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Das geheime Buch

Herrn Maiteufels wundersame Reise in die Wirklichkeit

von

Annette Kautt

Fortsetzung Teil 5

Wer den letzten Teil noch nicht kennt und mehr als die kurze Zusammenfassung lesen möchte, geht zurück zur letzten Rossipotti-Ausgabe

Was bisher geschah:

Herr Maiteufel arbeitet in einer Butterbrotpapierfabrik und lauscht jeden Tag dem verheißungsvollen Gesang der Butterbrotpapiere, die sich auf ihr großes Leben in der Welt vorbereiten. Doch je länger er dem Gesang der Papiere lauscht, umso mehr sehnt er sich danach, selbst ein Butterbrotpapier zu werden! Da er ein Mensch mit Visionen ist, setzt er eines Tages seinen Wunsch in die Tat um: Er baut anhand des originalen Konstruktionsplans von Herrn Knobel, seinem Chef, eine Butterbrotpapiermaschine, in die er selbst hineinpassen und zum Butterbrotpapier werden kann! Doch aus irgendeinem Grund funktioniert die Maschine nicht. Irgendein Detail muss Herrn Maiteufel beim Bau der Maschine entgangen sein ...
Eines Tages bekommt Herr Maiteufel ein Paket. Herr Maiteufel ist fest davon überzeugt, dass ihm der Finder seiner Gasluftballonkarte, die er beim letzten Betriebsfest verschickt hat, das Paket geschickt hat. Doch leider ist es nicht von einem unbekannten Finder, sondern nur von seiner ehemligen Klassenkameradin Mara. Zuerst ist Herr Maiteufel enttäuscht darüber, weil in dem Paket nichts weiter als ein paar alte Fotografien und ein alter Stadtplan seiner Heimatstadt sind. Doch dann entdeckt er, dass die Streckenverhältnisse des Stadtplans und seines Konstruktionsplans genau gleich sind! Und das
kann für Herrn Maiteufel nur eins bedeuten: Wenn sich das fehlende Detail seiner Maschine nicht auf dem Konstruktionsplan entdecken lässt, muss es in seiner Heimatstadt zu finden sein! Kurz entschlossen packt Herr Maiteufel deshalb seine Siebensachen und reist mit dem Zug dorthin.
Doch kaum hat er seine Reise begonnen, weiß er nicht mehr, ob er nicht lieber zu Hause geblieben wäre. Im Zug bringt ihn sein Gegenüber stark in Verlegenheit, im Hotel seiner Heimatstadt verwirrt ihn eine "Brötchenfrau", und auch der eigentlich ganz harmlose Kaffeklatsch-Besuch bei seiner alten Bekannten Mara ruft bei ihm vor allem Beklemmung hervor. Zum Glück ist da auf einmal von einem Finder die Rede, und Herr Maiteufel weiß sofort, dass nur der Finder seiner Luftballonkarte gemeint sein kann! Er möchte ihn unbedingt kennenlernen und stattet ihm deshalb gleich einen Besuch ab.
Dort erfährt er, dass der Finder nicht nur seine Karte, sondern auch noch viele andere Dinge gefunden hat. Außerdem weiht ihn der Finder in die seltsamen Geschehnisse der Stadt ein:
Eine wichtige Person der Stadt, der Läufer, ist verschwunden. Und so lange der Läufer verschwunden ist, bleibt in der Stadt alles gleich und kann sich nichts mehr verändern! Der Finder ist deshalb beauftragt worden, den Läufer zu finden, hat aber bisher noch keine Spur.
Herr Maiteufel fühlt sich beim Finder wohl, und so bedauert er aufrichtig, dass der Finder so eine schwierige Aufgabe zu lösen hat. Doch nach einem merkwürdigen Traum, sieht Herr Maiteufel die Dinge plötzlich in
einem anderen Licht: Der Finder erscheint ihm dubios und dagegen die Brötchenfrau als ernstzunehmende Persönlichkeit. Nur sie scheint sowohl Herrn Maiteufel bei der Suche nach seinem Detail als auch der Stadt bei der Suche nach dem Läufer wirklich helfen zu können. Er sucht deshalb die Brötchenfrau auf, erfährt aber nichts von ihr. Stattdessen schleppt sie ihn zu einer wundersamen Gartenparty mit. Und bevor er es richtig wahrnimmt, hat Herr Maiteufel das Detail seiner Maschine und den verschwundenen Läufer beinahe vergessen. Denn in dem Garten riecht es unglaublich gut, es gibt leckere Regenbogen-Getränke und beim Kartenspiel mit einem Herrn mit Melone und ein paar anderen Gästen, hat er schon öfters anerkennende Blicke erhalten ...

