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Rossipottis Leibspeise
und andere Lieblingsbücher

 

Rossipottis Leibspeise

* * *

Mommy

"Bist du dir sicher, dass das Vampir im Keller keine bösen Absichten hat?" frage ich Rossipotti ängstlich.

"Nicht wirklich", sagt Rossipotti und zupft besorgt an den Borsten, die gerade auf seiner Pranke sprießen. "Aber ich habe noch nie gehört, dass sich Vampire für Untote wie dich interessieren."

Bei dem Wort "Untoter" zucke ich zusammen. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, ein Untoter zu sein. Bisher war ich einfach nur ein grätiger Fisch, der es verstand, Bücher auseinander zu nehmen.
Aber seit ich von Graf Grindrachen auf der Geisterburg festgehalten wurde, gelte ich plötzlich als Untoter. Und zwar nur deshalb, weil der Graf einen Untoten braucht, an dem er seine medizinischen Wiederbelebungs-Versuche ausprobieren kann.
"Ich verstehe nicht, warum Graf Grindrachen mich immer an der Wand festkettet, wenn er nicht da ist", sage ich, "du darfst dich doch auch frei in der Burg frei bewegen! Sogar ein Laboratorium hat er dir eingerichtet!"

"Pah, frei!" sagt Rossipotti düster. "Denkst du etwa, ich fühle mich frei, wenn ich mich jede Nacht in eine borstige Bestie verwandeln muss? Das Laboratorium hat der Graf mir nur eingerichtet, um mich zu quälen. Er weiß schließlich ganz genau, dass ich kein Alchemist bin und deshalb keinerlei Erfolg haben werde, ein Mittel gegen meine schreckliche Verwandlung zu finden!"

"Glaubst du, dass wir hier jemals wieder rauskommen?" frage ich mit zittriger Stimme.

Rossipotti zuckt mit den Schultern. "Freiwillig wird uns der Graf sicher nicht gehen lassen. Aber vielleicht gelingt es uns, uns zu befreien, wenn wir es schaffen, den Horror als normal zu begreifen?!"

"Normal?" frage ich befremdet. "Wie soll ich es jemals normal finden, wenn Graf Grindrachen äußerst schmerzhafte Experimente an mir durchführt?!"

"Wenn du die Experimente akzeptieren würdest, hättest du zumindest keine Angst mehr vor ihnen!" sagt Rossipotti. "Nur das, wovor du Angst hast, ängstigt dich auch!"

"Deine Logik beißt sich in den Schwanz und hört sich in meine Ohren außerdem zynisch an!" sage ich. "Aber vielleicht wird man so, wenn man sich wie du jeden Tag zur Bestie verwandelt?!"

"Natürlich bin ich bissiger geworden!" sagt Rossipotti. "Aber unabhängig davon, denke ich trotzdem, dass wir dem Horror seinen Schrecken nehmen müssen. Nur dann wird er keine Macht mehr über uns haben."

"Es mag ja sein, dass Graf Grindrachen in dem Fall keine Macht mehr über meinen Geist hat", überlege ich, "aber mein Körper würde unter ihm trotzdem weiter leiden!"

"Vielleicht auch nicht", sagt Rossipoitti. "Denn vielleicht hätte der Graf plötzlich keinen Geschmack mehr an deinem Körper, wenn er sieht, dass du gedanklich nicht mehr bei der Sache bist! Vielleicht würde er dich dann wie ein langweilig gewordenes Spielzeug aus seinen Diensten entlassen?!"

"Das Gleiche gilt für dich!" sage ich bitter. "Warum hast du denn dann noch Angst vor deiner Verwandlung? Schalte sie doch einfach ab und werde ein freies Krokodil!"

