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Salon Albert

 

"Was ist das denn?" fragt Palmina, als sie die Tür zu Alberts literarischem Salon öffnet.

In der Mitte des Raums hängt eine große Kugel an einem metallischen Faden und schwingt über einer runden Sandfläche hin und her. An der unteren Seite der Kugel ist eine kleine Spitze, die feine Linien in den Sand zeichnet.

"Zeig mal", sagt Lea und schiebt sich hinter Palmina durch die Tür.

"Das kenne ich", sagt Erik und stellt sich neben das Pendel. "Das habe ich mal in einem Museum in Paris gesehen. Das ist ein Foucaultsches Pendel!"

"Du spielst wohl wieder mal den Superschlauen?!" sagt ein großes Mädchen und lässt sich auf einen Stuhl fallen. "Dann kannst du uns sicher auch erklären, was das Pendel hier soll."

"Das zeigt die Erdrotation an", sagt Erik. "Seht ihr die Linien im Sand? Das Pendel schwingt nicht immer in den gleichen Linien hin und her, sondern beschreibt einen Kreis. Das ist der Beweis dafür, dass sich die Erde dreht!"

"Wahrscheinlich wackelt die Aufhängung", meint Palmina und sieht zum Haken hoch, an dem das Pendel befestigt ist.

"Eben nicht", sagt Erik. "Das Pendel schwingt immer an der gleichen Stelle! Nicht das Pendel bewegt sich, sondern die Erde!"

"Verstehe ich nicht", sagt Palmina. "Wenn sich die Erde dreht, muss sich das Pendel doch mitdrehen! Und in dem Fall müsste das Pendel eben doch wieder an derselben Stelle schwingen."

"Nein", sagt Erik. "Der Aufhängepunkt ist unabhängig von der Erdrotation. Es ist sozusagen ein absoluter Punkt."

"Das ist mir zu hoch", sagt das große Mädchen. "Entweder die Erde dreht sich mit allem, was auf ihr ist, oder gar nicht. Dass die Kugel rotiert und die Aufhängung nicht, kann gar nicht sein."

"Ich glaube, ich habe auch schon mal so ein Pendel gesehen", sagt Lea dazwischen. "In der Schule von meiner Cousine hängt so ein Ding."

"Wo ist eigentlich Albert?" fragt das große Mädchen. "Erst bestellt er mich hier her und dann ist er nicht da."

"Was wollte er denn von dir?" fragt Palmina neugierig.

"Er wollte mir helfen", sagt das große Mädchen. "Ich habe eine merkwürdige Mail bekommen. Da wollte ich von Albert wissen, was er davon hält."

"Eine Mail?" fragt Palmina skeptisch. "Hat sie denn etwas mit Literatur zu tun?"

"Da bin ich mir eben nicht sicher", sagt das große Mädchen. "Deshalb wollte ich ja mit Albert darüber reden. Er sollte mir sagen, ob ich die Mail ernst nehmen soll oder ob das Ganze nur eine Art literarischer Witz sein soll."

"Was denn für ein Witz?" fragt Lea.

"Um was geht's denn genau in deiner Mail?" mischt sich Erik in das Gespräch der Mädchen ein.

"Das geht dich nichts an", sagt das große Mädchen schnippisch.

"Allmählich könnte Albert wirklich kommen", sagt Palmina.
Sie geht zu seinem Lesetsich und entdeckt mehrere, offensichtlich aus einem Buch herausgerissene Seiten. "Seit wann zerreißt Albert Bücher?"

"Ist das etwa der Text, den Albert heute vorlesen will?" fragt Lea und geht zu Palmina.

