt. Auch wenn er sich für Kart Orkid interessiert, so tappt er doch völlig im Dunkeln. Die Direktion hat sogar angeordnet, dass seine Observierung eingestellt wird. Wir brauchen die Männer jetzt an anderer Stelle. Reden Sie sich also nicht auf Yves Scot raus!
Stellen Sie mir nachher eine Verbindung zu diesem Forstarbeiter her, er muss mir genaustens Bericht über den nächtlichen Besuch der Bauern erstatten. Nicht, dass mir durch Ihre schlampige Recherche wieder etwas durch die Lappen geht! - Kommen wir nun zu einem weiteren Punkt: Den Moks. Nachdem wir wissen, dass es befreundete Bauern gibt, müssen wir die Moks noch mehr unter Druck setzen, dass sie mit niemandem außerhalb der Höhle Kontakt aufnehmen. Agent Brunner, leiten Sie bitte etwas Dementsprechendes in die Wege."
"Sie werden mit niemandem Kontakt aufnehmen", sagte Agent Brunner. "Das verbietet schon der Handelsvertrag des DES, den die Moks unterzeichnet haben! Danach garantieren wir Ihnen ein geheimes, unbehelligtes Leben in der Höhle und versorgen sie mit Lebensmitteln und Dingen, die sie brauchen, und sie lagern im Gegenzug unsere Fässer bei sich ein."
"Die Verträge sind mir bekannt", sagte Resident Liberty abweisend."Trotzdem wissen wir nicht, wie sehr sich die Moks an Verträge halten! Denken Sie nur an Onk Ark! Und selbst wenn unsere Handelspartner loyal sind: Wissen wir, was sich in deren Höhle gerade zusammen braut? Aber ich werde das sicher nicht mit ihnen, sondern mit der Direktion diskutieren! Etwas anderes: Haben die Moks die Lebensmittel angenommen?"
"Ja", sagte Agent Moulin. "Und soweit wir von Agent Sciutto informiert wurden, halten sich die Moks auch hundertprozentig an die Abmachung, mit niemandem außer mit unseren Leuten Kontakt aufzunehmen."
"Gut", sagte Resident Liberty. "Ich gehe übrigens davon aus, dass die Direktion grünes Licht dafür geben wird, dass der erste Atommülltransport am Montag statt finden wird. Je schneller wir mit dem Einlagern beginnen, desto besser. Die Schneise im Wald ist soweit fertig, dass Laster bis an die Steintreppe heran fahren können. Unsere Mitarbeiter werden dann die Fässer zum Eingang der Höhle tragen, und dort werden sie von den Moks in Empfang genommen. Noch ist unklar, ob die Moks einem von uns erlauben werden, die Höhle zu betreten, aber das ist nebensächlich. Die Moks werden schon wissen, wo sie die Fässer lagern sollen ... bleibt im Moment nur noch die Anordnung an Sie, wie Sie weiter mit den Kindern vorgehen sollen."
Agent Brunner fuhr mit der Handkante seinen Hals entlang und grinste. Je eher die Kinder eliminiert werden würden, umso schneller würde er wieder nach Hause gehen und nach seiner Frau sehen können.
"Eben nicht!", sagte Resident Liberty mit Nachdruck. "Die Direktion hat ausdrücklich angeordnet, dass wir die Kinder so lange hier lassen sollen, bis klar ist, wie sich die Lage weiter entwickelt. Erst, wenn die Einlagerung in geordneten Bahnen ist, können wir es riskieren, die Kinder verschwinden zu lassen. Agent Brunner, ich hatte gerade den Eindruck, dass es Sie überfordert, auf die Kinder aufzupassen. Agent Moulin, Sie übernehmen."
Agent Moulin nickte und Resident Liberty beendete das Gespräch.

"Yvette", rief Yves Scot, "kannst du bitte mal kommen?"
Scot stand in seinem Wohnzimmer und starrte auf einen Punkt auf seiner Frankreichkarte.
"Gleich!" rief Yvette und schaltete den Fön aus. "Was gibt's?"
"Mir ist gerade etwas aufgefallen!"
"Was denn?" Yvette trat neugierig ins Wohnzimmer.
Während sie sich durch die Haare fuhr und sie mit einem Zopfgummi zu einem Pferdeschwanz band, folgte sie Scots Blick auf die Frankreichkarte.
"Möchtest du mit mir verreisen?" sagte sie erfreut und fuhr neckisch fort: "Oder suchst du einen geeigneten Ort für unsere Hochzeit? Yves und Yvette Scot! Das passt gut zusammen! Yves und Yvette Bellier klingt allerdings noch besser."
"Sicher!" sagte Scot, legte einen Arm um sie und küsste sie in den Nacken. Dann flüsterte er ihr leise ins Ohr: "Hast du zufällig eine Nadel auf meiner Landkarte versetzt?"
"Was?!" Yvette bog den Kopf zurück und sah Scot irritiert an. "Was denn für eine Nadel?!"
"Psst!" sagte Yves leise. "Hier auf dieser Frankreichkarte! Da wurde eine Nadel umgesteckt! Warst du das?"
"Warum denn?" sagte Yvette aufgebracht und löste sich aus Scots Armen. "Warum sollte ich eine Nadel auf deiner Karte umstecken?"
"Vielleicht hast du sie einfach nur so zum Spaß woanders hin gesteck?"
"Ich bin doch kein kleines Kind, das seine Zeit mit Nadelsteckspielen vertreiben muss!"
"Bist du dir sicher?" flüsterte Scot eindringlich.
"Natürlich bin ich mir sicher!" sagte Yvette. "Warum ist das überhaupt wichtig?"
"Das kann ich dir jetzt nicht sagen!" sagte Scot leise. "Aber es könnte etwas bedeuten. Wenn du es nicht warst, muss irgendjemand anderes die Nadel umgesteckt haben."
"Ach, und wer sollte dieser Jemand sein?" Yvette klang genervt. "In letzter Zeit benimmst du dich so seltsam! So, als ob du verfolgt werden würdest! Man darf nicht mehr laut sprechen, du willst dich nicht mehr in deiner Wohnung mit mir treffen. Und wenn wir uns hier treffen, fragst du mich, ob ich deine Nadeln an der Landkarte umgesteckt habe! Das ist doch verrückt!"
"Ja, das ist es wirklich", murmelte Yves. "Bis vor wenigen Tagen, hätte ich selbst noch nicht geglaubt, dass sich die Dinge so entwickeln würden."
"Welche Dinge denn?"
"Nicht jetzt", flüsterte Yves. "Vielleicht später. Jetzt muss ich zuerst heraus bekommen, was es mit dieser Nadel auf sich hat."
"Klingt so, als ob du heute nicht mir mir ans Meer fahren willst", sagte Yvette lauernd.
Scot nickte.
"Andere Frauen werden wegen wichtiger Termine oder anderen Frauen versetzt!" stöhnte Yvette. "Aber mein Freund versetzt mich wegen einer Nadel! - Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?"
"Der Strand ist heute sowieso nass", versuchte Yves der Diskussion auszuweichen. "So, wie es heute Nacht geschüttet hat."
"Rede dich nicht auf den Regen hinaus!" sagte Yvette. "Ich gehe auch gerne einfach nur am Meer spazieren!"
"Yvette, ich habe jetzt keine Zeit für so etwas!" sagte Yves. "Dafür fahren wir übernächstes Wochenende nach Nantes zum Open-Air-Jazz-Festival! Das verspreche ich dir!"
"Das glaubst du doch selbst nicht", sagte Yvette. "Du magst Jazz doch überhaupt nicht!"
"Stimmt" sagte Yves, "aber daran kannst du sehen, welche Opfer ich für dich bringen würde."
"Die Betonung liegt auf würde!" sagte Yvette. "Wenn du dich wirklich opfern willst, fahre heute mit mir ans Meer!"
Yvette schlang ihre Arme um Scot und sah ihn zärtlich an. "Bitte, bitte, opfere dich heute für mich!"
"Yvette!" sagte Yves und machte sich aus ihren Armen frei. "Ich habe heute wirklich keine Zeit! Ich muss mich um die Nadel kümmern! Das könnte sehr wichtig sein! Wir fahren ein anderes Mal ans Meer!"
"Wenn du heute nicht mitkommst, werde ich mit Marc fahren!" sagte Yvette bitter. "Für Marc wird es sicher kein Opfer sein, mit mir ans Meer zu fahren!"
"Tu, was du nicht lassen kannst!" sagte Yves und drehte sich zu seiner Frankreichkarte. "Aber lass mich in Ruhe!"
"Du bist ein Grobian! Ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit dir zusammen bin", rief Yvette und ging aus dem Zimmer.
Nachdem sie ihre Jacke angezogen und ihre Handtasche geholt hatte, verließ sie Türe schlagend die Wohnung.
Scot seufzte und fragte sich, ob er Yvette heute nicht auch auf sanftere Art losgeworden wäre. Aber er hielt es für unwahrscheinlich. Yvette reagierte nur selten auf leise Töne. Sie klammerte sich so lange wie möglich an ihn. Und wenn er dann energisch wurde, brauste sie auf und beschimpfte ihn.
Nun, wahrscheinlich würde sie sich auch schnell wieder beruhigen und ihn spätestens morgen wieder anrufen. Wenn nicht, würde er zu ihr gehen und sich bei ihr entschuldigen. Das hatte bisher immer geklappt. Um Yvette musste er sich keine Sorgen machen. Dafür umso mehr um diese Nadel, die an der falschen Stelle steckte.
Scot war sich ganz sicher, dass zuletzt drei Stecknadeln auf der Karte gesteckt hatten. Eine Nadel hatte in Rochefort, eine auf der Insel Saint-Martin-de-Re und eine in Portes-des-Barques gesteckt. Die Nadeln von Saint-Martin-de-Re und Portes-des-Barques steckten immer noch dort, die Nadel von Rochefort war dagegen weg und steckte jetzt dafür in der Nähe des Cantals auf einem winizigen Dorf namens Sanissage!
Angenommen, Yvette hatte wirklich nicht mit den Nadeln gespielt, und er selbst war auch nicht plötzlich zum Schlafwandler geworden, dann musste wirklich jemand anderes hier gewesen sein und sich an seiner Landkarte zu schaffen gemacht haben!