"Ich bin leider auch noch nicht soweit", sagt Rossipotti traurig. "Selbst wenn ich denke, dass ich meine Angst bezwingen muss, fühle ich noch ganz anders. Und leider sperrt sich mein Gefühl im Moment noch dagegen, dass die schrecklichen Dinge auf der Welt genauso zum Leben gehören und genauso normal sind wie die guten, schönen Dinge. - Ich glaube aber, dass ich erst dann meine Angst verlieren werde, wenn ich auch die dunkle Seite akzeptieren kann!"

"Wenn man die schrecklichen Dinge akzeptiert, geht man auch nicht mehr gegen sie vor!" widerspreche ich. "Und dann bekommen sie immer mehr Macht in der Welt und verschlingen am Ende alle guten!"

"Im Gegenteil", behauptet Rossipotti. "Wenn du keine Angst mehr vor den bösen, schrecklichen Dingen hast, kannst du dich besser für die guten einsetzen! Jemand, der immer nur Angst hat, wird kaum etwas gegen die Dinge unternehmen, die ihn ängstigen!"

"Nur Helden aus Romanen oder Filmen haben keine Angst!" sage ich. "Und die kämpfen meistens in der Sicherheit, dass der Autor oder Regisseur es gut mit ihnen meint, gegen gefährliche Ungeheuer."

"Es gibt auch immer wieder echte Helden", wirft Rossipotti ein.

"Ich bin aber kein Held!" sage ich wütend. "Und schon gar kein echter!"

"Schon gut, schon gut!" versucht Rossipotti mich zu beschwichtigen. "Dann lassen wir die Helden einfach weg. Es geht auch ohne sie! Ich kenne beispielsweise einen kleinen Jungen, der überhaupt keine Angst vor Monstern hat! Dieser kleine Junge findet es sogar lustig, wenn ihn Monster erschrecken!"

"Dann ist er wahrscheinlich krank oder durchgedreht", sage ich abweisend. "Es gibt immer wieder Menschen, die sich einen Spaß daraus machen, sich in große Gefahr zu begeben. Sie scheinen sich erst zu spüren, wenn sie in Lebensgefahr sind. Für gesunde Menschen ist Angst aber überlebensnotwendig! Wer keine Angst vor Monstern hat und nicht rechtzeitig vor ihnen flieht, wird von ihnen gefressen!"

"Dieser Junge ist weder krank, noch risikobereit, sondern wahrscheinlich gesünder als du und ich", sagt Rossipotti überzeugt. "Er hält sich übrigens wie wir in einer Geisterburg auf. Und weil er die Monster ganz normal findet, wird er nicht gefressen!"

"Ach, und wer ist dieser gesunde, mutige, kleine Junge?" frage ich zweifelnd. Ich glaube nicht, dass es so einen Jungen wirklich gibt.

"Er ist die Hauptperson in Maurice Sendaks Pop-up-Bilderbuch Mommy", sagt Rossipotti, "Und er sucht in einer Geisterburg nach seiner Mutter. Dabei begegnet er einem Vampir, einer Mumie, Frankensteins Monster und anderen gruseligen Wesen. Obwohl der kleine Junge sicher ein Leckerbissen für sie wäre, ..."

"... lassen sie den Jungen in Ruhe", setze ich Rossipottis Satz fort. "Das habe ich jetzt wirklich verstanden! Was mich im Moment aber viel mehr interessiert, ist, warum er seine Mutter ausgerechnet in einer Geisterburg sucht? Wird die Mutter dort wie wir hier festgehalten? Befreit der Junge am Ende seine Mutter? Und wenn ja, wie?"

"Nein", sagt Rossipotti. "Er muss sie auch gar nicht befreien, denn die beiden sind in der Burg zu Hause."

"Ach so", sage ich enttäuscht. "In dem Fall ist es kein Wunder, dass er sich vor den Horrorgestalten nicht fürchtet! Graf Grindrachen hat schließlich auch keine Angst vor Vampiren, wieder erwachten Mumien und Untoten. Wahrscheinlich ist der Junge selbst ein Monster?!"