Siebtes Kapitel, in dem Herr Maiteufel etwas über Steine erfährt

Am nächsten Morgen war Herr Maiteufel noch immer in dem Garten.
Der Tag versprach schön zu werden und Xander, der Melonenmann, hatte ihn eingeladen, an dem Kieselsteinwettlauf, der heute stattfinden sollte, teilzunehmen. Ziel des Wettlaufs war, in einer festgelegten Zeit möglichst viele Steine von einer Sorte zu sammeln. Der erste Stein, den man aufhob, bestimmte dabei die Sorte. Hob man deshalb zuerst einen seltenen Stein auf, war die Chance, bei diesem Wettbewerb zu gewinnen, viel geringer als bei einem der häufig vorkommenden Steine.
Herr Maiteufel versuchte deshalb noch vor dem Frühstück herauszubekommen, welche Steine am häufigsten auf dem Kiesweg lagen. Ihm schien, dass es die kleinen grauen ohne jede Maserung waren. Doch auch von den glänzenden, grünen Steinen gab es einige. Ihm fiel auf, wie schön die meisten Steine waren. Es gab violette, gelbe, rote und aquamarinefarbene, glatte, rissige, raue, größere und kleinere, und all das in den unterschiedlichsten Kombinationen. Eine Sorte davon faszinierte Herrn Maiteufel besonders. Diese Steine waren mittelgroß, tiefblau und hatten in der Mitte eine kleine Wölbung nach innen, in der wie ein kleines Auge ein gelber Fleck sichtbar war.
Es ertönte ein Gong und Herr Maiteufel wusste, dass nun bald gefrühstückt wurde. Mit raschen Schritten ging er deshalb zum Haus zurück.
Gestern Nacht war es noch sehr spät geworden, weshalb der Gastgeber Herrn Maiteufel angeboten hatte, bei ihm zu übernachten. Herr Maiteufel hatte gerne angenommen und bekam sogar ein eigenes Zimmer, obwohl noch mehr Gäste über Nacht geblieben waren. Er hatte sehr gut geschlafen, und jetzt freute er sich auf das Frühstück.
Im Glaspavillon war eine lange Tafel gedeckt. Die meisten Gäste hatten schon Platz genommen. Herr Maiteufel kannte inzwischen fast alle beim Namen. Die Frau mit dem rosa Schleierhut hieß beispielsweise Gerlinde. Eine andere Frau, die etwas mollig war und nach süßer Mango duftete, nannte sich Meringue. Und ein unauffälliger Mann mit schwarzem Schnauzbart, der Herrn Maiteufel mindestens schon vier Mal auf den Fuß getreten war, hatte den etwas merkwürdigen Namen Zeber. Ansonsten saßen da noch Xander, Dattelfuß, die Alabaster-Schönheit, ein kleines Männchen namens Melle und zwei Frauen, Minze und Annemone. Drei weitere Personen waren Herrn Maiteufel noch unbekannt.
Als der Gastgeber, der übrigens tatsächlich Parbleu hieß, erschien, begann endlich das Frühstück. Es gab viele köstliche Dinge. Frische Brötchen und Eier, Tee, verschiedene Säfte, Milch, selbstgemachte Marmelade, Käse, Wurst, Pudding, Kuchen, Salate, Auflauf, Obst und sogar einige Dinge, die Herr Maiteufel zuvor noch nie gesehen hatte. Er probierte von allem etwas und freute sich an der Vielfalt der Genüsse.
Doch nicht nur er, alle waren sie ins Essen vertieft und schmatzten mit ihren Augen und Mündern die bunten Kostbarkeiten. Und doch spürte man auch die angespannte Haltung ihrer Leiber, die sich zwischen den einzelnen Bissen in einem zarten Zittern entlud und an den Kieselsteinwettbewerb erinnern ließ. Nach dem Frühstück rannten deshalb alle gleich nach draußen und warteten beim Kiesweg ungeduldig auf Parbleu.
Wären die Gäste nicht ganz so ungeduldig gewesen, hätten sie in der Zwischenzeit beobachten können, wie Melle mit den Augen rollte, Gerlinde nervös durch den Garten stakste und Xander seinen Bauch imposant nach vorne streckte. Und wären sie noch weniger ungeduldig gewesen, hätten sie bemerken können, wie Herr Maiteufel neben Meringue stand und wie ein Hase mit der Nase schnüffelte. Wegen der Mangos, wie er selbst meinte.
Endlich erschien Parbleu. Er stellte sich auf eine kleine Anhöhe der Wiese und erinnerte mit ruhiger, sanfter Stimme an die Regeln des Wettbewerbs:
"Der erste Stein zählt. Sonst ist alles erlaubt."
Er stieß einen klaren, hohen Pfiff aus und der Wettbewerb begann.
Herr Maiteufel hatte gerade nach einem kleinen grauen Stein ohne Maserung greifen wollen, als Dattelfuß ihn von hinten anrempelte, er mit der Hand verrutschte und dadurch einen anderen Stein zu fassen bekam.
Es war einer der tiefblauen mit dem gelben Fleck.
"Schade", dachte Herr Maiteufel, denn diesen gab es nicht so häufig wie den grauen Stein. Andererseits freute er sich auch ein bisschen darüber. Denn diesen Stein suchte er gern.
Als Herr Maiteufel schon über hundert Steine gesammelt hatte, bemerkte er, dass ein paar Teilnehmer die kleinen grauen Steine ohne Maserung mit Farben bemalten.
"Aber das ist doch Betrug!" dachte er empört.
Er ging zu Parbleu und fragte ihn, ob er die Missachtung der Spielregel nicht bemerkt hätte.
Doch Parbleu schaute Herrn Maiteufel nur verwundert an und sagte: "Alles ist erlaubt."
"Aber der erste Stein zählt doch", erwiderte Herr Maiteufel, nun ebenfalls verblüfft.
"Solange die Steine nachher alle so aussehen wie der erste, ist das doch in Ordnung".
"Wenn das so ist ...", Herr Maiteufel sprach den Satz aber nicht zu Ende, weil ihm aufgefallen war, dass es genauso anstrengend war, die Steine anzumalen, wie sie zu suchen.
"Ja, wenn das so ist", nahm Parbleu den Satz wieder auf, "können Sie jetzt wieder Ihre Steine suchen."
Etwas peinlich berührt suchte Herr Maiteufel den Kiesweg nach weiteren Kieseln ab. Aber er konnte nicht mehr so eifrig suchen, wie vor seiner Entdeckung. Jetzt interessierte ihn viel mehr, wie die anderen ihre Steine sammelten.
Xander beispielsweise lief den Kiesweg behäbig auf und ab und hob hin und wieder einen Stein auf. Von Zeit zu Zeit ging er zu Dattelfuß und holte sich dort immer wieder Steine ab. Ob Dattelfuß freiwillig Steine abtrat, war nicht zu erkennen.
Minze und Annemone hielten sich an den Händen und blickten wie Sperber auf den Boden. Wenn die eine oder andere einen Stein entdeckte, stürzte sie sich auf ihn und rief: "Ich hab ihn, ich hab ihn!"
Meringue stand ein wenig abseits und zwirbelte ihr Haar. Sie schien den Wettbewerb ganz vergessen zu haben.
Melle hatte sich auf den Schoß einer Frau gesetzt und malte wie sie Steine an. Die Frau schien dies nicht zu stören.
Und dann fiel Herrn Maiteufel noch Gerlinde auf, die wie besessen sammelte, der aber ständig ein oder zwei Steine aus der Tasche fielen.
Die Alabaster-Schönheit schien übrigens an dem Wettbewerb nicht teilzunehmen. Sie saß in der Nähe von Parbleu und verschlang ein Brötchen nach dem anderen.
Nachdem Herr Maiteufel die anderen so eine Weile beobachtet hatte, sammelte auch er wieder Steine. Er ließ sich jetzt Zeit, schaute jeden Kiesel genau an und versuchte Unterschiede zwischen den einzelnen seiner Sorte festzustellen. Seltsamerweise waren sie aber alle genau gleich.
Herr Maiteufel gähnte und legte sich ins Gras. Einen seiner Steine behielt er in der Hand. Er fühlte sich gut an. Glatt und mittelgroß, passte er genau in seinen Handteller. Mit dem Ringfinger konnte er die Mulde ertasten und mit ihr spielen. Die Sonne wärmte ihn und er schlief ein.