"Hoffentlich nicht", sagt Palmina, während sie die Seiten überfliegt. "Das hört sich nämlich nach langweiliger Zahlenmagie und merkwürdigen Verschwörungstheorie an. Mit unserem heutigen Thema 'Wissenswertes' hat das auf jeden Fall nichts zu tun.
Hört mal:

"Meine Herren! Die gesamte Templermystik, vom Prozess bis heute, dreht sich um den Plan einer Rache für Jacques de Molay. Ich halte nicht viel von den Riten der Freimauerer, aber selbst sie, eine bürgerliche Karikatur der Tempelritterschaft, sind noch ein, wenn auch degenerierter Reflex davon. Und einer der Rittergarde in der Freimauererei nach schottischem Ritus ist der des Ritters Kadosch, nach dem hebraischen Wort für Rache."
"Okay, die Templer sinnen also auf Rache. Und weiter?"
"Wieviel Zeit wird dieser Racheplan in Anspruch nehmen? Die chiffrierte Botschaft hilft uns, die unchiffrierte zu verstehen. Verlangt werden sechs Ritter sechsmal an sechs verschiedenen Orten, sechsunddreißig geteilt in sechs Gruppen. Dann heißt es: Jedesmal zwanzig, und hier ist etwas nicht klar, aber in Ingolfs Abschrift sieht es aus wie ein a. Jedesmal zwanzig Jahre, habe ich daraus deduziert, und sechsmal zwanzig macht hundertzwanzig. Wenn wir den Rest der Botschaft betrachten, finden wir eine Liste von sechs Orten oder sechs Aufgaben, die erfüllt werden müssen. Von einer 'Ordonation' ist die Rede, einem Plan, einem Projekt, einem Vorgehen, das befolgt werden muss. Und es heißt, dass die ersten zu einem 'Donjon' gehen sollen, also zu einer Burg, die zweiten zu einem anderern Ort, und so weiter bis zum sechsten. Infolgedessen sagt uns das Dokument, dass es noch sechs andere versiegelte Dokumente geben muss, verstreut über diverse Punkte, und es scheint mir evident, dass die Siegel eines nach dem anderen erbrochen werden sollen, im Abstand von jeweils hundert-zwanzig Jahren ...
"

"Gib mal her", sagt das große Mädchen bestimmt und reißt Palmina mehrer Blätter aus der Hand.
Palmina sieht das Mädchen erstaunt an, sagt aber nichts. Das große Mädchen liest mit gerunzelter Stirn und macht immer wieder "hm" oder "interessant".

Palmina, Lea und Erik schnappen sich die übrigen Blätter von Alberts Tisch und lesen sich gegenseitig Stellen aus dem Text vor:

Erik: "Dabei kam mir eine Erleuchtung: Ich hatte einen Beruf gefunden. Ich beschloss, eine Agentur für Bildungsauskünfte zu eröffnen.
So etwas wie eine Detektei des Wissens. Statt nachts in den Bars und Bordellen herumzuschnüfflen, musst du dich in Buchläden, Bibliotheken und Korridoren von Universitätsinstituten herumtreiben. Und dann in deinem Büro sitzen, die Beine auf dem Tisch, einen Pappbecher mit Whisky vor dir, daneben die Flasche, vom Drugstore an der Ecke in einer Packpapiertüte mitgebracht. Das Telefon klingelt, jemand sagt: 'Ich übersetze gerade ein Buch und stoße da auf einen gewissen - oder gewisse - Mutukallimun. Ich krieg nicht raus, was das ist.'
Du weißt es auch nicht, aber egal, du sagst ihm, er soll dir zwei Tage Zeit geben. Du gehst in die Bibliothek, blätterst ein paar Kataloge durch, bietest dem Typ an der Auskunft eine Zigarette an, findest eine Spur. Abends triffst du einen Assistenten vom islamistischen Institut an der Bar, zahlst ihm ein Bier, zwei, er verliert die Kontrolle und gibt dir die gesuchte Information für nix. Am nächsten Tag rufst du den Kunden an: "Also, die Mutakallimun waren radikale, muslimische Theologen zur Zeit von Avicenna. Sie sagten, die Welt sei gewissermaßen eine Staubwolke von Akzidentien und gerinne nur durch einen momentanen und vorüber gehenden Akt des göttlichen Willens zur Form. Es genüge, dass Gott sich für einen Moment zerstreue, und schon falle das Universum in Stücke. Reinste Anarchie der Atome ohne jeden Sinn. Genügt das? Hat mich drei Tage gekostet, zahlen Sie mir, was Ihnen angemessen scheint
."