"Nein", sagt Rossipotti, "der kleine Junge ist im Gegenteil der einzig normale Mensch in der Burg! Für den Betrachter des fast textlosen Buchs ist es übrigens ziemlich gruselig, dass der kleiner Junge ohne jede Angst durch die Burg läuft. Man möchte ihm ständig zurufen: Pass auf, du bist in einer Gruselburg! Fliehe so lange du kannst!
Man versteht fast bis zum Schluss nicht, warum der Junge so unbesorgt duch die Burg läuft. Das einzige aber, was den kleinen Jungen selbst beunruhigt, ist, wo seine Mutter steckt."

"Wahrscheinlich haben die Monster die Mutter gerade zum Frühstück verspeist und haben deshalb keinen Appetit auf den Jungen?" frage ich. "Und nachdem der kleine Junge in der ganzen Burg nach seiner Mutter gesucht und währenddessen mit den Monstern gespielt hat, entdeckt er am Schluss des Buchs plötzlich ein Häufchen Menschenknochen in der Ecke?!"

"So würde vielleicht ein Horrorfilm enden", sagt Rossipotti, "da ist es ja oft so, dass die vom Protagonisten für gut geglaubten Figuren, sich am Ende plötzlich als die Schrecklichen entlarven. Aber ich muss dich enttäuschen. Maurice Sendak wollte in Mommy meiner Meinung nach genau das Gegenteil als viele Horrorfilme vermitteln. Nicht: Der Horror lauert überall, sondern: Der Horror lauert nirgends, wenn man ihn als normal begreift!"

"Ja, ja!" sage ich ungeduldig. "Aber was heißt das konkret? Rücken die Monster die Mutter wieder raus, nachdem sie gesehen haben, dass der Junge keine Angst vor ihnen hat? Oder entschuldigen sie sich weinend beim Jungen, dass sie die Mutter leider gefressen haben, teilen ihm aber mit, dass sie sich von jetzt an bessern werden? Oder haben sie einen Zauber, der die Mutter wieder lebendig macht? Wie löst Sendak die Geschichte denn auf?"

"Auf jeden Fall sehr ungewöhnlich", sagt Rossipotti.
Nach einer Pause fährt er zögernd fort: "Nachdem der kleine Junge im ganzen Haus nach seiner Mutter gesucht hat, findet er sie endlich im Schrank ..."

"Und?" frage ich, als Rossipotti wieder zögert, den Satz fortzusetzen.

"Also", sagt Rossipotti und seufzt, "die für den Leser unangenehme Wahrheit ist, dass die Mutter des kleinen, süßen Menschen-Jungen selbst ein mit Schläuchen verkabeltes Monster ist! Mit wackligem Kopf und mumienhaft eingewickelten Armen sitzt sie im Schrank und freut sich auf ihren kleinen Jungen!"

Maurice Sendak: Mommy. Michael Di Capua Books Scholastic. 2006.

* * *

Coraline

von Neil Gaiman

"Ich verstehe Geschichten nicht, in denen Mütter zu Monstern oder Gruselfiguren gemacht werden", sage ich. "Was wollen die Autoren mit solchen Geschichten mitteilen? Etwa 'Hütet euch vor eurer Mutter'?"

"Eher das Gegenteil", sagt Rossipotti. "Zumindest Sendaks Buch Mommy verstehe ich so, dass man seine Mutter auch lieben kann, selbst wenn sie einem wie ein Monster erscheint. Denn der kleine Junge hat vor dieser Monster-Mutter keine Angst, sondern geht auf sie zu und will sie umarmen! Das ist großartig! In so einem Moment verschwinden alle Probleme zwischen Kind und Mutter! Wenn wir die Szene trotzdem gruselig finden, dann deshalb, weil wir selbst eigentlich nicht wollen, dass der kleine Junge seine monsterhafte Mutter liebt!"