Plötzlich kitzelte ihn etwas an der Nase.
Er blinzelte mit den Augen und sah Melle mit einem Grashalm über sein Gesicht streichen.
"Schau mal, was ich kann", sagte Melle. Er nahm den Grashalm zwischen seine beiden Daumen und blies mit dem Mund darauf.
Es quietschte.
Herr Maiteufel erinnerte sich, dass er früher drei verschiedene Töne auf Grashalmen spielen konnte. Er setzte sich auf und riss sich auch einen Grashalm ab.
Vorsichtig hielt er ihn sich an den Mund, doch es kam kein Ton heraus.
"Du musst den Grashalm viel straffer spannen."
Melle nahm einen neuen Halm und spannte ihn zwischen Herrn Maiteufels beide Daumen. Melles Hände waren warm und feucht. Herr Maiteufel versuchte es noch einmal und tatsächlich quietschte es ein bisschen.
Gemeinsam saßen sie im Gras und übten.
Meringue schlenderte auf sie zu und setzte sich zu ihnen.
Es roch nach Mango.
Herr Maiteufel sagte: "Sehen Sie, ich kann sogar schon zwei verschiedene Töne spielen, früher konnte ich einmal drei."
Meringue lachte und riss sich auch einen Grashalm ab.
Da ertönte aus dem Inneren des Hauses eine Glocke und Parbleu rief: "Der Wettbewerb ist beendet. Kommt alle her, wir wollen die Steine zählen."
Plötzlich waren alle ganz aufgeregt.
Herr Maiteufel schaute sich ängstlich um, stellte dann aber erleichtert fest, dass alle Steine noch neben ihm lagen. Gerlinde kam aus einer hinteren Ecke des Gartens herbeigelaufen und hatte vor Aufregung rote Flecken im Gesicht.
Meringue war traurig geworden, und als Herr Maiteufel sie fragte, wieviel Steine sie habe, rollten ihr ein paar Tränen über die Wangen und sie schluchzte: "Ich habe nur zwei."
Herr Maiteufel ärgerte sich über sich selbst. Warum hatte er auch nur eine so ungeschickte Frage gestellt? Am liebsten hätte er tröstend den Arm um Meringue gelegt, doch das traute er sich nicht.
Da fiel ihm etwas ein. "Was für Steine haben Sie denn gesammelt?" fragte er Meringue .
Es konnte ja sein, dass Meringue zufällig auch den tiefblauen mit dem gelben Fleck suchen musste, dann könnte er ihr einfach welche von seinen geben.
Doch auf der Hand, die Meringue Herrn Maiteufel entgegen streckte, lag einer der roten, rauen Steine.
Da schnürte Melle ein Säckchen auf, in dem er seine Steine gesammelt hatte, und suchte ein paar rote heraus. Er hatte vorhin keine Lust gehabt, immer nur die selbe Sorte zu malen, weshalb er auch ein paar der anderen Sorte gemalt hatte. Er gab Meringue eine Hand voll roter Steine, wischte sich die Hände an der Hose ab und ging dann aufs Haus zu.
Von einer Sekunde auf die andere war Meringue wieder glücklich. Mit den Steinen in ihren kleinen Fäusten drehte sie sich im Kreis und lachte.
Herrn Maiteufel wurde es beim Zusehen ganz schwindelig. Er ging deshalb auch zum Glaspavillon, wo sich schon beinahe alle versammelt hatten. Neben Xander war noch ein Stuhl frei.
Xander schlug ihm auf die Schulter und lachte: "Na, Maiteufel auch was abgekriegt?"
Herr Maiteufel ärgerte sich. "Schlagen Sie mir nicht so stark auf die Schulter!"
"Ach, Sie gehören wohl auch zu der Sorte, die als Junge nie auf Bäume klettern konnten? Und im Weitspucken war es bei Ihnen sicher auch nie weit her?"
Herr Maiteufel schluckte: "Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?"
"Waren Sie nun gut darin oder nicht?"
"Nun ja, auf Bäumen wurde mir leicht schwindelig", stotterte Herr Maiteufel "und beim Spucken hatte ich die Technik nie so gut raus."
"Das kommt davon!" antwortete Xander mit wichtigtuerischem Gesicht.
Herr Maiteufel verstand nicht, was Xander damit meinte. Doch bevor er ihn fragen konnte, bat Parbleu um Aufmerksamkeit.
Vor ihm stand ein kleiner Holztisch, auf den jeder sein Steinhäufchen legen sollte, wenn er aufgerufen werden würde. Die Brötchen-Frau, die von Parbleu Alabaster-Schönheit genannt wurde, saß auf einem kleinen Stuhl neben ihm und lächelte ein wenig geheimnisvoll und ein wenig selbstgefällig in die Runde.
Parbleu rief zuerst die Frau auf, auf deren Schoß Melle gesessen war. Wie Herr Maiteufel jetzt erfuhr, hieß sie Pistazie. Sie konnte eine Menge Steine auf den Tisch legen. Parbleu nickte erfreut und zählte sie gemeinsam mit der Brötchenfrau. Manche wurden nicht mitgezählt, weil sie nicht aussahen wie der erste gefundene Kiesel. Trotzdem hatte Pistazie fünfhundert dieser Sorte gesammelt! Sie durfte diese Zahl selbst in die Liste eintragen, die Parbleu dafür bereitgelegt hatte.
Danach kam Dattelfuß an die Reihe. Etwas linkisch legte er einen Haufen Steine auf den Tisch und setzte sich dann schnell wieder auf seinen Stuhl. Anscheinend war sein erster Stein ein grauer ohne Maserung gewesen. Herr Maiteufel wunderte sich, warum er von diesen so wenig zusammengebracht hatte.
Parbleu hatte fertig gezählt und sagte dann: "Schade Dattelfuß, dass du zuerst keinen grauen Stein, sondern einen aquamarinefarbenen hattest. Du hättest von diesem wahrscheinlich viel mehr gesammelt. Jetzt hast du nur siebenundneunzig. Was willst du mit diesen machen?"
Dattelfuß murmelte kleinlaut: "In den Fluss legen. Im Fluss sind auch die grauen schön."
"Gut. Dann ist jetzt Annemone an der Reihe."
Herr Maiteufel war erstaunt: Woher hatte Parbleu gewusst, dass Dattelfuß gemogelt hatte? Warum hätte er von den aquamarineblauen viel mehr gesammelt als von den grauen, wo es die doch viel öfters gab? Und warum musste Dattelfuß die grauen Steine in den Fluss bringen?
Herr Maiteufel fragte Xander leise danach.
"Maiteufel, ich habe ja gewusst, dass Sie weltfremd sind, aber dass Sie so unverständig sind, hätte ich nicht gedacht. Parbleu weiß das, weil er eben Parbleu ist. Und warum sollte Dattelfuß seine Steine nicht irgendwohin bringen? Gibt es einen vernünftigen Grund dagegen?"
"Ach so", antwortete Herr Maiteufel, obwohl er immer noch nichts verstand. Aber er hatte das Gefühl, dass Xander auch nicht alles verstand, was um ihn herum vorging. Auch wenn er immer so wissend tat.
Annemone hatte anscheinend vierhundertdreiundneunzig Steine gesammelt und lag damit nach Pistazie und vor Minze, die nur sechs Steine weniger als Annemone hatte. Nun war Zeber an der Reihe. Er ging keckernd an den Tisch vor, verbeugte sich vor der Brötchenfrau und Parbleu und zog dann mit einem Ruck seine Hosentaschen so heraus, dass er die Innenseiten nach außen stülpte.
Beide Hosentaschen waren völlig leer!
Mit beiden Händen je eine umgestülpte Hosentasche haltend, keckerte er so lange vor dem Tisch, bis ihn die Alabasterschönheit etwas unsanft zur Seite schob und Melle nach vorne rief.
Melle hatte überraschenderweise weit über fünfhundert Steine gesammelt! Pistazie war verärgert, weil sie nun nicht mehr an erster Stelle war. Sie meinte, Melle habe nur so viele Steine gesammelt, weil er auf ihrem Schoß gesessen hätte.
Nach Melle kamen noch zwei, Herrn Maiteufel unbekannte, Personen, dann Gerlinde, die am Ende fast alle Steine verloren hatte, Meringue, die immerhin fünfzig Steine auf den Tisch legen konnte, Xander und am Schluss er selbst.
Er war sehr aufgeregt. Mit zitternden Händen legte er seine Steine auf den Tisch und fürchtete sich, dass ihnen etwas geschehen könnte. Den einen, den er vorhin lange in der Hand gehalten hatte, behielt er zurück.
Parbleu lächelte ihn an: "Das haben Sie gut gemacht. Sehen Sie, auch was man sucht, kann man finden".
Trotzdem hatte Herr Maiteufel nur knapp über zweihundert Steine.
Der Gewinner war Melle. Xander hatte zwar fast hundert Steine mehr als er, aber Parbleu konnte nicht erkennen, welcher Stein von Dattelfuß und welcher von ihm gesammelt wurde. Xander war sauer und verzog sich wieder in den Garten zum Rommé spielen. Er wollte, dass Herr Maiteufel mitspielte, doch Herr Maiteufel sagte ihm, dass er keine Lust dazu habe und - sonderbar - Xander ließ ihn in Ruhe.
Herr Maiteufel ging zu Melle und gratulierte ihm.
"Und Melle, was bekommen Sie eigentlich für einen Preis?"
"Ich darf die Steine behalten!"
"Das ist alles?" fragte Herr Maiteufel verwundert.
"Warum nicht? Ich habe so lange an ihnen gemalt. Sie gefallen mir. Ich würde sie nicht gerne wie Dattelfuß in den Fluss schmeißen."
"Aber Dattelfuß kann sich doch jederzeit neue aus dem Garten holen!"
"So, kann er das?"
Die beinahe schnippische Frage von Melle verunsicherte Herrn Maiteufel.
Er ging in den Garten zum Kiesweg. Immer noch lagen da viele kleine Kiesel. Doch sie waren nicht grau und nicht bunt, sondern allesamt schwarz!
"Ach, da sind Sie ja!" sagte Parbleu. Er stand hinter Herrn Maiteufel und hielt dessen Steine. "Es fehlt noch einer. Wissen Sie, wo er ist?"
Herr Maiteufel schaute verlegen zur Seite. Den einen, nur diesen einen Stein wollte er gerne behalten. "Muss ich denn diesen auch wieder hergeben?"
"Gerade auf diesen einen kommt es ja an. Wissen Sie, das Schöne an diesem Spiel ist, dass die Verlierer auch Gewinner sind, weil sie am Schluss die Steine wieder loswerden. Loslassen kann auch ein Gewinn sein."
"Und was ist mit Dattelfuß, der die Spielregel missachtet hat? Was passiert mit ihm?"
"Das müssen Sie Dattelfuß schon selbst fragen. Geben Sie mir jetzt den Stein?"
"Ich glaube nicht. Sehen Sie denn nicht, dass jetzt alle Kiesel schwarz sind?" sagte Herr Maiteufel. Er drehte sich weg und lief zu Meringue, die auf einer der Grasterassen saß und ihm zuwinkte.
Herr Maiteufel erzählte ihr von seinem Gespräch mit Parbleu. Meringue schaute ihn mit großen Augen an und sagte: "Sie haben Parbleu nicht den Stein gegeben?"
"Nein", sagte Herr Maiteufel. "Wissen Sie, bisher habe ich immer viel zu sehr das gemacht, was die anderen von mir wollten. Mir gefällt der Stein und ich möchte ihn nicht mehr hergeben!"
Meringue nickte und meinte: "Ich denke, dass es Parbleu eigentlich ganz egal ist, ob Sie den Stein hergeben oder nicht."
Dann nahm sie seine Hand und lief mit ihm über die Wiese zu einem kleinen Teich, der im hinteren Teil des Gartens lag.