Da er vom Geheimdienst überwacht wurde, überraschte ihn die Tatsache, dass jemand in seiner Wohung war, nicht. Was ihn allerdings verwunderte, war, warum der Spion die Nadel auf seiner Karte umgesteckt hatte!
Doch wohl kaum, um ihm irgendwelche Hinweise zu geben?
Aber warum dann? War es dem Spion während seiner letzten Wohnungsdurchsuchung etwa langweilig geworden, und er hatte deshalb zwischendurch mit den Stecknadeln gespielt? Steckte die Nadel also zufällig in der Nähe des Cantals?
Oder steckte sie nicht zufällig da, sondern weil dieser Ort für den Geheimdienst doch sehr wohl eine Bedeutung hatte? Steckte sie da, weil der Spion, während er in seiner Wohnung war, telefonisch über Sanissage informiert worden war, und dieser dann, ohne lange nachzudenken, den Zielort auf seiner Karte gesucht und mit der Nadel gekennzeichnet hatte? Und war der Spion einfach zu schlampig oder nachlässig gewesen, die Nadel danach wieder zu entfernen?
Das war alles sehr spekulativ. Aber es war immerhin möglich. Ging er also einmal davon aus, diese Spekulation stimmte: War Sanissage dann womöglich der nächste Einsatzort des Spions? Und, weiter gesponnen, hatte dieser Ort dann für Scot selbst keinerlei Bedeutung, oder war Sanissage im Gegenteil genau der Ort, woher der rätselhafte Junge kam? Oder war Sanissage womöglich der Ort, wohin die beiden deutschen Kinder verschwunden oder gebracht worden waren?
Scot hatte zwar keinerlei Hinweis darauf, dass die Kinder von irgendwem irgendwohin gebracht worden waren. Aber seit er erfahren hatte, dass die Kinder früher als geplant abgereist waren, hatte er ein mulmiges Gefühl im Bauch.
Da er selbst seit dem Besuch im Gefängnis observiert wurde, war es durchaus denkbar, dass der Geheimdienst auch die Kinder beobachten, oder schlimmer noch, sie wie den rätselhaften Jungen hatten irgendwo hin bringen lassen.
Hatte Sanissage in diesem Zusammenhang womöglich irgendeine Bedeutung? Oder waren das alles nur seine Hirngespinste?
Wie auch immer. Mit Sanissage hatte Scot auf jeden Fall seit Tagen einen ersten Hinweis in der Sache mit dem rätselhaften Jungen. Hier konnte er weiter recherchieren. Denn seit seinem Gefängnisbesuch war in dem Fall völlige Flaute gewesen. Zum einen, weil er von dem rätselhaften Jungen im Gefängnis keinerlei Information mehr würde bekommen können. Zum anderen, weil er sonst nirgendwo mehr etwas über ihn hatte heraus finden können.
Neugierig schaltete Scot deshalb den Computer an und gab "Sanissage" in der Suchmaschine ein. Die ersten Treffer waren enttäuschend. Nur Fotos von Blumen, Wasserfällen und Bergansichten. Auch die nächsten Treffer waren mit Wanderwegbeschreibungen und Hinweise auf Straßen-Baustellen in der Nähe des Dorfes alles andere als aufschlussreich.
Ernüchtert klickte sich Scot durch verschiedene Seiten und Links, bis er schließlich einen mehrere Jahre alten Zeitungsartikel entdeckte, der ihn aufhorchen ließ. Der Artikel schilderte den Vorgang eines Bauernprotestes in Sanissage. Damals hatten mehrere Bauern der Organisation Gesunde Landwirtschaft gegen die schlechte Bezahlung der Milch demonstriert. Um ihren Unmut auszudrücken, hatten sie den Fahrer eines Milchlasters dazu gezwungen, die schon geladene Milch auf die Felder zu kippen. So eine Aktion war natürlich viel öffentlichkeitswirksamer als nur Plakate in die Höhe zu halten. Und so hatte es die kleine Demonstration tatsächlich in den Politik-Teil einer überregionale Tageszeitung geschafft. Wie der Vorstand der GL, ein gewisser Henry Pignons, in dem Artikel mitteilte, war der Protest Teil eines größeren Bauernprotestes, an dem sich etwa 50 000 Bauern in rund 23 Städten beteiligt.
Scot konnte sich noch gut an die Proteste erinnern. Das war 2009 gewesen, und die Bauern waren auf die Straße gegangen, um gegen den Preisverfall ihrer landwirtschaftlichen Produkte und für staatliche Subventionen zu demonstrieren. Die Landwirte hatten damals wichtige Straßen und Verkehrsachsen blockiert. In Poitiers hatten einige Bauern im Stadtzentrum sogar 1000 Kubikmeter Erde ausgekippt. Und in Sanissage, wie er nun durch diesem Artikel erfuhr, hatten sie offenbar Milch auf die Straße geschüttet.
Scot war sich zwar nicht klar darüber, was die Bauernproteste mit dem rätselhaften Jungen, den beiden deutschen Kindern und dem Geheimdienst zu tun hatten. Aber dieser Protest war auf jeden Fall interessanter als Fotos von Blumen und Bergen. An dieser Stelle würde er deshalb weiter recherchieren.
Scot gab Gesunde Landwirtschaft in dem Suchschlitz ein und gelangte schnell auf die Website der GL. Durch die Selbstdarstellung der GL erfuhr Scot, dass sich die Organisation vor allem für eine ökologische, genfreie Landwirtschaft einsetzte. Die Demonstration gegen den Preisverfall war also nur ein Nebenschauplatz gewesen. Scot klickte sich weiter durch die Website und erfuhr, dass der Anbau von genmanipuliertem Mais in Frankreich seit 2011 verboten worden war. Trotzdem engagierte sich die GL weiter für den Anbau genfreier Pflanzen. Denn es drohte immer noch die Gefahr, dass andere genmanipulierte Pflanzen wie Soja, Raps oder Kartoffeln angebaut wurden. Außerdem war die Einfuhr genmanipulierter Pflanzen aus dem Ausland, vor allem der USA noch erlaubt. Gute Gründe also, sich weiterhin gegen Genpflanzen zu engagieren.
Das alles war zwar ganz interessant, aber Scot konnte sich nicht vorstellen, dass sich der Geheimdienst deshalb für die Bauern interessierte. Auch sah er keinen Zusammenhang zwischen der Bauernorganisation und der Nadel auf seiner Frankreichkarte. Oder planten die Bauern dieses Mal einen großen, gewalttätigen Aufstand und riefen deshalb den Geheimdienst auf den Plan? Aber selbst wenn, dann hatte das alles nichts mit den deutschen Kindern und dem Jungen im Gefängnis zu tun!
Oder konnte er, Scot, den Zusammenhang zwischen den Bauern und dem rätselhaften Jungen nur nicht erkennen? Beispielsweise weil das Internet - glücklicherweise - längst nicht alle Informationen preis gab? Es wäre nicht das erste Mal, dass er im Nachhinein feststellen würde, dass sich die Dinge aus der Nähe oder in der Realität anders darstellten als in der virtuellen Welt des Netzes.
Nun, am besten fuhr er einfach mal nach Sanissage und sah sich dort um. Wenn die Bauern tatsächlich nur das wussten, was er auf deren Website erfahren hatte oder einen Aufstand planten, sich diese Spur für ihn also als kalt erwies, dann würde er vor Ort vielleicht eine andere Verbindung zu dem rätselhaften Jungen oder auch zu den beiden deutschen Kindern entdecken. Sanissage konnte durchaus noch etwas anderes außer Blumen, Wasserfällen und demonstrierende Bauern bergen. Und vielleicht war es genau dieses andere, was den Geheimdienst auf den Plan rief - und gar nicht die Bauern.
Nachdem Yvette gegangen war, und er also einen freien Tag hatte, konnte er gleich heute dort hinfahren. Scot suchte sich aus dem Impressum der Bauernwebsite die Adresse von Henry Pignon heraus, schaltete seinen Computer aus, packte sein Portemonnaie ein und verließ das Haus.

"Auf dem Parkplatz vor unserem Hof steht ein silberner Renault!" sagte Mignon ins Telefon. "Und darin sitzt ein Mann!"
"Wie lange schon?" fragte Henry Pignon am anderen Ende der Leitung.
"Sicher seit einer viertel Stunde."
"Hat er dich gesehen?"
"Weiß ich nicht", sagt Mignon. "Auf jeden Fall finde ich es komisch, dass er nicht aussteigt!"
"Spielen Paul und Hugo draußen?"
"Nein", sagte Mignon. "Sie sind mit Maman beim Einkaufen. Und Daniel ist bei Theo und bastelt mal wieder an seinem Motorrad herum. Ich bin also alleine hier."
"Schließ die Tür ab!" sagte Henry. "Ich komme so schnell ich kann. In etwa zwanzig Minuten bin ich da."
"Glaubst du, der Mann ist gefährlich?" fragte Mignon ängstlich.
"In diesen Tagen kann man nie wissen!" antwortete Henry. "Lass ihn auf jeden Fall nicht rein und schließ die Tür ab. Wenn etwas ist, rufe mich sofort an!"
"Was heißt in diesen Tagen?" fragte Mignon.
"Ich bin bald bei dir!" sagte Henry und drückte die Verbindung weg.
Mignon legte bedrückt den Hörer auf die Gabel ihres altmodischen Festnetztelefons und schloß die Haustür ab. Danach ging sie wieder zurück in die Küche und spähte vorsichtig aus dem Fenster. Das silberne Auto war immer noch da, und der Mann saß weiter auf dem Fahrersitz. Mignon konnte sein Gesicht nicht richtig erkennen, trotzdem kam es ihr so vor, als ob er jetzt in ihre Richtung glotzte und sie hinter der Gardine beobachtete.
Instinktiv trat Mignon einen Schritt zurück und hoffte, dass ihr Vater bald kommen würde. Wäre sie vorhin doch nur mit Maman zum Einkaufen gegangen! Wäre es ihr doch nur nicht zu langweilig gewesen, zwischen hohen, mit Waren vollgestopften Regalen herum zu spazieren. Dann würde sie jetzt nicht allein sein und von diesem Mann beobachtet werden!