"Tolle Idee, so eine Detektei des Wissens!" sagt Erik begeistert.

"Das hat sich mit dem Internet doch längst überlebt", sagt Palmina. "In so eine Detektei würde heute keine Mensch mehr gehen."

"A propos Computer", sagt Lea. "'Meine Seite scheint der Ausdruck einer Computerdatei zu sein. Hört mal:
Filename: Das seltsame Kabinett des Doktor Dee
Lange Zeit habe ich vergessen, dass ich Talbot bin. Spätestens seit ich beschlossen hatte, mich Kelley zu nennen. Im Grunde hatte ich nur Dokumente gefälscht, das tun alle. Die Männer der Königin sind gnadenlos. Um meine armen abgeschnittenen Ohren zu verdecken, bin ich gezwungen, diese schwarze Mütze zu tragen, und alle tuscheln, ich sei ein Magier. Sei's drum. Doktor Dee lebt gut, ja prosperierend von diesem Ruf.
Ich war nach Morlake gefahren, um ihn zu besuchen, und fand ihn über einer Karte gebeugt. Er blieb vage, der diabolische Alte. Nur düsteres Glimmen in seinen listigen Augen, und die knochige Hand, die den Ziegenbart kraulte.
- Das ist ein Manuskript von Roger Bacon, sagte er mir. Kaiser Rudolf II. hat es mir geliehen. Kennen Sie Prag? Sie sollten es einmal besuchen. Sie könnten dort etwas finden, was ihr Lebern verändern würde. Tabula locorum rerum et thesauroroum absconditorum Menabani ...
Flüchtig sah ich ein Stückchen der Transkription, die er von einem Geheimalphabet zu machen versuchte. Doch sofort verbarg er das Manuskript unter einem Stapel anderer vergilbter Papiere ...
"

"Irgendwie sind eure Texte viel spannender als meiner", sagt Palmina. "Ich habe einen völlig langatmigen und wirren Text erwischt:

"Und Agarttha?"
"Er sagte, eines Tages sei er von einem mysteriösen Afghanen besucht worden, einem gewissen Hadji Scharipf, der kein Afghane gewesen sein konnte, da der Name ganz klar albanisch ist ... Und dieser Mann habe ihm das Geheimnis der Residenz des Königs der Welt verraten, wenn auch Saint-Yves diesen Ausdruck nie benutzt hat, das haben dann die anderen getan: Agarttha, das Unauffinbare."
"Aber wo hat er denn diese Dinge gesagt?"
"In 'Mission de l'Inde en Europe', einem Werk, das große Teile des zeitgenössischen politischen Denkens beeinflusst hat. In Agarrtha gibt es unterirdische Städt, unter deren Boden und weiter hinunter in Richtung des Erdmittelpunktes gibt es fünftausend Pandtis, die sie regieren - selbstverständlich erinnert die Zahl fünftausend an die hermetischen Wurzeln der vedischen Sprache, wie Sie zweifellos wissen. Und jede Wurzel ist ein magisches Hierogramm, verbunden mit einer himmlischen Macht und mit der Sanktion einer höllischen Macht. Die zentrale Kuppel von Agarttha wird von oben erleuchtet durch besondere Spiegel, die das Licht nur durch die enharmonische Farbskala eintreten lassen, von welcher das Sonnenspektrum unserer Physiklehrbücher nur die diatonische Skala darstellt. Die Weisen von Agarttha werden von oben erleuchtet durch besonderer Spiegel, die das Licht nur durch die enharmonische Farbskala eintreten lassen, von welcher das Sonnespektrum unserer Physiklehrbücher nur die diatonische Skala darstellt. Die Weisen von Agarttha studieren alle heiligen Sprachen, um zur Universalsprache zu gelangen, dem Vattan. Wenn sie allzu tiefe Geheimnisse angesehn, erheben sie sich von der Erde und schweben nach oben und würden sich den Schädel an der Kuppelwölbung einschlagen, wenn ihre Brüder sie nicht zurückhielten ..."