Achtes Kapitel, in dem eine Ballonreise geplant wird

Der Finder saß in seinem Dachzimmer und dachte nach. Irgend etwas musste sich bei der Vorgehensweise seiner Suche nach dem Läufer ändern. Aber was? Hatte er nicht schon alle Winkel der Stadt mehrmals abgesucht? Der Läufer konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben?!
Wie so oft in letzter Zeit, schlug er den Stadtplan auf und fuhr mit dem Finger die Straßen entlang. In seinen Gedanken stellte er sich dabei jeden Meter der Stadt vor: die Gebäude, Plätze und Gärten, das Schwimmbad, den Flusslauf, das kleine Wäldchen und die zwei Hügel. Alles, alles hatte er schon durchsucht und immer war er dabei erfolglos gewesen.
Seufzend schob er den Plan beiseite, als es klingelte.
Der Finder hob verwundert den Kopf und überlegte, wer das wohl sein könnte. "Womöglich der Herr Maiteufel", dachte er und lächelte dabei.
Erst als er unten vor der Türe stand und sie aufmachen wollte, befürchtete er, dass es wieder jemand von denen war, die ihn beschimpfen wollten. Manchen gefiel es nämlich ganz gut, dass sich in der Stadt nichts mehr bewegte, und sie wollten gar nicht, dass der Läufer wieder gefunden wurde.
Der Finder zögerte deshalb ein wenig, öffnete aber schließlich doch die Tür einen Spalt weit ... und atmete erleichtert auf, als er sah, wer geklingelt hatte: Es war Maras Tochter, Kaprize!
Grinsend stand sie da und plapperte los: "Meine Mutter möchte, dass du sofort zu uns kommst, weil sie dir etwas Wichtiges mitzuteilen hat."
Der Finder machte die Tür nun weit auf und fragte: "Um was handelt es sich denn dabei?"
"Das darf ich dir nicht sagen", meinte Kaprize. "Meine Mutter will es dir persönlich mitteilen."
Der Finder lächelte. So kannte er Mara. Sicher saß sie jetzt ganz aufgeregt zu Hause und wartete ungeduldig darauf, bis er kam und sie ihm "das Wichtige" mitteilen konnte.
Da er Mara nicht warten lassen wollte und er außerdem froh war, von seinen trübsinnigen Gedanken etwas abgelenkt zu werden, holte er seine Jacke, schloss die Türe ab und machte sich mit Kaprize gleich auf den Weg.

"Woran liegt es denn?" fragte Kaprize.
"Was?" fragte der Finder erstaunt.
"Na, dass du den Läufer nicht findest."
"Hm", meinte der Finder. "Ich weiß es nicht. Es liegt sicher nicht daran, dass ich mich zu wenige umgesehen habe. Denn ich habe alles schon mehrmals nach dem Läufer abgesucht. Trotzdem kommt es mir so vor, als ob ich mit meiner Suche noch gar nicht angefangen hätte, als ob ich erst jetzt damit beginnen würde."
Kaprize überlegte. Dann sagte sie: "Das geht mir genauso, wenn ich mit den Meerschweinchen von den Jaquelines spiele. Immer wenn ich sie da hinsetze, wo ich sie haben möchte, laufen mir sie gleich wieder davon. Weißt du, solche Spiele kann man nur zu zweit spielen. Der eine muss das Meerschweinchen festhalten und der andere kann dann spielen." Kaprize lachte: "Aber dann ist es langweilig, weil man dann gleich mit Stofftieren spielen könnte. Oder?" Kaprize schaute den Finder fragend an.
Doch der schien ganz andere Gedanken zu haben.
Nach einer Weile rief er: "Kaprize, du bist ein Schatz! Du hast mich gerade auf einen wunderbaren Einfall gebracht!"
Und dann rannte er beinahe, so eilig hatte er es plötzlich, zu Mara zu kommen.