Warum wollte Papa so dringend, dass sie die Türe abschloss? Wofür hielt Papa den Mann? Für einen Mörder? Aber warum rechnete Papa mit einem Mörder auf ihrem Hof?
Und warum waren ihre Eltern schon seit Tagen so merkwürdig? Eigentlich hatte alles mit den beiden deutschen Kindern angefangen. Seit sie hier gewesen waren, taten Maman und Papa plötzlich so, als ob sie ein großes Geheimnis hätten. Aber was für ein Geheimnis sollte das schon sein?
Und warum sagten sie ihr nicht, was los war? Schließlich war sie kein kleines Kind mehr! Als sie neulich ihre Mutter gefragt hatte, was mit ihnen los wäre, hat diese nur gemeint, dass sie sich keine Sorgen zu machen bräuchte. Aber warum verhielten sich ihre Eltern dann so komisch?
Gestern beispielsweise waren sie noch spät abends weg gefahren, ohne ihr zu sagen, wohin! Das einzige, was sie ihr sagten, war, dass Mignon ihre beiden kleineren Brüder ins Bett bringen sollte. Ihre Eltern waren Stunden später wieder gekommen, ihre Kleider vom Regen völlig durchnässt. Statt ihr irgend etwas zu erklären, hatten ihre Eltern sie ohne einen Kommentar ins Bett geschickt. Und als sie dann im Bett gelegen hatte, hatte Migon ihren Vater brüllen hören, dass auf niemanden mehr Verlass sei und dass alles noch ein böses Ende nehmen werde. Was aber nahm warum ein böses Ende? Und wie sah das böse Ende überhaupt aus? Hatten ihre Eltern kein Geld mehr und mussten den Hof verkaufen? Oder hatte Daniel irgend etwas mit seinen Freunden ausgefressen?
Mignon sah auf die Uhr und entdeckte, dass erst fünf Minuten vergangen waren, seit sie ihren Vater angerufen hatte! Zum Glück rührte sich der Mann nicht und saß immer noch im Auto.
Um sich abzulenken, räumte Mignon die Küche auf. Butter, Marmelade in den Kühlschrank, Besteck und Geschirr in die Spülmaschine. Den Milchtopf in die Spüle zum Auswaschen. Mignon ließ heißes Wasser in den Topf einlaufen, vermischte es mit einem Tropfen Spülmittel und schrubbte den Topf dann mit einem Schwamm.
Plötzlich fiel draußen eine Autotür. Papa? dachte Mignon. War Papa schon gekommen? Nein, die Schritte auf dem Kies hörten sich anders an.
Mignon drehte sich zum Fenster und sah, wie der Mann aus dem Auto auf die Haustür zuging, neben der Küche lag. Mignon trocknete sich die Hände an einem Geschirrhandtuch ab und beobachtete den Mann. Jetzt ging er direkt auf sie zu! Mignon konnte durch die Gardine in das Gesicht des Mannes sehen.
Das Gesicht war bleich, furchtbar bleich, und schwammig. Wie ein aufgegangener Briocheteig! In der Mitte des Teigs hob sich eine spitze Nase ab und die Augen blickten wie übergroße Rosinen, leer, dunkel, aber vor allem böse durch ihr Fenster.
‚Papa!" dachte Mignon. "Wann kommst du endlich?! Ich will nicht alleine mit diesem Mann hier sein! Vielleicht ist er wirklich ein Mörder?!"
Mignon sah auf die Uhr: Immer noch zehn Minuten, bis ihr Vater kommen würde. Wie langsam die Zeit verstrich! Konnte sie nicht einmal schneller vergehen?!
Jetzt verschwand der Mann aus Mignons Gesichtsfeld. Wahrscheinlich stand er nun unter dem Türbogen vor der Haustür?
Was sollte sie tun? Papa anrufen? Aber wie sollte er ihr durchs Telefon helfen?
Ein schriller Klingelton gellte durchs Haus.
Mignon erstarrte.
Wieder klingelte es.
"Hallo? Ist da jemand?" rief eine seltsam raue Stimme.
Mignon duckte sich unter den Esstisch, falls der Mann je auf die Idee kommen würde, durch das Küchenfenster zu sehen.
"Hallo?!" rief die Simme wieder. "Ist denn wirklich niemand zu Hause?"
Er klingelte nochmals.
Mignon hielt den Atem an und hoffte, dass der Mann wieder von alleine gehen würde.
Aber der Mann ging nicht. Statt dessen redete er irgendetwas vor sich hin, machte dann ein paar Schritte auf dem Kies und klopfte ein paar Sekundne später am Küchenfenster!
Mignon hob den Kopf und erschrack. Der Mann hatte sein Gesicht an die Scheibe gedrückt und starrte sie an!
"Hallo!" rief der Mann und klopfte wieder an die Scheibe. "Warum öffnen Sie mir nicht die Tür? Haben Sie mein Klingeln nicht gehört?"
Mignon zitterte.
"Ist Henry Pignon denn da?" rief der Mann. "Es geht um die Organisation Gesunde Landwirtschaft. Deshalb würde ich mich gerne mit ihm unterhalten."
‚Gesundes Landwirtschaft?' dachte Mignon erleichtert. ‚Wenn der Mann wegen der GL hier ist, wird er wohl kein Mörder sein?!"
Mignon entspannte sich etwas, blieb aber weiter in geduckter Haltung unter dem Tisch.
"Bitte öffnen Sie die Tür!" rief der Mann. "Es ist sehr wichtig!"
Mignon schwieg. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte.
"Ich sehe doch, dass Sie unter dem Tisch sitzen!" rief der Mann. "Warum kommen Sie nicht darunter hervor? Oder sind Sie unter dem Tisch gerade sehr beschäftigt? Aber deshalb können Sie doch trotzdem mit mir reden?"
"Mein Vater ist nicht da!" rief Mignon. Ihre Stimme hörte sich in der leeren Küche viel zu laut an.
"Können Sie mir nicht die Türe oder wenigstens das Fenster öffnen?" sagte der Mann. "So ist unsere Unterhaltung doch etwas schwierig!"
Mignon überlegte, dass der Mann, wenn er wirklich gefährlich wäre, einfach das Fenster einschlagen könnte. Also konnte sie ihm gerade so gut die Tür öffnen! Außerdem glaubte sie nicht mehr, dass der Mann ihr etwas antun würde. Warum auch? Er wollte mit ihrem Vater nur etwas wegen der GL besprechen! Da war es doch albern, wenn sie sich hier versteckte?
Mignon stand auf und rief durch das Fenster: "Ich komme gleich!"
Dann ging sie in den Flur und machte, schon beinahe ohne Angst, die Haustür auf.
"Sehr nett!" sagte der Mann. "Guten Tag!"
Mignon nickte und sah ihm ins Gesicht. Aus der Nähe sah der Mann ganz anders aus als durch das Gardinen behängte Fenster. Sein Gesicht war zwar immer noch blass, aber nicht schwammig. Die Nase war zwar schmal, aber nicht spitz. Und die Augen waren alles andere als leer und böse. Im Gegenteil, sie blickten sie in einem schönen Meer-Blau intensiv und beinahe freundlich an.
"Ich nehme an, Henry Pignon ist dein Vater?"
Mignon nickte.
"Wann kommt er denn?" fragte der Mann.
"Bald!" sagte Mignon. "Was möchten Sie von meinem Vater?"
"Ich bin Journalist und bin im Internet auf eine interessante Sache der GL gestoßen. Deshalb möchte ich mich mit deinem Vater unterhalten. Ich bin übrigens Yves. Yves Scot."
"Und ich Mignon. Mignon Pignon"
"Außergewöhnlicher Name", sagte Yves, "aber sehr hübsch. Mignon, könntest du mir vielleicht ein Glas Wasser holen? Ich habe ziemlichen Durst!"
"Möchten Sie nicht reinkommen?" fragte Mignon. "Dann muss ich Ihnen das Glas nicht rausbringen."
"Gerne!" sagte Yves Scot und trat hinter Mignon über die Türschwelle.
"Halt!" rief eine Stimme hinter Scots Rücken. "Sofort stehen bleiben!"
Scot drehte sich um und sah einen stämmigen, sehr wütend aussehenden Mann, der mit einem Gewehr auf ihn zielte. Reflexartig versuchte er ins Haus zu fliehen.
Ein Schuss fiel und der Mann schrie: "Kommen Sie sofort aus meinem Haus!"
"Papa, hör auf!" rief Mignon und stellte sich vor Scot. "Der Mann ist harmlos!"
"Sie kommen sofort wieder aus dem Haus!" rief Henry und hielt das Gewehr weiter auf den Eindringling gerichtet.
Mignon rannte zu ihrem Vater und sagte bestimmt: "Nimm das Gewehr runter! Er hat nichts getan!"
"Wer sind Sie und was wollen Sie?" rief Henry und zielte weiter auf Scot.
"Ich bin ein Journalist aus Rochefort!" sagte Yves Scot.
"Name?"
"Yves Scot!"
"Können Sie sich ausweisen?"
"Ja!" sagte Scot. "Aber bitte nehmen Sie das Gewehr herunter!"
Henry ließ das Gewehr langsam sinken, und Scot fischte seinen Geldbeutel aus der Hosentasche. Dann ging er auf Henry und Mignon zu und zeigte Henry seinen Personal- und Presseausweis.
"Natürlich können beide Ausweise gefälscht sein", sagte Henry Pignon. "Aber wir tun mal so, als ob sie es nicht wären! Was wollen Sie?"
"Können wir das nicht unter vier Augen besprechen?" fragte Yves Scot. "Die Sache ist etwas eigenartig und je weniger Leute sie hören, umso besser!"
Henry Pignon schaute Scot undurchdringlich an, sagte aber zu Mignon, dass er mit Scot in sein Bürozimmer gehen würde.
"Bring uns bitte etwas zu trinken", sagte Henry. "Ich bin ziemlich durstig!"
Scot folgte Henry Pignon ins Haus, die Treppe hoch in dessen Bürozimmer. Das Zimmer wirkte gemütlich, wahrscheinlich weil es klein und mit warm wirkenden Holzmöbeln ausgestattet war. Scot entspannte sich etwas. Die Szene mit dem Gewehr hatte ihn doch etwas mitgenommen.