"Gut, bei Mommy magst du Recht haben", sage ich. "Aber was ist mit den ganzen anderen gräßlichen Müttern in der Literatur, beispielsweise in den Märchen der Brüder Grimm? Die wimmeln doch von Müttern, die ihre Kinder verstümmeln, im Wald aussetzen, psychisch unter Druck setzen und als Suppe verkochen? Soll man die auch lieb haben und umarmen?"

"Das sind keine Mütter, sondern Stiefmütter", sagt Rossipotti lasch.

"Aber doch nur deshalb, weil es sonst für die Leser zu schwer zu verkraften wäre", sage ich. "Stiefmutter oder Mutter, das ist im Grunde ganz egal. Die Frage bleibt, warum in Geschichten Mütter oft Monster sind?!"

"Vielleicht, weil für viele Kinder ihre Mütter in manchen Momenten wirklich Monster sind?" sagt Rossipotti. "In dem Fall bebildern und verarbeiten die Geschichten nur die realen Gefühle der Kinder und geben ihrer Ohnmacht eine Stimme?"

"Hm", mache ich, bin aber mit Rossipottis Erklärung nicht wirklich zufrieden. "Das mag für einige Geschichten vielleicht zutreffen. Aber mir fällt mindestens eine ein, die weder in das Sendak-Schema, 'ich liebe selbst meine monsterhafte Mutter' noch in das Grimm-Schema, 'seht her, meine Mutter ist ein schreckliches Monster', hinein passt!"

"Welche denn?" fragt Rossipotti neugierig.

"Coraline von Neil Gaiman", sage ich. "Das Mädchen Coraline hat eine ganz normale Mutter. Also weder ein Monster, noch eine böse Stiefmutter oder Mutter. Und trotzdem tritt in dieser Geschichte plötzlich ein grässliches, verzerrtes Spiegelbild der echten Mutter als 'andere Mutter' auf. Diese 'andere Mutter' will Coraline in eine von ihr entworfene, nebelhafte Spiegelwelt entführen, um ihr dort die Augen auszureißen und statt dessen Knöpfe anzunähen. Was macht das bitte für einen Sinn?"

"Ich kenne das Buch", sagt Rossipotti. "Und ich weiß deshalb, dass die 'andere Mutter' sich viel besser um Coraline kümmern will als die echte Mutter! Coraline stört es, dass ihre echte Mutter nur arbeitet und fast nie Zeit für sie hat. Die andere Mutter will dagegen mit ihr spielen, ihr leckeres Essen zubereiten und ihr jeden Tag spannende Dinge zeigen. "

"Ich glaube, du hast die Geschichte nicht verstanden", sage ich verärgert.
Rossipotti spielt sich immer so auf, dabei ist er nicht halb so klug wie er tut!
"Die 'andere Mutter' will sich doch gar nicht wirklich um Coraline kümmern! Sie will Coraline nur in ihre muffige, konturlos, teigige Welt locken, um dort Coralines Seele auszusaugen!"

"Und ich glaube, du hast die Geschichte nicht verstanden", knurrt Rossipotti gefährlich.
Wie ich jetzt erst bemerke, hat sich sein Maul in der letzten halben Stunde auffallend verkürzt, und die ersten Haare beginnen darauf zu sprießen! Hilfe!
Mit leicht tieferer Stimme grunzt Rossipotti: "Coraline geht der anderen Mutter doch nur auf den Leim, weil sie von ihrer echten Mutter enttäuscht ist. Erst als sie erkennt, dass ihre fehlerhafte Mutter viel besser ist als eine Mutter, die sich immer um sie kümmern und sich an sie klammern will, verliert die 'andere Mutter' Macht über sie."

"Du meinst, Coraline ist selbst schuld daran, dass die 'andere Mutter' sie gefangen hält?" sage ich.