Als der Finder und Kaprize in der Bohnengasse ankamen, fanden sie Mara und Arturo im Garten, der hinter dem Haus lag. Sie standen um einen meterhohen Korb, und Mara las Arturo aus einem Buch vor. Als Mara den Finder sah, klappte sie das Buch zu und rief: "Wir wissen jetzt endlich, wo der Läufer ist!"
Der Finder sah auf den Korb und schaute Mara fragend an.
Mara streckte ihren Zeigefinger nach oben und sagte: "Der Läufer ist in der Luft! Hättest du das gedacht?"
Nein, das hätte der Finder nicht gedacht! Und, ehrlich gesagt, das dachte er auch jetzt nicht. Denn wie sollte der Läufer in die Luft gekommen sein? Was sollte er da oben die ganze Zeit machen? Und warum sollte er überhaupt in der Luft sein?
Der Finder war schon einiges von Mara gewohnt. Aber dass sie es sicht jetzt auch noch in den Kopf setzen musste, den Läufer in der Luft zu suchen, hätte er nicht für möglich gehalten. Außerdem traute er Mara und Arturo niemals zu, selbst einen Ballon zu bauen. Der Korb sah zwar erstaunlich echt aus, aber ohne Ballon würde der Korb sich keinen Zentimeter über den Boden erheben.
Mara schien seine Gedanken lesen zu können. Denn sie rannte ins Haus und kam kurz darauf mit einem riesigen, bunten Stoffballen wieder. Sie breitete ihn auf der Wiese auf, und man konnte zweifelsohne einen Ballon darin erkennen.
Anerkennend fragte der Finder: "Habt ihr den ganz alleine gemacht?"
"Nein. Karla, Emili, Lena, Malte und Ottokar haben uns dabei geholfen. Schließlich wollen doch alle dabei sein, wenn der Läufer endlich gefunden wird. Heute müssen wir den Ballon nur noch am Korb befestigen und morgen geht es endlich los. Ich habe dich holen lassen, damit wir noch einige Dinge besprechen können. Denn du kommst natürlich mit."
Der Finder wurde blass.
Keinesfalls wollte er mit diesem selbstgebastelten Ballon in die Luft fliegen!
Und wenn er es sich richtig überlegte, wollte er mit überhaupt keinem Ballon in die Luft fliegen.
"Ich bin nicht schwindelfrei", stammelte er.
"Papperlapapp!" sagte Mara. "Der Korb ist groß genug, um sich darin hinsetzen zu können. Du musst also nicht einmal über den Rand schauen. Du weißt außerdem, dass dir gar nichts anderes übrig bleibt. Der Finder muss einfach dabei sei, wenn der Läufer gefunden werden soll."
Das wusste der Finder allerdings. Viel zu oft hat er bisher bei irgend welchen Suchtrupps mitgehen müssen, weil er der Finder war. Trotzdem gab es gegen diese Aktion noch viel einzuwenden.
Er sagte deshalb: "Erstens weiß keiner von uns, wie man so einen Ballon bedienen muss. Zweitens ist es schlichtweg unmöglich, dass der Läufer schon seit so langer Zeit in der Luft herumfliegt, und drittens habe ich durch Kaprizes Hilfe endlich eine Vorstellung davon, wie man den Läufer finden kann. Ich habe deshalb überhaupt keine Zeit, in die Luft zu gehen!"
Der Finder hoffte sehr, Mara und Arturo damit überzeugen zu können. Arturo wog auch tatsächlich nachdenklich seinen Kopf. Doch Mara ließ sich durch das "Erstens", "Zweitens", "Drittens" des Finders in keiner Weise beeindrucken. "Ich hätte mir ja gleich denken können, dass du wieder kneifst", sagte sie. "Jedesmal wenn wir um deine Hilfe bitten, hast du viele Argumente dagegen."
"Und bisher habe ich damit auch immer Recht gehabt", entgegnete der Finder ruhig.
"Es geht hier aber nicht um Recht, sondern um das Allgemeinwohl!" brüllte Mara. "Und das bekommt man bei uns mit Ideen, wie man den Läufer finden könnte. Du hast bisher aber nur die Idee gehabt, die Straßen auf und ab zu gehen und in den Häusern nach dem Läufer zu suchen. Außerdem wissen wir sehr wohl, wie man diesen Ballon bedienen muss, weil wir die letzten Tage in diesem Buch studiert haben, wie so etwas geht. Und warum bist du dir überhaupt so sicher, dass der Läufer nicht in der Luft ist? Hast du bis vor kurzem nicht auch gesagt, dass es unmöglich sei, den Läufer nicht zu finden? Und hast du ihn bisher gefunden? - Unmöglich ist nichts!"
Mara schnaubte. Ihre Backen waren ganz rot geworden und ihre Augen funkelten zornig.
Der Finder zitterte ein bisschen. Er war es nicht gewohnt, so angeschrieen zu werden.
Mit weichen Knien setzte er sich auf den Rasen.
Kaprize setzte sich auf seinen Schoß und blies ihm ins Gesicht.
Sie riss ein Gänseblümchen aus der Wiese und kitzelte ihn damit an der Nase.
"Du?" fragte sie den Finder.
"Hm?"
"Bei was für einer Idee habe ich dir denn geholfen?"
Der Finder schaute unsicher zu Mara und Arturo.
Mara tat es inzwischen offensichtlich leid, dass sie den Finder so angegriffen hatte. Sie setzte sich deshalb neben ihn ins Gras und sagte, dass sie sich auch sehr für seine Idee interessiere.
Der Finder erklärte: "Nun, es ist eigentlich ganz einfach. Mir ist vorher aufgefallen, dass der Läufer sich immer da befinden kann, wo ich nicht bin. Wenn ich also gerade aus einem Haus herauskomme, kann er dort hineingehen. Wie wenn man zu zweit um einem dicken Baum herumgeht und sich doch nie begegnet."
"Oder wie bei Jaquelines Meerschweinchen!" rief Kaprize aus.
Der Finder nickte.
Mara und Arturo dachten nach.
Nach einer Weile meinte Arturo: "Das hört sich gut an und könnte erklären, warum du ihn bisher nicht finden konntest. Doch warum sollte dir der Läufer immer hinterher gehen, anstatt hier seine Position einzunehmen?"
"Ich denke eben, dass die Hindernisse ihre Finger mit im Spiel haben", erwiderte der Finder. "Das heißt, dass sich nicht der Läufer vor uns versteckt, sondern dass er auf diese Weise von den Hindernissen versteckt gehalten wird. Es ist doch denkbar, dass immer eines von den Hindernissen um mich herumschleicht, um genau zu wissen, wo ich nicht bin."
Mara sagte bewundernd: "Das ist wirklich eine gute Idee! Und was schlägst du nun vor?"
"Ich denke, dass ich mindestens eine Person brauche, die immer beobachtet, was passiert, wenn ich wo nicht mehr bin. Je mehr mir allerdings dabei helfen, umso eher müssen uns die Hindernisse ins Netz gehen."
"Ich möchte helfen!" rief da Kaprize gleich.
"Das ist viel zu gefährlich", sagte Mara bestimmt. "Wer weiß, was die Hindernisse mit einem machen, wenn man ihnen in die Quere kommt. Du bist doch schließlich noch ein Kind, Kaprize."
Kaprize zog einen Schmollmund.
Arturo blickte auf den Korb und fragte: "Und was machen wir damit?"
Mara wurde wieder ganz aufgeregt: "Wir fliegen natürlich trotzdem los! Denn wir wissen noch nicht, welche Idee die richtigere ist."
Der Finder getraute sich nichts zu sagen, doch Arturo wandte ein: "Das stimmt zwar Mara. Aber du musst doch auch einsehen, dass, wenn der Finder recht hat, wir die Stadt völlig den Hindernissen überlassen. Wer weiß, was sie in der Zeit unserer Abwesenheit hier alles machen?"
Mara nickte verständnisvoll. Dennoch bestand sie darauf, dass der Finder mit in die Luft kommen müsse, denn ohne ihn könnten sie den Läufer nicht finden. "Wir lassen einfach Ottokar oder Malte hier unten, um die Hindernisse zu beobachten. In den paar Tagen, die wir in der Luft bleiben, wird schon nichts passieren!"
"Unmöglich ist nichts", erinnerte der Finder.
Mara warf ihm einen giftigen Blick zu und er musste einsehen, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihren Plänen zuzustimmen.