"Blablabla", unterbricht Lea Palmina. "Diesen pseudgelehrten Hirnstrunz interessiert doch niemanden!"

"Sag ich doch", sagt Palmina. "Wenn das Auszüge aus einem echten Buch sind, werde ich das Buch auf jeden Fall nie lesen. Ich möchte nur wissen, was Albert damit wollte."

"Vielleicht gar nichts", sagt Lea. "Vielleicht hat er die Seiten deshalb rausgerissen, weil sie ihn so geärgert haben."

"Und warum hat er sie dann nicht gleich in den Müll geworfen?" fragt Palmina.

"Ich denke, dass es einen Zusammenhang zwischen den Textausschnitten gibt", meint Erik. "Und Albert wollte, dass wir diesen Zusammenhang herausbekommen."

"Zusammenhang?" fragt Lea skeptisch. "Welchen Zusammenhang?"

"Das foucaultsche Pendel", sagt Erik. "Immerhin hat Albert das Pendel hier im Raum aufgebaut. Das ist ein erstes Indiz."

"In den Texten ist aber von keinem Pendel die Rede", sagt Lea.

"Aber von Geheimnissen und einer Universalsprache und dem Unauffindbaren", überlegt Palmina. "Wenn Erik Recht hat und sich der Aufhängepunkt des Pendels wirklich nicht mit der Erde bewegt, wäre das doch ein geheimer Punkt, der unauffindbar ist, weil er selbst unsichtbar und eigentlich auch undenkbar ist."

"Und was ist mit der Universalsprache?" fragt Lea. "Wie packst du die in deine Konstruktion?"

"An diesem einen geheimnisvollen Punkt wird alles eins", sagt Palmina ohne mit der Wimper zu zucken. "Selbst die Sprache wird zu einer Universalsprache."

"Gut", sagt Lea. "Soweit hätten wir deinen Text also entschlüsselt. Aber was ist mit meinem und Eriks Textausschnitt? Was machst du zum Beispiel mit dem genannten gefälschten Dokument und den abgeschnittenen Ohren?"

"Die Ohren wurden ihm abgeschnitten, weil er die Menschen mit gefälschten Dokumenten von der Wahrheit und dem universellen Punkt ablenken wollte", fabuliert Erik munter drauf los.

"Sicher", sagt Lea und rümpft gleichzeitig die Nase. "Und die Detektei des Wissens war nur ein Ablenkungsmanöver des Autors, um die Leser zwischen zwei langweiligen Abschnitten bei Laune zu halten."

"Genau!" sagen Palmina und Erik gleichzeitig.

"Ist euch nicht klar, dass man auch einen ganz anderen Zusammenhang aus den drei Ausschnitten herstellen kann?" fragt Lea. "Ich könnte zum Beispiel behaupten, dass der Ich-Erzähler in seiner Detektei des Wissens das Dokument mit dem unauffindbaren Ort und der Universalsprache gefälscht hat und ihm deshalb die Ohren abgeschnitten wurden?!"

Palmina und Erik nicken andächtig. Die Idee war irgendwie noch besser als ihre eigene.

"Wie ihr seht, kann man auf diese Weise alles mit allem kombinieren", stellt Lea kühl fest. "Und in dem Fall ist die Konstruktion der Sachverhalte völlig beliebig."