Während Pignon die Waffe an die Wand lehnte und sich auf einen Stuhl setzte, betrachtete Scot die mit Büchern und Ordnern voll gestellten Regale und den mit Unterlagen und Papieren übersäten Schreibtisch. Henry Pignon entsprach offensichtlich nicht dem Klischee eines Bauern. Kein Wunder, schließlich war er auch Mitgründer und Vorstand der GL.
"Was gibt's?" fragte Henry Pignon und zeigte mit einer Hand auf einen Sessel.
"Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll!" sagte Yves Scot und ließ sich auf den Sessel plumpsen. "Die Sache ist sehr kompliziert."
"Ich müsste jetzt eigentlich schon wieder auf dem Feld sein!" sagte Henry Pignon abweisend. "Fassen Sie sich also kurz!"
Yves Scot schluckte. Genau davor hatte er sich gefürchtet. Vor dieser unmöglichen Situation, dem Bauern erklären zu müssen, warum er hier war. Denn wie sollte er Informationen von M. Pignon bekommen, ohne selbst zu viele Informationen preis geben zu müssen?
Es war eine Sache, zwei völlig unbedarften, deutschen Kindern die Story mit den beiden rätselhaften Jungen zu verklickern, aber eine ganz andere, mit einem Erwachsenen darüber zu reden. Entweder würde der Erwachsene ihn nicht ernst nehmen oder seine Theorie für verrückt erklären, oder, noch schlimmer, ihm die Story vor der Nase wegschnappen. Denn je mehr Leute davon wussten, umso wahrscheinlicher war es, dass sich außer ihm auch noch andere dafür interessierten. Und das wollte er auf jeden Fall verhindern. Seit sich der Geheimdienst für die Sache interessierte, hatte er außerdem Angst, dass er auf einen Spitzel traf oder jemand völlig Unbeteiligten in die Sache mit hinein zog und ihn dadurch gefährdete.
Außerdem war es überhaupt nicht sicher, dass die GL und M. Pignon irgendetwas mit den deutschen Kindern oder dem rätselhaften Jungen zu tun hatten. In dem Fall war es noch unklarer, was er überhaupt mit M. Pignon besprechen sollte. Natürlich konnte er ihm irgendetwas vorlügen, dass er eine Reportage über die GL machen würde, bla bla, aber würden ihn die Infos, die er so bekommen würde, irgendwie weiter bringen? Wohl kaum!
Die ganze Fahrt hier her hatte er sich deshalb Gedanken gemacht, wie er ins Gespräch mit M. Pignon kommen sollte. Was er ihm erzählen oder vorlügen sollte oder konnte, um M. Pignon trotzdem irgendwelche, interessante Informationen zu entlocken. Doch Scot war zu keinem Ergebnis gekommen. Als er schließlich auf dem Hof der Pignons angekommen war, hatte er deshalb nicht einmal aus dem Auto steigen wollen. Am Ende war er nur ausgestiegen, um sich später zu Hause nicht seiner eigenen Feigheit schämen zu müssen. Schließlich war er Journalist und mit unterschiedlichen Fragetechniken vertraut. Da musste er so einer Situation doch gewachsen sein!
Doch, wie er jetzt feststellen musste, nutzten ihm seine Fragetechniken und seine Professionalität gar nichts. Wie ein Idiot saß er hier, starrte M. Pignon dumm an, und würde wahrscheinlich von ihm in weniger als fünf Minuten ohne jede Information wieder hinaus komplimentiert werden!
"Für wen arbeiten Sie?" fragte M. Pignon, nachdem Scot nichts sagte.
"Für die Südwest", antwortete Scot.
"Aha, für eine Lokalzeitung", stellte M. Pignon fest. "Eine Lokalzeitung, die sich an Leute, die am Atlantik wohnen, richtet. Warum sind Sie dann hier? Ich glaube kaum, dass sich Ihre Zeitung für unserer Belange interessiert."
"Manchmal sind die Dinge verwickelter, als sie auf den ersten Blick scheinen", sagte Scot.
"Das sagten Sie bereits", sagte M. Pignon ungeduldig. "Sehen Sie, ich habe meine Zeit auch nicht gestohlen. Wenn Sie nichts mitzuteilen haben, gehen Sie bitte wieder."
"Warum haben Sie auf mich geschossen?" fragte Scot aus einer plötzlichen Intuition heraus.
"Ich habe nicht auf Sie geschossen", sagte M. Pignon. "Wenn ich das getan hätte, würden wir uns nicht mehr unterhalten können. Ich habe lediglich einen Warnschuss in die Luft abgegeben."
"Warum?"
"Weil ich Angst um meine Tochter hatte!" sagte M. Pignon.
"Schießen Sie immer gleich auf Besucher?" sagte Scot und registrierte das Zusammenzucken seines Gegenübers.
"Nein, natürlich nicht!" sagte Henry Pignon und sah ihn misstrauisch an. "Aber bei Ihnen hatte ich ein ungutes Gefühl."
"Und warum?" bohrte Scot nach. "Vielleicht deshalb, weil sie von jemandem bedroht werden und dachten, dieser Jemand ich sei?"
Henry Pignon sah ihn abweisend an.
Endlich wusste Scot, wie er das Gespräch in Gang bringen konnte. M. Pignon hatte vor irgend jemandem Angst! Und wer Angst hatte, hatte auch Geheimnisse! Oder zumindest Bereiche, die er nicht an die Oberfläche kommen lassen wollte. Das war der wunde Punkt von M. Pignon und dadurch würde er ihn zum Sprechen bringen können!
"Sagen Sie endlich, was Sie wollen und lenken Sie nicht vom Thema ab!" sagte M. Pignon, dem es offensichtlich unangenehm war, von Scot gemustert zu werden.
"Ich bin gerade mitten drin!" sagte Yves Scot. "Sie haben vor irgendetwas Angst. Deshalb schießen Sie auf harmlose Besucher!"
"Vielleicht sind Sie gar nicht harmlos?" sagte Henry Pignon lauernd.
"Im Vergleich zu anderen bin ich wahrscheinlich sehr harmlos", meinte Yves Scot.
Henry Pignon schaute seinen Gegenüber aufmerksam an. Wer war dieser Yves Scot? Was wollte er von ihm? Und vor allem: Was wusste er? Kannte er die Moks? Oder wusste er etwas über das Endlager? Oder war er wegen etwas ganz anderem hier? Aber warum ritt er dann auf seiner Angst herum?
Die Tür ging auf und Mignon brachte ein Tablett mit einem Wasserkrug und zwei Gläsern herein.
"Danke Mignon!" sagte Henry.
Mignon nickte, stellte das Tablett auf dem Tisch ab und ging wieder aus dem Zimmer.
Während Henry Yves Scot und sich selbst Wasser einschenkte, sagte Scot:
"Ich bin einer gewissen Sache auf der Spur und weiß nicht, ob sie etwas mit Ihnen oder Sanissage zu tun hat."
"Welcher Sache?" fragte Henry misstrauisch und nahm einen Schluck Wasser.
"Leider darf ich nicht darüber sprechen!" sagte Scot. "Zumindest so lange nicht, so lange ich nicht weiß, ob ich Ihnen vertrauen kann."
Henry Pignon sah Yves Scot gespannt an. Doch Scot schwieg.
"Hat es etwas mit Atomkraft zu tun?" fragte Henry nach einer Weile.
"Mit Atomkraft?" Scot runzelte die Stirn. "Wieso denn mit Atomkraft? Nein, damit hat es absolut gar nichts zu tun!"
Erleichtert atmete M. Pignon aus. Scot war offensichtlich nicht über die Pläne des Endlagers informiert! Und wusste er nichts vom Endlager, wusste er sehr wahrscheinlich auch nichts von den Moks! Er musste doch aus einem ganz anderen Grund hier sein! Vielleicht wollte er einfach nur Informationen über die nächsten geplanten Aktionen der GL? Aber warum rückte er dann nicht einfach mit der Sprache raus?
Scot trank mit einem Zug sein Glas leer und fragte:
"Gab es in der letzten Zeit irgendwelche Komplikationen innerhalb der GL?"
"Komplikationen innerhalb der GL?" fragte M. Pignon erstaunt. "Wie kommen Sie darauf?"
"Wegen Ihrer Angst!" kam Scot auf ihr voriges Gespräch zurück. "Irgendetwas
stimmt hier nicht!"
"Wenn es so wäre, würde ich ganz sicher nicht mit Ihnen darüber sprechen!" sagte Henry Pignon. "Die Internas der GL gehen Sie ganz sicher nichts an. Außerdem sehe ich immer noch nicht, was Sie überhaupt von mir wollen!"
Scot stöhnte innerlich. Auf diese Tour kam er hier offensichtlich doch nicht weiter. Er musste einen Trumpf ausspielen, er musste Informationen rausrücken, sonst würde M. Pignon ihn wahrscheinlich bald rauswerfen.
"Hat Ihre Angst vielleicht etwas mit zwei deutschen Kindern zu tun?" fragte Scot deshalb.
"Welche deutschen Kinder?" versuchte M. Pignon lässig zu klingen.
Doch Scot sah den nervösen, alarmierten Blick seines Gegenübers und wusste sofort, dass er mit seiner Frage ins Schwarze getroffen hatte!
"Wir haben Ferien, da wimmelt es in Frankreich nur so vor deutschen Kindern", sagte M. Pignon.
"Selbst hier in Sanissage?" fragte Scot.
M. Pignon zuckte mit den Schultern.
"Schade, dass sie nichts von den beiden deutschen Kindern wissen!"
"Warum, was ist mit ihnen?" fragte Henry Pignon angespannt.
"Sie sind verschwunden!" behauptete Yves Scot, teils, weil er es tatsächlich befürchtete, teils, um M. Pignon aus der Reserve zu locken.
"Wann?" fragte M. Pignon reflexartig, und Scot hörte Angst aus der Stimme des Mannes.
"Am letzten Dienstag!"
"Unmöglich", platzte es aus M. Pignon heraus. "Wir haben sie erst am Donnerstag auf den Bahnhof gebracht. Sie sollten wieder nach Deutschland zurück fahren!"
"Nur zur Sicherheit, dass wir wirklich von den gleichen Kindern reden: Hießen die beiden Tom und Jenny?"
M. Pignon nickte resigniert. Er hatte sich dummerweise verplappert und Scot würde ihm nicht mehr glauben, wenn er jetzt wieder so tat, als ob er ganz andere Kinder gemeint hatte.