Mara war jetzt ganz in ihrem Element. Vor der Reise musste noch vieles vorbereitet werden. Was alles mussten sie zum Beispiel in den Ballon mitnehmen?
Neben Esswaren, Decken und warmen Kleidern, ein Fernrohr und ein Seil, mit dem man den Läufer in den Ballon ziehen konnte, Gasflaschen, um das Feuer unter dem Ballon speisen zu können, Sandsäcke, Flickzeug und einen Feuerlöscher. Hoffentlich vergaßen sie auch nichts!
Mara schrieb alles auf einen Einkaufszettel und schickte Kaprize und Arturo damit los.
Sie selbst ging ins Haus und rief Karla, Malte, Ottokar, Lena und Emili an. Sie bat sie, so schnell wie möglich zu kommen, weil der Finder eine neue Spur hätte und es noch vieles zu besprechen gäbe. Vor allem sollte ausgemacht werden, wer von ihnen unten bleiben und die Hindernisse im Auge behalten würde.
Schon nach einer halben Stunden waren alle (außer Arturo und Kaprize) da. Wieder saßen sie in dem großen dunklen Zimmer, in dem vor einigen Tagen der Kaffeeklatsch stattgefunden hatte. Mara hatte ein paar Brote geschmiert und Kaffee aufgebrüht. Sie lief geschäftig zwischen dem Zimmer und der Küche hin und her, stellte Tassen und Teller auf den Tisch, brachte die Brote und den Kaffee und schenkte jedem ein.
Dann ließ sie sich mit einem Seufzer in einen Sessel fallen und sagte: "Ich denke, ihr habt die Neuigkeit, die ich euch vorhin kurz am Telefon mitgeteilt habe, noch nicht in ihrem ganzen Umfang erfasst. Der Finder hat zum ersten Mal eine ganz heiße Spur. Der Läufer ist also schon beinahe gefunden. Denn entweder muss er in der Luft sein - darüber sind wir uns ja alle einig - oder er wird von den Hindernissen versteckt gehalten ..."
"Das habe ich doch schon immer gesagt", unterbrach Karla Mara, "aber auf mich hört ja keiner."
"Unsinn, Karla", meinte Mara nur, "dass die Hindernisse uns bei der Suche stören, war uns doch allen längst bekannt. Aber der Finder weiß jetzt, wie wir den Hindernissen auflauern können und über sie dann den Läufer aus seinem unfreiwilligen Versteck freibekommen."
Sie schaute triumphierend in die Runde, als ob sie selbst auf diese Idee gekommen wäre.
Ottokar fragte ein wenig herablassend: "Ach, und wie soll das gehen?"
Mara schaute den Finder aufmunternd an.
Er erklärte: "Ich habe mir überlegt, dass ich den Läufer nie finden kann, wenn die Hindernisse ihn immer da verstecken, wo ich gerade nicht bin."
Ottokar, Karla und Malte sahen ihn verständnislos an.
Emili hielt sich ihre schmale Hand vor den Mund und kicherte.
Als sie sich wieder beruhigt hatte, sagte sie: "Aber dann ist es ja unmöglich, dass Sie den Läufer finden! Weil Sie den Läufer aber finden müssen, werden wir den Läufer nie mehr wieder sehen und in unserer Stadt wird sich nie mehr etwas verändern. "
Ottokar zischte: "Diese verdammten Hindernisse. Ich habe mir gleich gedacht, dass wir ihnen nicht gewachsen sind."
"Und was machen wir jetzt?" fragte Malte und schaute Mara und den Finder ratlos an.
"Nun, das Naheliegende, würde ich sagen", erwiderte der Finder. "Wenn mir einige von euch bei der Suche helfen, können wir die Hindernisse so einkreisen, dass sie den Läufer nicht mehr von einem Ort zum anderen bringen können. So kann ich ihn dann letztlich doch finden."
"Das ist schlau", meinte Ottokar und pfiff anerkennend durch die Zähne.
Mara mischte sich wieder in das Gespräch: "Jetzt müssen wir nur noch ausmachen, wer mit in den Ballon steigt und wer hier unten bleibt. Es ist klar, dass man, wenn man schon die Suche hier unten aufschieben muss, die Hindernisse wenigstens beobachten muss, damit sie nicht die ganze Stadt in Besitz nehmen."
Außer dem Finder - und der musste ja mitkommen -wollten alle mit im Ballon fliegen. Schließlich hatten sich alle an dem Bau des Ballons beteiligt und gut auf den Flug vorbereitet. Emili hatte sich in der kurzen Zeit sogar noch einen dicken Wollschal gestrickt.
Niemand wollte etwas sagen, weil keiner auf seine Ballonfahrt verzichten wollte, aber trotzdem einsah, dass es wichtig war, die Hindernisse zu beobachten. Alle knabberten deshalb an ihren Broten, schlürften Kaffee und hofften, dass sich irgendeiner von ihnen dazu bereit erklären würde, die Bürde des Aufpassens auf sich zu nehmen.
Nach einiger Zeit stillen Schweigens fragte Malte: "Warum können wir eigentlich nicht andere Stadtbewohner fragen, ob sie so lange auf die Hindernisse aufpassen können?"
Karla stieß einen Seufzer aus und verdrehte ihre Augen: "Woher willst du denn wissen, dass diese Aufpasser nicht selbst Hindernisse sind?"
Malte argumentierte: "Und woher weiß ich, dass von uns keiner ein Hindernis ist?"
Doch das hätte er besser nicht gefragt.
Denn jetzt stand Mara auf, stemmte ihre Arme in die Hüften und schaute ihn mit wütenden Augen an. "Sieht so etwa ein Hindernis aus? Da kennt man sich schon über Jahre und bietet ihm immer schöne Stullen und süße Krapfen an, und dann kommt er einem mit so etwas! - Wie kann er nur so misstrauisch sein? Als ob ich ihm jemals etwas zuleide getan hätte."
Kraftlos ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen und fragte Malte betont ruhig: "Habe ich dir jemals etwas zuleide getan?"
"Nein", seufzte Malte, "so habe ich es doch auch nicht gemeint. Ich wollte lediglich sagen, dass die anderen auch nicht eher Hindernis sind als wir selbst."
Mara schneuzte in ihr Taschentuch.
Der Finder sagte: "Sie haben recht, Malte. Dennoch sollten wir auf Nummer sicher gehen und die anderen nicht einweihen. Je mehr etwas davon erfahren, umso eher erfahren es die Hindernisse."
Malte verstand: "Gut. Von mir wird keiner etwas erfahren."
"Von mir auch nicht", sagten Ottokar und Emili.
Alle versprachen, niemandem etwas davon zu erzählen.
"Wir wissen immer noch nicht, wer hier unten bleibt", mahnte der Finder.
"Ich werde Arturo überzeugen, dass es besser für ihn ist, hier unten zu bleiben", meinte Mara. "Es muss sowieso jemand auf Kaprize aufpassen."
Alle nickten erleichtert.
"Und wer passt auf deine Kinder auf?" fragte Ottokar Karla.
Karla sah ihn böse an und sagte: "Die Jaquelines sind groß genug, um auf sich selbst aufzupassen."
"Einer allein ist aber zu wenig", meinte Mara entschlossen. "Wenigstens einer muss noch hier bleiben und Arturo helfen."
Lena fiel etwas ein: "Kann uns nicht dieser Maiteufel, der neulich hier war, helfen?"
Mara schaute erstaunt auf. "Friedrich? Das Gürteltier ist für diese Aufgabe doch viel zu ängstlich! Außerdem weiß ich gar nicht, ob er nicht schon wieder abgereist ist."
"Mir kam Herr Maiteufel überhaupt nicht ängstlich vor", mischte sich der Finder ein. "Er hat mich neulich besucht und sich sogar für unsere Stadtverordnung interessiert. Er scheint ein neugieriger Mensch zu sein. Und neugierige Menschen sind meistens nicht ängstlich."
Die anderen nickten erleichtert. Sie waren froh, dass sich jemand gefunden hatte, Arturo zu helfen. Sie stimmten deshalb alle zu, Herrn Maiteufel dieses Amt anzutragen.
"Wenn er noch in der Stadt ist, wohnt er im Hotel Sissibus", meinte Mara. "Am besten gehen wir gleich dorthin, um ihn zu fragen, ob er uns hilft."
Da bekam Malte doch noch Skrupel: "Vielleicht ist dieser Herr Maiteufel ja ein Hindernis? Vielleicht war er deshalb so neugierig? Wie könnt ihr sicher sein, dass man ihm vertrauen kann?"
"Warum sollte Herr Maiteufel denn ein Hindernis sein?" fragte Mara zurück. "Er ist doch erst vor ein paar Tagen aus Oberfischen angereist."
Malte gab sich damit zufrieden und nachdem besprochen worden war, wann der Ballon am anderen Tag in die Luft steigen sollte, brachen alle auf. Ottokar, Lena, Malte und Emili gingen nach Hause. Und Karla, Mara und der Finder wollten gleich zum Hotel Sissibus gehen.