"Ich meine sogar, dass Coraline die 'andere Mutter' selbst erschaffen hat!" sagt Rossipotti. "Denn im Unterschied zu dem kleinen Junge in dem Buch Mommy, hat Coraline eben - zumindest anfangs - nicht akzeptiert, dass ihre Mutter nicht perfekt und insofern für sie vielleicht tatsächlich ein kleines Arbeits-Monster ist. Insofern passt die Geschichte also doch in das Schema: 'Seht her, meine Mutter ist ein Monster'.
Als Leser wissen wir allerdings, dass die echte Mutter sich zwar nicht allzugut um Coraline kümmert, aber eigentlich völlig harmlos ist.
Trotzdem erträumt sich Coraline eine 'andere Mutter'. Ihre eigene Projektion macht die 'andere Mutter' erst zum seelensaugenden Monster! Und Coraline selbst, und nicht die andere Mutter, sehnt sich nach einer gespensterhaften, farblosen, zweidimensionalen Gegenwelt, die sie in ihrer Phantasie auch erschafft, und aus der sie beinahe nicht mehr heraus findet!
Insofern hast du tatsächlich Recht, wenn du sagst, dass Coraline nicht in die üblichen Mutter-Monster-Geschichten passt. Denn in Wirklichkeit ist hier ja nicht die Mutter das Monster, das entweder geliebt oder gehasst wird, sondern Coraline selbst!

Neil Gaiman: Coraline. Arena Verlag. Würzburg 2003.

* * *

Das Haus hinter Mitternacht. Unheimliche Geschichten zum Erzählen

von Wolfgang Spreckelsen

"Übrigens lebt nicht nur das Buch Coraline von der Sehnsucht nach Geisterhaftem sondern eigentlich alle Gruselgeschichten", knüpft Rossipotti an unsere vorige Diskussion an. "Manche Gruselgeschichten sehnen sich dabei allerdings so sehr nach Gruseligem, dass sie darüber ganz vergessen, was sie mit ihren Geschichten überhaupt erzählen wollen."

"Was meinst du damit?" frage ich unkonzentriert und überlege mir gleichzeitig, wann die Versammlung von Graf Grindrachen vorbei und er wohl wieder hier sein wird?

"Na, Coraline erzählt ja neben dem Horror, den das Buch verbreitet, eigentlich die Geschichte eines Mädchens, das sich nach mehr Zuwendung sehnt und sich deshalb in eine andere, geisterhafteWelt beamt", erklärt Rossipotti. "Es gibt aber auch Geschichten, die hören beim reinen Gruseln auf und haben eigentlich nichts weiter zu bieten, als dass sie eben das Bedürfnis nach Grusel befriedigen."

"Stimmt!" sage ich und schiebe den Gedanken an Graf Grindrachen weg. "Solche Geschichten wie Die Mörderpuppe beispielsweise, in der eine Puppe immer wieder Kinder anlockt, um sie danach umzubringen!"

"Genau", sagt Rossipotti. "Aber auch so grässliche Reihen wie Fear Street oder Gänsehaut von R.L. Stine funktionieren auf diese Weise", sagt Rossipotti. "Gerade Stine geht es meiner Meinung nach überhaupt nicht darum, eine gute Geschichte zu erzählen, sondern nur um das Erzeugen von primitivem Grusel! Die Dialoge und das ganze Setting von Stines Büchern ist unheimlich langweilig und ich frage mich, wieso diese Bücher so vielen gefallen!"

"Früher habe ich solche Geschichten auch geliebt", sage ich wehmütig. "Man kann sie ganz einfach nacherzählen. Zum Beispiel dann, wenn man mit anderen zusammen irgendwo übernachtet. Dann braucht man nur 'Fear Street' zu sagen und schon stehen allen die Haare zu Berge! Das Schöne an diesen Geschichten ist auch, dass sie rein gar nichts mit einem selbst zu tun haben! Aber heute habe ich so viel echten Grusel um mich, dass ich mich nicht mehr künstlich gruseln lassen will."