"Woher kennen Sie die Kinder?" fragte M. Pignon. Er wunderte sich, warum ihm Tom und Jenny nichts von einem Yves Scot erzählt hatten.
"Aus Rochefort", sagte Yves Scot. "Sie haben eines Tages bei mir angerufen, weil sie für ihre Schülerzeitung ein Interview mit einem Journalisten machen wollten."
"Ah ja", sagte M. Pignon erleichtert. "Jetzt weiß ich, wer Sie sind! Sie sind der Journalist, der die Kinder ins Gefängnis geschmuggelt hat! Die Kinder haben uns von Ihnen erzählt. Allerdings haben Sie keinen Namen erwähnt, weshalb ich vorhin überhaupt nicht an Sie gedacht habe, als Sie mir Ihren Ausweis gezeigt haben."
Scot nickte.
M. Pignon sah Yves Scot nachdenklich an. "Und, was wollen Sie jetzt von mir?"
"Der Sache auf den Grund gehen!" sagte Scot. Er überlegte, ob er Pignon vertrauen konnte und entschied sich schließlich dafür. Die Kinder hatten dem Bauern wohl eh schon alles erzählt, was sie mit ihm erlebt hatten, da würde er M. Pignon wahrscheinlich eh keine großen Neuigkeiten mehr erzählen. Er würde im Gegenzug hier aber vielleicht erfahren, was mit den Kindern passiert war und warum die Nadel auf seiner Karte in Sanissage steckte. Denn dass ein Zusammenhang zwischen dem Geheimdienst den Kindern und den Bauern bestand, war so klar wie Kloßbrühe. Deshalb fuhr er fort: "Ich werde sehr wahrscheinlich vom Geheimdienst überwacht werde, seit ich mit den Kindern im Gefängnis war. So etwas macht einen natürlich stutzig, und ich frage mich, warum dieser Junge im Gefängnis so wichtig war, dass ich jetzt vom Geheimdienst überwacht werde?"
"Und da kommen Sie einfach so zu uns herein spaziert?" rief M. Pignon erregt. Er sprang auf und schaute aus dem Fenster. Zum Glück sah er weder fremde Personen noch Fahrzeuge auf seinem Hof. "Wir haben schon genug Probleme, da müssen Sie uns nicht auch noch den Geheimdienst auf den Hals hetzen!"
"Kein Sorge!" sagte Scot. "Ich bin nicht mit meinem eigenen Auto, sondern mit einem Mietwagen gekommen. Und mein Handy habe ich zu Hause gelassen. Ich bin mir sicher, dass mich niemand verfolgt hat!"
"Hoffen wir es!" sagte M. Pignon. "Ich kann Ihnen übrigens nicht weiter helfen! Um den Jungen in dem Gefängnis müssen Sie sich schon alleine kümmern. Wir haben nichts mit ihm zu tun!"
"Dann erzählen Sie mir etwas von den deutschen Kindern!" sagte Yves Scot.
"Was haben sie hier gemacht? Wirklich Urlaub, wie sie mir selbst erzählt haben? Ich denke nicht! Und warum waren sie nur zwei Tage hier? Woher kennen Sie die Kinder eigentlich?"
"Kein Kommentar!"
Mit dem Rücken zu Scot schaute M. Pignon aus dem Fenster und schien nicht mehr ansprechbar zu sein.
Yves Scot stützte seinen Kopf auf die Hand und sah M. Pignon abwägend an. Der Mann verheimlichte ihm etwas Wichtiges, und dieses Wichtige hatte mit den Kindern zu tun! Und vielleicht auch mit dem Jungen im Gefängnis. Denn hätten die beiden sonst diesem Bauern von ihren Erlebnissen in Rochefort erzählt?
Während Scot sich die Dinge durch den Kopf gehen ließ, passierte etwas sehr Merkwürdiges: Wie bei einem Kippbild, bei dem man in ein und demselben Bild je nach Wahrnehmung zwei völlig unterschiedliche Motive erkennen kann, veränderte sich auf einmal Scots Perspektive auf die Kinder und kehrte alles um, was er bisher in ihnen gesehen hatte. Nicht mehr er war es, der die Kinder benutzt hatte, um an Informationen heran zu kommen. Sondern sie waren es, die ihn benutzt hatten!
Plötzlich sah er glasklar, dass die Kinder nicht irgendwelche x-beliebige Kinder aus Deutschland waren und ihre Begegnung alles andere als zufällig gewesen war! Nein, sie war das Ergebnis genauer Planung!
Was Scot allerdings nicht verstand, war, wer die Kinder zu ihm geschickt hatte? Der Geheimdienst? Nein, das war zu verrückt! Es war doch wohl hoffentlich verboten, Kinder als Spione einzusetzen? Hatte dann die geheime Sekte, zu der auch der Junge im Gefängnis gehörte, sie zu ihm geschickt? Schon möglicher! Und hieß das dann, dass der Geheimdienst womöglich gar nicht in erster Linie ihn, sondern die Kinder beobachtete? Aber warum? Wie hing das alles zusammen?
"Möchten Sie noch ein Glas Wasser?" fragte Henry Pignon. "Und dann muss ich dringend wieder aufs Feld!"
Scot nickte abwesend. Während M. Pignon zurück zum Schreibtisch ging und Scot und sich selbst noch ein Glas Wasser einschenkte, überlegte Scot sich fieberhaft, welche Informationen die Kinder wohl ursprünglich von ihm hatten haben wollen? Was hatten sie mit ihrem fingierten Interview in Erfahrung bringen wollen? Mit dem Gefängnis-Jungen konnte es doch eigentlich nichts zu tun haben? Denn schließlich hatten die Kinder nicht voraus sehen können, dass er sie ins Gefängnis hatte schleusen wollen?! Aber was war es dann? Irgendetwas war an dieser Sache höchst merkwürdig. Irgendetwas passte überhaupt nicht zusammen!
Scot schwitzte und trank einen Schluck Wasser. Er musste mit den Kindern sprechen! Am besten jetzt gleich! Er musste sie zur Rede stellen. Er musste heraus finden, wie alles zusammen hing. Und nicht zuletzt musste er wissen, ob es ihnen wirklich gut ging. Denn auch wenn die beiden in etwas Kriminelles verwickelt waren, das sogar den Geheimdienst auf den Plan gerufen hatte, so waren es doch vor allem Kinder!
"Haben Sie schon Kontakt zu Tom und Jenny gehabt, seit sie wieder in Deutschland sind?" fragte Scot M. Pignon mit belegter Stimme.
M. Pignon schüttelte den Kopf.
"Woher wissen Sie dann, dass die beiden wirklich zu Hause angekommen sind?" meinte Yves Scot. "Mir haben sie schließlich auch gesagt, dass sie einen Tag länger in Rochefort bleiben würden und pfft - waren sie verschwunden!"
"Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun!" sagte M. Pignon und lächelte. "Die Kinder hatten einfach keine Lust mehr auf Rochefort!"
"Und wer sagt Ihnen, dass sie im Zug nach Hause nicht auch plötzlich keine Lust mehr auf Deutschland hatten?"
"Also gut!" sagte Henry Pingon und griff kurz entschlossen zum Telefonhörer. "Ich sehe, dass Sie keine Ruhe lassen, bis Sie etwas von den Kindern erfahren haben. Es kann nicht schaden, bei ihnen zu Hause anzurufen. Allerdings werde ich das tun, denn ich gebe Ihnen ganz sicher nicht deren Telefonnummer! Und wenn Sie mit den Kindern gesprochen und sich überzeugt haben, dass es ihnen gut geht, gehen Sie bitte! Ich kann Ihnen in Ihrer Sache nicht weiter helfen."
M. Pignon kramte in seiner Schreibtischschublade und zog einen verknitterten Zettel hervor. Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer von Tom so, dass Scot keinen Blick darauf werfen konnte.
"Hallo?" sagte M. Pignon. "Hier spricht M. Pignon. Sprechen Sie französisch? Ja? Sehr schön! Könnten Sie mir bitte Tom an den Apparat geben? ... Ich habe ihn im Urlaub kennen gelernt ... Er ist noch nicht zurück? ... Immer noch im Ferienlager? ... Ah, danke! ... Richten Sie ihm bitte schöne Grüße aus! Er soll sich bitte melden, sobald er wieder zu Hause ist, ja? ... Ja, er hat meine Nummer. Vielen Dank! Auf Wiedersehen!"
M. Pignon legte auf und sah Yves Scot, halb verwundert, halb besorgt an. "Tom ist tatsächlich noch nicht zu Hause angekommen!"
"Dann probieren Sie es bei Jenny!" schlug Scot vor.
Henry Pignon schüttelte den Kopf. "Ich möchte keine Panik erzeugen. Es wirkt sicher komisch, wenn plötzlich irgendein Mann aus Frankreich bei beiden Eltern anruft und sich nach Tom und Jenny erkundigt. Bevor wir selber nicht wissen, wo die Kinder sind, lassen wir die Eltern aus dem Spiel!"
"Aus welchem Spiel?" fragte Scot. "Möchten Sie mir nicht endlich erzählen, was es mit den Kindern auf sich hat?"
M. Pignon sah Scot schweigend an.
"Salut!" rief eine fröhliche Stimme im unteren Stockwerk, dann Gekichere und Gepoltere. Offensichtlich war Mme Pignon mit den Kindern vom Einkaufen zurück gekommen. Am liebsten hätte Henry die Unterhaltung mit Scot hier abgebrochen, wäre zu seiner Familie gegangen, hätte seiner Frau beim Ausräumen des Autos geholfen und wäre dann selbst wieder aufs Feld gefahren. Aber nachdem zumindest Tom nicht zu Hause angekommen war, dieser Journalist also mit seiner Vermutung Recht gehabt hatte, und er vielleicht auch noch mehr über die Kinder oder sogar das Endlager, wusste, schien dies nicht mehr möglich zu sein.
Doch wie sollte er sich weiter mit ihm unterhalten? Sollte er ihm etwa vertrauen? Er war Journalist und würde schneller einen Artikel über die Moks geschrieben haben, als er kucken konnte. Und wusste er überhaupt, ob dieser Mann wirklich Yves Scot war? Vielleicht war dieser Mann ja selbst vom Geheimdienst?