Nun klopften sie schon das dritte Mal an Herrn Maiteufels Zimmertür, und noch immer öffnete er ihnen nicht.
"Das ist doch ein Jammer", sagte Mara. "Warum muss er gerade jetzt einen Stadtbummel machen, wenn wir ihn so dringend brauchen? Sonst sitzt er doch auch immer nur zu Hause herum."
"Woher weißt du denn, dass er einen Stadtbummel macht?" fragte der Finder Mara.
"Was sollte er hier denn sonst machen? Außer Karla und mir kennt er doch niemanden in der Stadt."
"Wenn er tatsächlich nur einen Stadtbummel macht, wird er auch bald wieder kommen", meinte der Finder.
"Wir könnten an der Rezeption nachfragen, wie lange er schon unterwegs ist", schlug Karla vor.
Sie fuhren deshalb mit dem Fahrstuhl wieder nach unten und erkundigten sich an der Rezeption, um wieviel Uhr Herr Maiteufel ungefähr das Hotel verlassen hatte.
Der Hotelangestellte konnte sich nicht mehr an Herrn Maiteufel erinnern, geschweige denn, wann er ihn zuletzt gesehen hatte. Er schaute nach, ob Herrn Maiteufels Zimmerschlüssel da waren, aber sie fehlten tatsächlich. Er schlug in einem großen Buch nach und sagte: "Wie ich sehe, hat Herr Maiteufel Vollpension gebucht. Dann müsste er eigentlich zum Mittagessen in einer halben Stunde wieder hier sein."
Mara und Karla hatten keine Zeit, so lange auf Herrn Maiteufel zu warten und baten deshalb den Finder, ihn abzupassen. Der Finder nickte, verabschiedete sich von Mara und Karla und setzte sich in die Empfanghalle, um dort zu warten.
Wenn er an den morgigen Tag dachte, und daran, dass er in den Ballon steigen und hunderte von Metern in die Höhe fliegen musste, wurde es ihm ganz mulmig. Er hielt die Idee der anderen für völlig unsinnig. Wie waren sie nur darauf gekommen, den Läufer in der Luft suchen zu wollen?
Der Finder war gespannt darauf, was Herr Maiteufel zu dieser verrückten Idee sagen würde. Herr Maiteufel war ihm als ein ernstzunehmender Mensch erschienen, der sich über die einzelnen Dinge seine eigenen Gedanken machte. Vielleicht konnte Herr Maiteufel die anderen davon überzeugen, dass der Läufer nie und nimmer in der Luft schwebte?
Andererseits nahmen die anderen - vorallem Mara - Herrn Maiteufel anscheinend nicht ganz ernst. Wie hatte Mara Herrn Maiteufel vorhin genannt? Gürteltier? Ein sehr merkwürdiger Einfall von Mara, wie er fand.
Er schaute auf seine Uhr. Die halbe Stunde war vorbei. Er stand auf und schaute in den Speisesaal, ob Herr Maiteufel vielleicht schon dort war. Als er ihn nicht entdeckte, fragte er den Kellner, wann Herr Maiteufel gewöhnlich zum Mittagessen kommen würde.
"Oh", sagte der Kellner. "Den Herrn Maiteufel habe ich schon länger nicht mehr gesehen. Seit ein paar Tagen decke ich völlig umsonst für ihn einen Tisch."
"Hat er sich denn nicht abgemeldet?" fragte der Finder erstaunt.
Der Kellner zuckte mit den Schultern. "Für die Bestellungen bin ich nicht zuständig. Aber wenn Sie mich fragen, war der Mann ohnehin etwas eigenartig. Das letzte Mal, als er hier gegessen hat, fragte er mich, wo er eine ‚Brötchenfrau' finden könne. Als ich nicht wusste, von wem er sprach, tat er sehr erstaunt und behauptete, in unserem Hotelrestaurant gäbe es eine Frau, die aus den Brötchen unserer Gäste wesentliche Informationen herauslesen könnte." Der Kellner schaute den Finder belustigt an und tippte sich mit dem Finger an die Stirn.
Der Finder nickte nachdenklich, bedankte sich für die Auskunft und ging dann zurück in die Eingangshalle.
Er fühlte sich unwohl. Nicht nur, weil er an seinen Ballonflug am anderen Tag dachte, sondern weil er sich jetzt auch noch um Herrn Maiteufel Sorgen machte.
Warum aß Herr Maiteufel nicht mehr im Hotel? Wer war die Brötchenfrau?
Der Kellner hatte zwar so getan, als ob Herr Maiteufel nicht ganz zurechnungsfähig wäre, aber er selbst zweifelte keine Sekunde an Herrn Maiteufels Verstand. Was hatte es also mit der Brötchenfrau auf sich?
Wie der Kellner glaubte auch er nicht daran, dass es im Hotel eine Frau gab, die über das Essen von anderer Leute Brötchen wahrsagen konnte. Vielleicht wollte Herr Maiteufel den Kellner mit dieser Behauptung mit Absicht verwirren? Aber warum?
Was hatte Herr Maiteufel überhaupt in der Stadt gewollt? Er war doch sicher nicht nur gekommen, um an Maras Kaffeeklatsch teilzunehmen? Warum hatte er sich nicht bei Herrn Maiteufel erkundigt, wozu er in die Stadt gereist war?
Dem Finder wurde es abwechselnd heiß und kalt.
Wenn Herrn Maiteufel nur nichts passiert war!
Er überlegte, was er tun konnte, und kam zu dem Entschluss, in Herrn Maiteufels Zimmer nachzusehen, ob er dort einen Hinweis auf dessen Verschwinden finden würde.
Als Finder hatte er kein Problem, den Zweitschlüssel für Herrn Maiteufels Zimmer zu bekommen. Als derjenige, der den Läufer finden musste, musste man ihn überall hineinlassen.
Mit dem Schlüssel in der Hand fuhr er wieder nach oben und schloss die Tür auf.
Das Hotelzimmer sah aus, als habe Herr Maiteufel es erst vor kurzem verlassen. Sein Koffer lag offen da, und es schienen nur wenige Kleidungsstücke zu fehlen.
"Offensichtlich wollte er nur für ein paar Stunden und nicht für ein paar Tage wegbleiben", dachte der Finder.
In eine Plastiktüte eingewickelt entdeckte er Gummistiefel und eine Taschenlampe.
"Was hatte Herr Maiteufel hier bloß vor?" fragte sich der Finder wieder.
Vorsichtig untersuchte er Herrn Maiteufels Sachen, ihm fiel aber nichts Außergewöhnliches auf. Unter einer Decke entdeckte er einen alten Stadtplan der Stadt und den Konstruktionsplan einer Maschine. Verwundert schaute er sich beide Pläne an und steckte sie nach einiger Zeit ratlos in seine Jackentasche. Dann verschloss er die Tür.