"Das sind sie in einem Roman eigentlich immer", sagt Palmina. "Es geht hier doch nicht um wirkliche Begebenheiten. Diese kruden Textauschnitte müssen die Fiktion eines Autors sein!"

"Sind sie aber nicht!" schaltet sich plötzlich wieder das große Mädchen in die Diskussion ein. "Nachdem ich einige Seiten studiert habe, weiß ich jetzt auch, warum Albert mich hier her bestellt hat. Die Seiten haben etwas mit meiner Mail zu tun! Und darin geht um den Nabel der Welt und die Beherrschung der Menschheit!"

"Beherrschung der Menschheit?" sagt Palmina. "Jetzt hast du zwar einen Zusammenhang zwischen unseren Textausschnitten und der Verschwörungstheorie um die Templer aus der ersten Seite hergestellt. Aber dass das irgendetwas mit deiner Mail zu tun haben soll, ist doch wohl ein Witz?!"

"Das hier ist kein Witz!" sagt das große Mädchen ernst. "Sicher ist Albert längst in Gefahr und hat uns diese Texte als Indizien hier gelassen."

"Sage ich doch!" sagt Erik und schaut in Richtung Pendel.

"Ja", sagt das große Mädchen, "Aber Albert wollte mit uns kein Rätselspiel machen, sondern einen letzten Hinweis auf seine Entführer geben! Die Templer haben ihn entführt!"

"Welche Templer?" fragt Lea. "Und warum sollten sie Albert entführt haben?"

"Die Templer aus dem Text natürlich!" sagt das große Mädchen. "Die Ausschnitte hier passen alle zu meiner Mail, die ich bekommen habe! Darin wurde mir gedroht, dass ich sofort die Karte nach dem Nabel der Welt herausrücken solle und dass sie mir nicht glauben würden, dass Talbots Dokument gefälscht sei. Wenn ich ihnen nicht morgen früh die Karte bringe, werden sie Talbot die Ohren abschneiden und mich am Nabel aufhängen, sobald sie ihn ohne meine Hilfe gefunden hätten ..."

"Was redest du denn da für ein wirres Zeugs?" fragt Erik. "Und wen meinst du mit sie?"

"Na, die Templer natürlich!" ruft das große Mädchen. "Warum seid ihr denn so begriffsstutzig! Die Templer sind doch dieser uralte Orden, der früher bei den Kreuzzügen für die christliche Kirche gekämpft hat. Eigentlich sind die schon lange zerschlagen und ausgerottet. Aber einige haben ihr Wissen heimlich weiter getragen und wollen mit der Karte den Nabel der Welt finden!"

"Was für ein Wissen haben die Templer denn?" fragt Erik interessiert.

"Ein Geheimwissen eben!" sagt das große Mädchen. "Ich weiß auch nicht mehr als in meiner Mail und in diesen Texten steht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Albert das Pendel hier aufgebaut hat, um den Templern zu beweisen, dass jeder Punkt der Nabel der Welt sein kann! Aber sie haben ihm nicht geglaubt und ihn entführt, um ihm die Ohren abzuschneiden!"

"Aber wie kommst du denn auf Albert?" fragt Lea. "Ich denke, die Templer suchen einen Talbot?"

"Talbot ist doch nur Alberts Deckname", ruft das große Mädchen. "Du selber hast doch vorgelesen, dass er lange Zeit vergessen hat, Talbot zu heißen. Er ist sicher Albert!"

"Albert hat keine Ohren!" sagt Palmina ungerührt. "Und deshalb ist Albert auch nicht Talbot"

"Du machst den Fehler, die Wirklichkeit mit irgendwelchen Kopfgeburten zu verwechseln", sagt Lea zu dem großen Mädchen. "Nur weil man die unglaublichsten Dinge miteinander kombinieren und denken kann, wird das noch längst nicht wirklich!"