Scot sah Pignon auffordernd an, aber Pignon klebte die Zunge am Gaumen fest.
"Salut, Henry!" Claire Pignon platzte fröhlich ins Zimmer. "Mignon sagte mir, dass du hier bist und Besuch hast!" Sie gab ihrem Mann einen Kuss und sah Yves Scot fragend an.
"Salut!" sagte Scot. "Ich bin Yves Scot, ein Journalist aus Rochefort und ein Bekannter von Tom und Jenny!"
"Salut!" sagte Claire erstaunt. "Ich bin Claire! Sind Sie der Journalist, der Tom und Jenny ins Gefängnis geschleust hat?"
Scot nickte.
"Und was führt Sie hier her?!"
"Das will er uns nicht sagen!" sagte Henry. "Genauso wenig wie wir ihm sagen können, was uns bedrückt."
"Tom ist nicht in Deutschland angekommen", wandte sich Scot an Claire Pignon. Wenn er Henry nicht knacken konnte, dann vielleicht seine Frau.
"Was heißt das?" wandte sich Claire an Henry. "Nicht angekommen?"
"Keine Ahnung", sagte Henry. "Ich habe auf Scots Bitte hin gerade mit Toms Vater telefoniert. Der sagte mir, dass Tom immer noch im Ferienlager ist."
"Das kann doch nicht sein!" sagte Claire. "Er hätte schon Freitag früh wieder zu Hause sein müssen! Und was ist mit Jenny? Weiß sie, wo Tom ist?"
"Ich möchte die Mutter erst gar nicht anrufen!" sagte Henry. "Falls die Eltern sich je kurz schließen, werden sie sicher besorgt sein."
"Zu Recht!" sagte Claire, "aber dann müssen wir heraus finden, wo sie sind!"
"Und wie soll das gehen?" fragte Henry. "Sie können sonst wo sein! Vielleicht hatten sie einfach noch Lust auf Urlaub?! Und da ihre Eltern davon ausgegangen sind, dass sie im Ferienlager sind, können sie ihre freie Zeit einfach nur ausgenützt haben. Ich hätte das in ihrem Alter vielleicht auch gemacht."
"Und was, wenn sie nicht freiwillig Urlaub machen?" fragte Claire. "Ihnen kann sonst was passiert sein!"
"Was sollen wir denn deiner Meinung nach tun?" fragte Henry. "Die Polizei können wir schlecht informieren! Erstens würden wir dort in echte Erklärungsnöte kommen, weshalb wir die Kinder überhaupt kennen, zweitens würde die Polizei gleich die Eltern informieren und drittens wissen wir nicht, ob und welche Informationen die Polizei an gewisse Leute weiter leitet! Am Ende wird uns noch das Verschwinden der Kinder in die Schuhe geschoben!"
"Und Sie?" wandte sich Claire an Scot. "Welche Idee haben Sie?"
"Ich weiß nicht einmal, worum es geht!" sagte Scot. "Ihr Mann möchte mich nicht einweihen."
"Die Kinder haben uns Informationen geliefert", erklärte Claire.
"Claire, du vergisst, dass er kein Eingeweihter ist!" sagte Henry. "Er darf nichts wissen! Außerdem ist er Journalist und wird gleich alles an die große Glocke hängen!"
"Das ist mir schon klar!" sagte Claire. "Aber die Kinder sind verschwunden. Ihnen zuliebe müssen wir etwas unternehmen! Selbst wenn sich danach heraus stellen sollte, dass sie es sich nur haben gut gehen lassen! Aber wir davon dürfen wir nicht ausgehen, nicht in dieser Situation. Ich frage mich allerdings, wie wir ihnen helfen können. Wo sollen wir suchen und wie?"
"Richtig!" sagte Henry, "Wir können nichts unternehmen! Wir haben unsere eigenen Probleme!" Am besten warten wir erst einmal ab!"
"Und wenn es dann zu spät ist?" sagte Claire. "Das können wir Tom und Jenny nicht antun! Wenn uns schon die Hände gebunden sind, so kann uns ein Journalist vielleicht dabei helfen, die beiden zu suchen! Ein Journalist hat auch ganz andere Möglichkeiten der Recherche! Übrigens kann uns auch in der anderen Sache ein Journalist von Nutzen sein! Oder hast du vergessen, dass die Bauern der GL erst mal genug von uns haben?! Dieser Journalist dagegen interessiert sich offensichtlich für die Kinder und sehr wahrscheinlich auch für unsere Probleme! Weihen wir ihn also wenigstens in die sichtbaren Dinge ein! Vielleicht kann er uns ja irgendwie helfen!"
"Und was, wenn er gar kein Journalist ist?" sprach Henry seine Befürchtungen offen aus. "Oder was, wenn er zwar Journalist ist, aber für die Gegenseite arbeitet?"
"Würde er dann hier ganz offiziell vor uns sitzen?" stellte Claire eine Gegenfrage. "Würde er dann nicht heimlich an Information heran kommen wollen?"
Henry zuckte ratlos mit den Schultern.
"Also", sagte Claire zu Scot. "Kommen wir zu Sache: Die Kinder haben uns die Information geliefert, dass in einer Höhle im nächsten Tal von hier ein Endlager für radioaktiven Müll entstehen soll. Falls sie verschwunden sind, dann sicher deshalb, weil sie uns die Informationen gebracht haben. Schon deshalb sind wir in ihrer Schuld und müssen ihnen helfen! Dann haben wir natürlich auch das riesige Problem mit dem Endlager. Das müssen wir und die GL natürlich verhindern! Aber die Bauern der GL glauben uns nicht, dass im nächsten Tal im Wald ein Endlager entstehen soll. Und zwar deshalb, weil sie die Höhle nicht kennen, und sich deshalb nicht vorstellen können, wohin der radioaktive Müll gelagert werden soll. Keine Höhle, kein Endlager, kein Endlager, kein Protest."
"Und warum zeigen Sie den Bauern nicht einfach die Höhle?" fragte Scot verwundert.
"Das haben wir gestern Nacht versucht", sagte M. Pignon. "Aber die Zone um die Höhle ist plötzlich abgesperrt. Angeblich, weil sich dort gefährliche Eichenspinner eingenistet haben. Dabei gibt es dort so gut wie keine Eichen!"
"Und woher kennen Sie die Höhle, wenn sie sonst niemand anders kennt?" fragte Scot interessiert. "Sind Sie Höhlenforscher?"
"Nein", sagte M. Pignon. "Aber wir haben die Höhle vor langer Zeit bei einem Spaziergang entdeckt. Daher kennen wir sie."
"Aha!" sagte Scot skeptisch. "Bei einem Spaziergang! Und außer Ihnen hat nie jemand zuvor die Höhle entdeckt? Und sie ist auch auf keiner Karte jemals vermerkt worden? Das klingt unglaublich!"
Claire zuckte mit den Schultern.
"Gut!" sagte Scot zögernd. "Da in diesem Fall einige Dinge unglaublich sind, bin ich bereit, wenigstens so zu tun, als glaube ich Ihnen. Trotzdem frage ich mich, woher ausgerechnet zwei Kinder aus Deutschland wissen, dass dort ein Endlager entstehen soll?"
"Die Kinder haben Kontakte, die über das normal Sichtbare hinaus gehen!" sagte M. Pignon schwammig. "Mehr können wir Ihnen nicht sagen."
"Kontakte wie den rätselhaften Jungen im Gefängnis?" mutmaßte Scot.
M. Pignon schaute ihn blicklos an, aber Mme Pignon nickte.
Irgendwo ganz hinten in Scots Erinnerungen klingelte es. Hatte Tom ihm nach seinem Besuch im Gefängnis nicht gesagt, dass der Junge "Angst vor gelber Farbe" habe? Und konnte diese Angst nicht Angst vor Atomkraft bedeuten? Immerhin wurde der Atommüll in gelbe Fässer gepackt, bevor er endgelagert wurde. Hatten die Kinder also ihre Information über das Endlager von dem rätselhaften Jungen im Gefängnis bekommen?
"Hm", sagte Scot langsam. "Ich glaube, allmählich fügen sich die Dinge auch für mich zusammen. Der Junge im Gefängnis ist wahrscheinlich ein Mitglied einer geheimen Sekte. Das habe ich übrigens von Anfang an in Erwägung gezogen. Diese Sekte lebt nun womöglich in der Nähe der Höhle, weshalb Sie beide sowohl die Sektenmitglieder als auch die Höhle kennen. Die Kinder aus Deutschland sind wahrscheinlich schon länger mit Ihnen bekannt und wurden wahrscheinlich von Ihnen über mich, einem doofen, nichtsahnenden Journalisten, ins Gefängnis geschleust, um möglichst unauffällig mit dem Jungen reden zu können. Wie Sie vorhersehen konnten, dass ich ins Gefängnis gehen würde, ist mir zwar schleierhaft, tut aber im Moment wohl nichts zur Sache. Im Gefängnis haben Tom und Jenny von dem Jungen erfahren, dass in der Höhle ein Endlager entstehen soll. Die Sektenmitglieder wollen verhindern, dass neben ihren Häusern ein Endlager für radioaktiven Müll entsteht, weshalb Sie als Organisation, die sich für Gesunde Landwirtschaft einsetzt, Ihnen helfen wollen."
"Gut gezielt, aber doch nicht getroffen", sagte M. Pignon.
"Tatsächlich zielen die meisten Ihrer Vermutungen haarscharf daneben", sagte Claire. "Aber bevor Sie dieses krude Wissen in der Welt verbreiten, sollten wir Sie lieber für unsere Sache vereinnahmen! Ich hoffe, das siehst du genauso, Henry?"
Henry zuckte mit den Schultern, nickte aber danach.
Scot sah Claire Pignon aufmerksam an. Die Sache fing an, mehr als spannend zu werden!
"Er soll uns versprechen, dass er nichts veröffentlicht, bevor wir ihm grünes Licht dafür geben!" sagte Henry. "Am besten schriftlich!"
"Gute Idee!" sagte Claire und schaltete den Computer an. "Und er soll uns helfen, die deutschen Kinder wieder zu finden! Am besten setzen wir gleich einen Vertrag auf. Oder sind Sie nicht an diesem Deal interessiert?"