Mit raschen Schritten ging er in Richtung Bohnengasse. Auch wenn Mara im Moment sicher keine Zeit für ihn und seine Sorgen hatte, wollte er ihr doch unbedingt mitteilen, dass Herr Maiteufel wahrscheinlich schon seit Tagen nicht mehr im Hotel gewesen war und er trotzdem seine persönlichen Sachen im Hotel gelassen hatte.
Nervös klingelte er an der Tür.
Kurz darauf hörte er die schnellen Schritte von Mara und sie öffnete die Tür:
"Und, hilft er uns?" fragte sie gespannt.
Betreten schaute der Finder zur Seite.
"Was ist denn los? Was hat Friedrich gesagt?" fragte Mara ungeduldig.
"Herr Maiteufel ist verschwunden", sagte der Finder. "Anscheinend hat er eine gewisse Brötchenfrau gesucht. Seither ist er nicht mehr im Hotel gesehen worden."
"Was denn für eine Brötchenfrau?" fragte Mara verwundert.
Der Finder zuckte mit den Schultern. "Bei einem der Kellner hat sich Herr Maiteufel vor ein paar Tagen nach dieser Frau erkundigt. Der Kellner wusste aber auch nicht, wen er damit gemeint haben könnte."
Mara sagte mit etwas unsicherer Stimme: "Vielleicht ist alles auch ganz harmlos. Immerhin ist der Friedrich ein erwachsener Mensch. Außerdem war er schon immer etwas seltsam. Vielleicht hat er im Hotel eine Frau kennengelernt, und die hat ihn zu sich eingeladen?!"
Der Finder nickte: "Das ist durchaus möglich. Aber wenn sie ihn zu sich eingeladen hat, warum hat er dann nicht gewusst, wo sie wohnt?"
Darauf wusste auch Mara keine Antwort.
"Weißt du, warum Herr Maiteufel hier her gereist ist?" fragte der Finder.
Mara schüttelte den Kopf. "Nein, am Telefon hat er zu mir nur gesagt, dass er sich die Stadt einmal intensiv anschauen wolle."
Arturo kam den Gang entlang auf sie zugelaufen: "Ist Herr Maiteufel inzwischen von seinem Stadtbummel zurück gekommen?"
Der Finder schüttelte betrübt den Kopf.
"Nun, das macht nichts", meinte Arturo. "Ich habe schon die anderen verständigt und gefragt, wer für Herrn Maiteufel einspringen könnte, falls er ausfällt. Lena hat sich schließlich dazu bereit erklärt. Ihr könnt also trotzdem wie abgemacht morgen losfliegen."
"Danke, Arturo, das hast du fein gemacht", freute sich Mara und gab ihm einen Kuss.
Arturo ging wieder ins Haus zurück und rief dem Finder zu, dass er morgen pünktlich am verabredeten Ort sein solle.
Mara drückte dem Finder kräftig die Hand und meinte, dass sich Friedrich schon wieder einfinden würde.
Dann verschwand auch sie.
Bedrückt ging der Finder Richtung Mausefalle.
Schon wieder war jemand verloren gegangen, und schon wieder war es allein seine Aufgabe, diesen zu finden.

Ende Teil 5

Die Fortsetzung der Geschichte könnt ihr im Rossipotti No. 12 lesen!

 © Rossipotti No. 11, April 2006