"Und das, was du denkst sind natürlich keine Kopfgeburten", sagt das große Mädchen. "Die Wirklichkeit der Templer oder die Alberts sind genauso wirklich oder unwirklich wie deine! Wirklichkeit ist immer eine Konstruktion und ein Gedankengebäude und deshalb kann auch alles wirklich sein, was auf diesen Seiten geschrieben steht."

"Mir wird heiß!" sagt Erik und öffnet das Fenster.

Ein lauer Wind bläst ins Zimmer. Vogelgezwitscher vertreibt die Gedanken an die Templer und den entführten Albert fast. Aber eben nur fast.

"Lasst uns logisch vorgehen", sagt Erik. "Erstens ist es eine Tatsache, dass die Qualle Albert heute das erste Mal nicht in den literarischen Salon gekommen ist. Zweitens liegen aus einem Buch herausgerissene Seiten auf dem Tisch. Drittens hat Albert Caro hier her bestellt, weil sie eine sonderbare Mail bekommen hat. Viertens hat die Mail den ähnlichen Inhalt wie die Textausschnitte."

"Fünftens ist Albert in Gefahr", sagt das große Mädchen, das anscheinend Caro heißt.

"Sechstens müssen wir uns die Texte alle nochmal gründlich durchlesen, damit wir vielleicht einen Hinweis bekommen, wo Albert hingeschleppt wurde", sagt Palmina, plötzlich doch ein klein wenig beunruhigt.
Sie geht zum Lesetisch und nimmt sich den ganzen Stapel Papier. Beim Sortieren fällt ihr ein Zettel auf den Boden. Sie hebt ihn auf und liest:

"Wenn euch die Textausschnitte aus Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel nicht gefallen haben, aber eure Theorie stimmt, dass die darin vorkommenden Dinge beliebig miteinander kombinierbar sind", steht da in der etwas krakeligen Schrift der Qualle Albert geschrieben, "dann schreibt die Geschichte einfach um! Aber macht mir nachher keinen Vorwurf, wenn nicht mir, sondern euch die Ohren abgeschnitten werden."

"Das ganze soll eben doch ein Witz sein!" sagt Palmina. "Die Qualle Albert blufft und hält uns zum Narren."

"Habe ich es mir doch gedacht", sagt Lea. "Aber dass er uns hier einfach sitzen lässt, ohne uns einen Autor vorzustellen, der uns wirklich etwas Wissenswertes mitzuteilen hätte, finde ich gemein!"

"Mit dem Pendel hat er sich aber ganz schön viel Mühe gemacht!" sagt Erik anerkennend.

"Immerhin wissen wir jetzt, dass es nicht wirklich spannend ist, irgendwelche Dinge miteinander zu kombinieren", sagt Palmina. "Das wird zu beliebig und dadurch bedeutungslos."

"Kommt wir gehen!" sagt Lea. "Ich glaub nicht, dass Albert heute noch kommt."

"Ihr wisst offensichtlich immer noch nicht, worum es geht!" ruft Caro Lea, Palmina und Erik hinterher. "Albert sollen die Ohren abgeschnitten werden und ihr redet von Bluff und beliebigem oder bedeutungslosem Wissen! Alberts Notiz ist eindeutig ein verschlüsselter Hilferuf! Wir sollen die Geschichte so umschreiben, dass Albert alias Talbot das Buch lebend wieder verlassen kann! Also, ich weiß auf jeden Fall, was ich jetzt zu tun habe! Ob es mir gelingt, Albert zu retten, seht ihr dann ja im nächsten Salon!
Ihr könnt in der Zwischenzeit aber gerne nach Hause oder Eis essen gehn und weiter die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Aber macht mir nachher keinen Vorwurf, wenn es mir alleine nicht gelingt, Albert zu retten!"

* * *

Die grün markierten Textstellen sind Auszüge aus:

Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. dtv. München 1992.

 

 © Rossipotti No. 20, April 2009