"Doch, sehr", sagte Scot, "Aber wenn Sie mein Vertrauen ganz gewinnen wollen, geben Sie mir am Besten das Exklusivrecht an der Geschichte. Dann stehe ich zeitlich nicht unter Druck und gehöre ganz Ihnen!"
"Im Moment dürfen Sie die Geschichte auf gar keinen Fall veröffentlichen!" sagte Claire bestimmt.
"Aber irgendwann muss die Geschichte ja wohl mal an die Öffentlichkeit?" sagte Scot. "So ein Endlager ist schließlich nicht Ihre Privatsache!"
"Nicht unsere, aber vielleicht von jemand anderem", sagte Mme Pignon rätselhaft. "Die Veröffentlichung hängt von der Entwicklung der Dinge ab. Im besten Fall, also wenn wir das Endlager verhindern werden können, wird niemals jemand etwas von der Sache erfahren!"
"Außerdem können wir Ihnen kein Exklusivrecht an der Geschichte geben! Wir haben kein Recht auf diese Geschichte!" warf Henry Pignon ein.
Scot stöhnte. Unter diesen Bedingungen konnte er nicht arbeiten!
"Wenn Sie sich nicht auf unsere Bedinungen einlassen, gehen Sie jetzt besser!" sagte M. Pignon. "Noch wissen Sie viel zu wenig, um daraus eine auch nur halbwegs glaubhafte Story entwickeln zu können."
Scot schüttelte den Kopf und dachte dabei an seine Kollegen, denen der Stoff, den er bis hier erfahren hatte, völlig ausreichen würde, irgendetwas über diese bisher unentdeckte Höhle, ein abgesperrtes Waldgebiet und Gerüchte über ein geplantes Endlager in die Welt zu setzen.
Aber ihm? Reichte ihm dieses Gerücht auch aus? Eher nicht! Ihm würde so ein Artikel vor allem Bauchschmerzen bereiten.
"Sind Sie jetzt dabei oder nicht?" fragte M. Pignon ungeduldig, und Mme Pignon sah ihn eindringlich, fast bittend an.
Scot dachte an seinen Urlaub, den er für diese verrückte Geschichte würde opfern müssen und an Yvette, die sich über diese Aktion alles andere als freuen würde. Doch vor diese beiden Gedanken drängte sich der Wunsch, einmal in seinem Leben etwas von Bedeutung zu machen. Einmal etwas zu machen, das über den gewöhnlichen Alltagsmist hinaus ging! Etwas, bei dem er gefordert war und über sich hinaus würde wachsen müssen, und sei es nur dadurch, dass er einmal anderen half, ohne zu wissen, ob ihm das selbst irgendetwas einbrachte.
Und deshalb sagte er, ohne lange zu zögern, und mit ein klein wenig Pathos: "O.K. Ich bin dabei!"
Claire nickte erleichtert und gemeinsam setzten sie ein Schreiben auf, in dem Scot versprach, bei der Suche nach den Kindern zu helfen und alles, was er hier erfahren würde, so lange geheim zu halten, wie die Bauern es wollten. Allen war klar, dass dieses Schreiben eher Kinderkram war und bei einem Verstoß seitens Scots vor keinem Gericht der Welt Bestand haben würde. Trotzdem fühlte sich Scot daran gebunden. Denn erstens war ihm seine Schweigepflicht als Journalist gegenüber seinen Informanten wichtig, und zweitens hatte er vor sich selbst den Anspruch, ein aufrichtiger Mensch zu sein.

"Die ersten Laster kommen!" sagte Leutnant Picot ins Funktelefon. Er saß auf einem Jägerstand zwischen Landstraße und neu errichtetem Waldweg und blickte durch den breiten Schießschlitz nach draußen.
"Sind alle auf ihrem Posten?" fragte Capitaine Mallegol.
"Ja."
"Keine Eindringlinge bemerkbar?"
"Nein!"
"Dann alles wie abgesprochen."
"Verstanden!"
Leutnant Picot steckte sein Funktelefon weg und ließ seinen Blick nochmals rundum schweifen, ob irgendjemand im Wald auftauchen würde. Als er sein Gesichtsfeld gesichert hatte, beobachtete er die drei, sich auf der Straße nähernden Lastwagen. Hoffentlich wurde niemand auf den Konvoi aufmerksam! Die knallweißen Castoren mit ihrer auffallenden secheckigen Form, die die Fässer enthielten, waren zwar unter grün-braunen Planen versteckt worden. Trotzdem würde sich möglicherweise irgendjemand fragen, warum mehrere schwer beladene Laster in den Wald einbogen.
Wenn die Lastwagen erst einmal im großräumig abgesperrten Bereich der Gendarmerie sein würden, wäre die Gefahr ihrer Entdeckung gering. Aber bis dahin waren es noch mehrere hundert Meter, und die galt es von ihm und den anderen Mitarbeitern der Gendarmerie Nationale zu überbrücken. Jetzt bogen die Laster von der regulären Straße auf den neu geschlagenen Waldweg ab. Hoffentlich war der Waldweg nicht zu eng. Hoffentlich kippten die Laster bei der engen Kurve nicht um. Denn dann hätten sie nicht nur ein Problem mit den Wagen, sondern auch eines mit dem radioaktiven Material.
Der erste Lastwagen fuhr in die Kurve. Er schien die Kurve gut zu packen. Er musste zwar einmal zurück setzten, doch dann schaffte er die Kurve und konnte weiter fahren. Jetzt der zweite Laster. Er holte vor der Kurve etwas weiter aus und kam dadurch etwas vom engen Waldweg ab. Verdammt, jetzt fuhr er mit den rechten Rädern sogar in einen kleinen Graben! Der Motor heulte auf und der Wagen schwankte leicht. Leutnant Picot beobachtete angespannt, wie der Laster mit großem Geheul aus der Rinne fuhr. Geschafft!
Der dritte Fahrer des Castorwagens hatte glücklicherweise keinerlei Probleme mit dem Weg. Er hielt sich von dem Graben fern, fuhr die Kurve langsam aber sicher und musste seine Spur auch nicht mehr korrigieren.
Bald waren alle drei Laster außerhalb der gefährlichen Zone und damit auch aus Leutnant Picots Blickfeld. Der Leutnant sah auf seine Uhr. Die nächsten Laster würden erst in zwei Stunden kommen. So lange würde es brauchen, bis die Laster ihr Material vor der Höhle ausgeladen haben würden. Und mehr Laster passten nicht in die Nähe des Höhleneingangs.
In der Zwischenzeit würden er und mehrere Sergeants aufpassen, dass hier niemand in der Gegend herum schlich und auf ihre Operation aufmerksam werden würde. Vom Capitaine hatten sie die Weisung erhalten, alle Personen unverzüglich mit dem Hinweis auf eine lokale, vorgezogene Jagdsaison aus dem Gebiet zu entfernen und bei anhaltend fehlender Einsicht notfalls zu erschießen. Bei der Jagd kam es immer wieder vor, dass Menschen erschossen wurden, da würden ein paar zusätzliche Jagdopfer niemandem auffallen. Schwieriger war es da schon, den Personen die Vorverlegung der Saison zu erklären.
"Kinder mit Hund im Wald!" meldete Sergeant Bonnet. "Kurz vor der Absperrung auf meiner Seite! Soll ich mich kümmern?"
"Ja!" sprach Leutnant Picot ins Funkgerät. "Aber nur im äußersten Notfall schießen!"
"Klar! Verstanden!"
Picot hielt sich seinen Feldstecher vor die Augen und suchte Bonnet und die Kinder. Bonnet schien allerdings seine Position leicht verändert zu haben, denn er war nicht mehr zu sehen oder hinter mehreren Bäumen und einem kleinen Hügel verschwunden. Hoffentlich verbockte Bonnet diese Sache nicht. Immerhin war er noch nicht lange bei der Gendarmerie.
Während Picot überlegte, ob er unerlaubter Weise seinen Posten verlassen sollte, um zu Bonnet zu gehen, meldete Bonnet über das Funkgerät, dass die Kinder die Geschichte von der Jagd geglaubt und beinahe panikartik wieder zurück rennen wollten. Er habe sie allerdings den neuen Waldweg entlang geschickt, damit sie von ihnen besser im Auge behalten werden konnten. Der Hund der Kinder war an der Leine gewesen, und so hatte er nicht erst eingefangen werden müssen.
Picot legte das Funkgerät weg und schaute durch den Feldstecher. Tatsächlich, auf der Hügelkuppe hüpften drei kleine Punkte auf ihn zu. Die Punkte kamen schnell näher, wurden größer und strichartiger. Bald waren sie als zwei, in etwa gleich große Kinder und als ein kleiner, terrierartiger Hund erkennbar. Als die Kinder noch einige Meter von seinem Hochstand entfernt waren, rief das Mädchen: "Nicht schießen, bitte nicht schießen! Wir haben nicht gewusst, dass die Jagdsaison jetzt schon begonnen hat!"
"Habt keine Angst!" sagte Leutnant Picot und legte den Feldstecher bei Seite. "Ich warte ganz sicher, bis ihr weg seid. Außerdem habe ich gerade überhaupt kein Wild vor meiner Flinte!"
"Vielen Dank, Monsieur!" rief das Mädchen und rannte an seinem Hochstand vorbei.
Den Jungen hatten dagegen die Rede des vermeintlichen Jägers mutig gemacht. Er blieb mit dem Hund unter ihm stehen und stellte fest: "Sie haben ja gar kein Gewehr!"
"Hier ist mein Gewehr!" sagte Leutnant Picot und hob seine Handfeuerwaffe nach oben.
"Was ist das denn für ein Ding auf dem Gewehr?" fragte der Junge.
"Das ist ein Zielfernrohr!" sagte Leutnant Picot. "Wenn da ein Wildschwein oder ein Reh weiter weg ist, kann ich es durch mein Zielfernrohr immer noch sehen. Und ich kann unterscheiden, ob es wirklich ein Tier oder ein Mensch ist."
"Komm jetzt endlich!" rief das Mädchen aus einiger Entfernung. "Im Wald gibt es nicht nur diesen einen Jäger! Du hast doch von dem anderen gehört, dass der ganze Wald voll von ihnen ist!"
"Gleich!" rief der Junge. "Er soll mir nur noch eine Frage beantworten ... du kannst ja schon mal voraus gehen!"