"Erinnerst du dich noch, als wir einmal mit Palmina und Pudding Wackel nachts im Zelt saßen und uns gegenseitig Gruselgeschichten erzählt haben? Erst hatten wir keine Angst und es war richtig gemütlich bei Kerzenlicht und Keksen. Aber die Geschichten waren so packend, dass es uns immer unheimlicher und unheimlicher wurde!" sagt Rossipotti. "Insofern gibt es tatsächlich auch Gruselgeschichten, die richtig gut sind, auch wenn sie einen einfach nur Gruseln wollen."

"Wie diese schaurige Geschichte von Freund Heiner, der jedes Jahr einmal kommt, um ein Kind mit ins Totenreich zu nehmen!" sage ich, "Weißt du noch, dass du die Geschichte gerade zu Ende erzählt hattest, als plötzlich unsere Kerze ausging und es draußen laut schmatzte?! Das war vielleicht gruselig!"

"Es war nicht Freund Heiner, es war Das Wrack, das ich damals erzählt habe", sagt Rossipotti. "Deshalb haben wir uns doch auch so gegruselt, weil wir dachten, die verfluchten Piraten des Schiffwracks stehen jetzt tatsächlich vor unserem Zelt!"

"Dabei war es nur ein Igel, der genüßlich eine Schnecke verdrückte!" sage ich, "ach, wenn doch auch Graf Grindrachen wie die Piraten nur in unserer Einbildung oder Phantasie existieren würde!"

"Weißt du, wo ich die Geschichten von Freund Heiner und Das Wrack neulich wieder gefunden habe?" sagt Rossipotti.

Ich zucke mit den Schultern. Der Gedanke an Graf Grindrachen und die Frage, wie ich ihm entkommen kann, hat mich leider wieder im Griff.

"Beide Geschichten sind in einem Grusel-Sammelband vom Fischer-Verlag, den ein Lehrer herausgegeben hat!" sagt Rossipotti. "Als Lehrer konnte er die Geschichten an seinen Schülern testen und so heraus finden, welche Geschichten sie am meisten gruselig finden. Die grusligsten hat er dann heraus gesucht und in dem Band mit dem Titel Das Haus hinter Mitternacht zusammen gestellt. Für Leute, die selber gerne Gruselgeschichten erzählen, hat er außerdem am Ende noch ein paar Tipps zum Erzählen zusammen gestellt."

"Ich hoffe, du willst mir jetzt keine davon erzählen?" horche ich auf.
Mein Bedarf an Gruseligem ist wirklich gedeckt!

"Keine Sorge", sagt Rossipotti. "Aber stellt dir vor, in dem Band habe ich nicht nur die Geschichten Gespenster von Marie Luise Kaschnitz, Die offene Tür von Saki oder Die Affenpfote von William Wymark Jacobs wieder entdeckt, sondern auch ein altes Gedicht gefunden, das wir beide schon seit Jahren suchen!"

"Du meinst doch nicht etwa das Gedicht mit dem Jungen, der im Moor versinkt?!" frage ich aufgeregt und vergesse für einen Moment Graf Grindrachen.
Früher war das Gedicht mächtig schaurig für uns gewesen war und wir wollten schon lange unbedingt wissen, ob es das auch heute noch für uns war.
Da wir aber weder wussten, wer das Gedicht geschrieben hat, noch den Titel kannten und eigentlich auch nicht mehr wirklich wussten, worum es in dem Gedicht ging, haben wir es nie mehr finden können.
"Und?!" frage ich gespannt: "Ist es immer noch gruselig?"

"Bilde dir deine eigene Meinung!", sagt Rossipotti. "Ich habe es dieses Mal zur Sicherheit auswendig gelernt und kann es dir hier deshalb gleich vortragen:

Der Knabe im Moor

von Annette von Droste-Hülshoff

Schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
sich wie Phantome die Dünste drehen
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
o schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt als ob man es jage;
Hohl über die fläche sauser der Wind -
Was raschelt drüben am Hage?
Das ist der gespenstige Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind
Hinducket das Knäblein zage.

Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnlenor',
Die den Haspel dreht im Geröhre!

Voran, voran, nur immer im Lauf,
Voran, als woll’ es ihn holen;
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigenmann ungetreu,
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!

Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
"Ho, ho, meine arme Seele!"
Der Knabe springt wie ein wundes Reh,
Wär’ nicht Schutzengel in seiner Näh’,
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwehle.

Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war’s fürchterlich,
O, schaurig war’s in der Heide!

Wolfgang Spreckelsen (Herausgeber): Das Haus hinter Mitternacht. Unheimliche Geschichten zum Erzählen. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2008.

* * *

Abrakadabra und toi, toi, toi ...

von Dorothea Steinbacher

"Der Junge versinkt in dem Gedicht ja gar nicht im Moor!" sage ich und stelle erstaunt fest, dass ich darüber beinahe enttäuscht bin. "Das haben wir uns damals nur eingebildet!"

"Ja, die Erinnerung ist eine trügerische Angelegenheit" sagt Rossipotti. "Dabei ist das meiste, was einem im Kopf rumgeht aus diesem Stoff! Gruselig, oder?"

"Gruselig ist vor allem, dass dir gerade Borsten auf dem Rücken wachsen!" stelle ich erschrocken fest. "In spätestens einer halben Stunde wirst du kein Bücher fressendes Krokodil mehr, sondern ein lebendig gewordener Fleischwolf sein!"

Entsetzt greift Rossipotti nach hinten und tastet seinen haarigen Rücken ab.
"Ich muss endlich ein Mittel gegen meine Verwandlung finden! Es ist ein Alptraum, alle zwölf Stunden ein anderer zu sein."

"Vielleicht fehlt dir kein Gegenmittel, sondern ein Gegenspruch?!" meine ich.

"Denkst du dabei an etwas Bestimmtes?" fragt Rossipotti hoffnungsvoll.

"Graf Grindrachen hat manchmal ein rotes Buch mit einer schwarzen Katzenabbildung dabei", sage ich. "Wenn seine elektronischen und chemischen Versuche an mir nicht klappen, schlägt er es auf und liest daraus irgendwelche Zaubersprüche vor."

"Haben sie bisher etwas bewirkt?"

"Ich hoffe nicht", sage ich. "Zumindest habe ich bisher nichts bemerkt."

"Warum empfiehlst du mir dann das Buch?" knurrt Rossipotti. "Aus Schadenfreude?"

"Ich bin immerhin ein Untoter", gebe ich zu Bedenken. "Vielleicht wirken die Sprüche bei dir anderes? Du könntest es doch auf jeden Fall einmal damit probieren?"

"Gut, gut", sagt Rossipotti und zieht seine Lefzen nach oben. "Ich kann es tatsächlich ein mal probieren. Ich glaube, ich weiß auch, wo das Buch ist. Denn ich habe den Grafen schon öfters dabei beobachtet, wie er seine Bücher in eine Kammer im Keller schleppt. Am besten sehe ich gleich nach! Bis bald!"

Rossipotti rennt aus dem Raum und knallt die Türe hinter sich zu.
Nachdem der Laut verhallt ist, ist es still.
Mucksmäuschen still.
Durch die dicken Mauern dringt kein Laut aus den Nachbarzimmern. Oft ist es hier so ruhig, dass ich das Gefühl habe, meine eigenen Gedanken hören zu können.
Wenn ich Glück haben, kann ich manchmal den Wind an den Fenster rütteln hören. Und um Mitternacht dringt das Schlagen der Turmglocken und das Gekreische der Fledermäuse vor meinem Fenster in mein Zimmer.
Manchmal bilde ich mir auch ein, ein Klopfen an der Haustür zu hören. Allein, wer sollte Graf Grindrachen schon besuchen kommen?
Wieder macht sich ein beklemmendes Gefühl in mir breit.
Wie lange werden wir hier wohl noch festgehalten werden?