Der Hund bellte und zog an der Leine.
"Warum macht Ihnen das Töten von Tieren Spaß?" der Junge reckte den Kopf zu ihm hoch und sah ihn herausfordernd an.
Leutnant Picot überlegte, was er ihm antworten sollte, doch ihm fiel keine unverfängliche Antwort ein.
Der Hund bellte aufgeregt und das Mädchen rief immer wieder nach dem Jungen.
"Geh mit deiner Freundin nach Hause!" sagte Picot schließlich. "Die Jagd hat begonnen!"
"Das ist nicht meine Freundin, sondern meine Schwester!" sagte der Junge. "Und ich weiß, warum sie gerne auf Tiere schießen!"
"Warum denn?" fragte Picot belustigt.
"Sie sehen gerne Blut!" sagte der Junge und lachte. "Ich übrigens auch. Aber nicht Tierblut, sondern Menschenblut!"
Der Junge zielte mit den Armen auf Picot, machte "Bum! Bum!" und lief dann lachend, den bellenden Hund hinter sich her ziehend, zu seiner Schwester.

Während Leutnant Picot sich mit dem Jungen unterhalten hatte, war einige Meter hinter seinem Hochsitz ein Mann durch das Unterholz geschlüpft. Mit klopfendem Herzen schlich er hinter Büschen und Baumstämmen Richtung Absperrband, immer darauf bedacht, von keinem der als Jäger verkleideten Gendarme bemerkt zu werden.
Die Bauern hatten ihm eine Karte gezeichnet, die ihm einen geheimen Weg zur Höhle abseits der neuen Schneise zeigte. Er konnte nur hoffen, dass die Gendarme ihre Konzentration vor allem auf das Gebiet um die neu geschlagene Schneise und nicht auf den Wald dahinter richteten.
Scot, denn kein anderer war der Mann, versteckte sich hinter einem Busch, um nochmals einen Blick auf die Karte werfen zu können. Wenn er die Karte richtig interpretierte, sollte er erst in einem halben Kilometer scharf nach links zu einem kleinen Fluss abbiegen, und von dort im Schutz des dichten Gebüsches, das dort wuchs, in einem großen Bogen um den eigentlichen Weg in Richtung Höhleneingang gehen. Die Pignons hatten ihm geraten, möglichst weit weg vom Höhleneingang zu bleiben und nur auf den gegenüber liegenden Hang zu klettern. Laut den Pignons fiel der Hang auf halber Höhe etwas nach hinten, bildete also eine Art Falte, und würde ihm so Sichtschutz von unten geben. Gleichzeitig würde er von dort oben einen guten Rundumblick auf den Höhleneingang und die Lastwagen haben.
Der Weg von hier zum geheimen Weg entsprach in etwa der Entfernung des Absperrbandes. Er würde also erst hinter dem Absperrband einen großen Bogen um die Gendarme schlagen können.Vorausgesetzt natürlich, dass sie sich nicht ohnehin überall positioniert hatten.
Scot faltete die Karte zusammen und sah hoch. Merde! Durch den Busch sah er, dass nur wenige Meter von ihm entfernt ein Gendarm stand! Scot hielt die Luft an. Hatte der Gendarm ihn entdeckt? Nein, es sah nicht so aus. Der Gendarm suchte zwar etwas, aber nicht ihn. Jetzt machte der Gendarm wieder ein paar Schritte zurück und drehte sich mit dem Rücken zu Scot. Breitbeinig stand er da und gab einen wohligen Laut von sich. Ah! Der Gendarm musste offensichtlich nichts anderes als pinkeln! Kurz danach stapfte er wieder davon auf seinen alten Posten.
Scot atmete erleichtert aus, wartete noch ein wenig und schlüpfte dann weiter Richtung Absperrband.

"Irgendwelche Personen gesichtet?" fragte Capitaine Mallegol.
"Zwei Kinder mit einem Hund", gab Leutnant Picot Auskunft. "Sie haben den Wald ohne Probleme wieder verlassen. Sonst keine Vorkommnisse."
"Gut. Ende!" Capitaine Mallegol nickte zufrieden. Offensichtlich waren keine Bauern im Anmarsch. Der Kommandant hatte ihn vor dem Einsatz in Kenntnis gesetzt, dass auf alle Fälle das Eindringen der Bauern verhindert werden sollte. Allerdings nicht wie bei den einzelnen Personen im Notfall mit Waffengewalt, sondern immer nur mit Festnahmen. Sollte es den Bauern trotzdem gelingen, bis zur Höhle vorzudringen, sollte heute bei der Verladung der Einsatz sofort abgebrochen werden. Bei der Einlagerung aller weiterer Fässer in den nächsten Tagen sollte der Einsatz allerdings fortgesetzt werden. Diese Weisung war ihm unverständlich, aber Befehl war Befehl. Nun, im Moment brauchte er sich darüber glücklicherweise nicht den Kopf zu zerbrechen, denn die Bauern waren offensichtlich nirgends zu sehen.
Bisher lief überhaupt alles nach Plan. Die Laster waren pünktlich eingetroffen. Das Ausladen des ersten Lasters dauerte kürzer als gedacht und die Moks hatten die Fässer wie verabredet tiefer in die Höhle eingelagert. Zwar hatten sie bisher keinen der Moks zu Gesicht bekommen. Aber der erste Höhlenraum war bald frei geräumt gewesen, und sie hatten wieder neue Fässer einlagern können.

Soct lag auf seiner Anhöhe im Schutz mehrere Farnstauden und spähte gespannt auf die Szene am gegenüber liegenden Hang. Mehrere Männer, die wie Forstarbeiter gekleidet waren, standen vor dem Höhleneingang und schienen auf irgendetwas zu warten. Über ihnen, sozusagen auf dem Höhleneingang, standen Gendarme. Sie hielten Gewehre im Arm, sahen im Moment aber recht entspannt aus. In der Schlucht unter ihm fuhr jetzt ein brauner Laster weg. Wahrscheinlich war er bereits entladen worden. Gelbe Fässer mit schwarzem Zeichen sah Scot keine, aber sie waren wohl bereits in die Höhle geschafft worden.
Nachdem der eine Laster ganz verschwunden war, kam Bewegung in die Gendarme. Ein anderer Laster, der irgendwo in der Nähe geparkt haben musste, kam den Hang hochgefahren und hielt unterhalb der Felstreppe, die zum Höhleneingang führte. Die Gendarme winkten dem Fahrer und passten auf, dass der Wagen an der richtigen Stelle zu stehen kam.
Scot zog vorsichtig seine Analogkamera aus seiner Fototasche. Möglichst bewegungslos schraubte er das Teleskopobjektiv an die Kamera. Dann schob er die Kamera so weit durch den Farn, dass die Linse zwar nicht verdeckt wurde, die Kamera selbst aber nicht zu sehen war. Scot konnte nur hoffen, dass ihn niemand bemerkte! Denn wer wusste, was diese Gendarmen machen würden, wenn sie ihn entdeckten? Mit ihren Waffen sahen sie nicht so aus, als ob sie lange zögern würden, zu schießen. Besser nicht daran denken!
Scot fotografierte die Gendarmen, den parkenden Laster, die Forstarbeiter und immer wieder den Höhleneingang.
Ah, jetzt tat sich etwas! Vom Laster wurde an der Rückseite die grün-braune Plane etwas zur Seite geschoben und eine dahinter liegende Türe geöffnet. Ein Arbeiter stieg auf den Laster und ein anderer fuhr eine Hebebühne an den Lastwagen heran. Aufgeregt machte Scot ein paar Fotos. Als er die Türe mit seinem Objektiv heran zoomte, sah er es: Das erste gelbe Fass mit dem internationalen schwarzen Warn-Zeichen für radioaktive Strahlung!
Die Bauern hatten also Recht gehabt, nein, die Kinder hatten Recht gehabt! Und er, Scot, hatte gut daran getan, ihnen zu glauben!
Das war sicher die beste Story, die er kriegen konnte! Nein, das hier war die beste Story, die jeder kriegen konnte! Direkt vor seinen Augen passierte einer der größten, ja vielleicht sogar der größte Umweltskandal Frankreichs und er bekam ihn auf die Linse!
Aufgeregt schoss Scot ein Bild nach dem anderen. Ein Foto, wie der Arbeiter das gelbe Fass auf die Hebebühne rollt. Ein Foto von dem Fass auf der Hebebühne. Ein Foto von dem Arbeiter, der das Fass unten in Empfang nahm. Scot klickte, wie das Fass von Arbeiter zu Arbeiter gereicht wurde, wie es vor der Höhle zu stehen kam und wie es schließlich im Höhleneingang verschwand. Dann fotografierte er die Fässer, die während dessen aus dem Castorbehälter ausgeladen worden waren und neben dem Lastwagen standen. Die ungläubigen Bauern der GL würden Augen machen, wenn er ihnen dieses Material liefern würde!
Scot war so in das Fotografieren vertieft, dass er darüber fast die Gefahr vergaß, selbst entdeckt zu werden. Plötzlich krachte es über ihm, und er fuhr erschrocken zusammen. Im Baum raschelte es, dann fiel etwas neben ihm zu Boden. Zum Glück war es nur ein Tannenzapfen! Wahrscheinlich von einem Vogel oder Eichhörnchen abgebrochen. Erleichtert beugte sich Scot wieder zu seinem Fotoapparat, war aber nicht mehr so konzentriert wie zuvor. Nach ein paar weiteren Klicks merkte er außerdem, dass der Film voll war. Sollte er ihn wechseln oder lieber gehen?
Genug Material für die Bauern hatte er eigentlich. Oder sollte er warten, ob er vielleicht doch noch einen Mok vor die Linse bekam? Das wäre natürlich spektakulär! Andererseits hatte er den Pignons versprochen, die Moks aus dem Spiel zu lassen und sich nur um die Höhle und die falschen Forstarbeiter zu kümmern. Nach einigem Überlegen packte Scot deshalb die Kamera in seine Tasche zurück und verließ möglichst unauffällig seinen Posten.

Ende Teil 10

Die Fortsetzung des Romans könnt ihr in der nächsten Rossipotti-Ausgabe lesen!

 © Rossipotti No. 27, Apr. 2013