Rossipotti hätte uns niemals hier her bringen sollen! Aber woher sollte er auch wissen, dass der Graf nicht der war, der er nach außen hin zu sein vorgab?
Eigentlich wollte Rossipotti hier nur ein paar Studien für seine neue Magazin-Ausgabe zum Thema Horror und Grusel führen. Wir sollten ihn dabei begleiten, damit wir auch gleich genügend Erfahrungen für unseren Rubriken sammeln konnten.
Der Graf wurde uns als Experte in Sachen Grusel und Horror von einem Freund Rossipottis vermittelt. Nach Auskunft von Rossipottis Freund drohe von dem Grafen keinerlei Gefahr. Im Gegenteil, der Graf sei äußerst gesellig und es gewohnt, Gäste in seiner Burg zu beherbergen.
Doch der Freund von Rossipotti muss ein falscher Freund gewesen sein!
Denn kaum hatten wir unser Gepäck in den einzelnen, uns zugewiesenen Zimmern verstaut, kam Graf Grindrachen und setzte jeden von uns auf andere Art und Weise fest:
Mich kettete er ans Fenster, nachdem ich den Fehler begangen hatte, meinen sicheren Bilderrahmen zu verlassen und durchs Zimmer zu spazieren. Die Qualle Albert hexte er auf den gräßlichen Nagel-Baum vor der Burg. Den Pudding mumifzierte er und die Tasche schmiss er aus dem Fenster. Ich habe sie zuletzt am Arm einer klebrigen Riesenkrake gesehen!
Rossipotti selbst behauptet zwar, dass der Graf zumindest an seiner schrecklichen Wolfkrankheit keine Schuld trage. Aber das kommt mir sehr unwahrscheinlich vor! Ich kenne Rossipotti sehr lange, und warum sollte er ausgerechnet hier ohne das Zutun von Graf Grindrachen zum Werwolf werden?
Meine einzige Hoffnung ist jetzt noch Palmina! Sie wollte uns erst in ein paar Wochen nachreisen. Ich hoffe, dass sie davor ahnt, was mit uns passiert ist, und Hilfe holt! Ich bete inbrünstig, dass sie nicht auf die verrückte Idee kommt, alleine anzureisen ...

"Ich habe das Buch!" platzt Rossipotti aufgeregt ins Zimmer.
Mittlerweile sind nicht nur seine Pranken, sein Maul und Rücken, sondern auch schon fast seine ganze Brust behaart!

"Vielleicht steht hier wirklich drin, wie ich geheilt werden kann!" sagt er nervös. "Und wenn ich erst geheilt bin, hole ich uns hier alle raus."

Rossipotti schlägt schnell das Buch mit dem Titel Abrakadabra und toi, toi, toi ... auf und liest hastig aus dem Inhaltsverzeichnis vor:
"'Von Glücks- und Unglücksbringern', 'Abwehr der bösen Mächte', 'Magische Zahlen', 'Bekannte Zaubersprüche', 'Abergläubische Redensarten', 'Abergläubische Gebote und Verbote', 'Aberglauben im Lebens- und im Jahreslauf'."

"Für meinen Geschmack steht da zuviel über Aberglaube und zu wenig über die harten Fakten der Magie", bemerke ich.

"Zumindest wir können gar nichts mit dem Kapitel 'Aberglaube' anfangen", sagt Rossipotti.

"Probier es lieber gleich mit den Zaubersprüchen!" sage ich.

Rossipotti schlägt das Kapitel auf und liest: "'Hokuspokus, Simsalabim , Abrakadabra' - hier endlich: 'Zauberformeln für jeden Anlass:

Iran + Tiran + castan
+cacasten + Eremiton
+ in+nomine+Paris
+et+Filii et+spiri.
+sanct.+Amen+.

Diese zweite Zauberformel - ebenfalls vor über 170 Jahren in Preußen aufgeschrieben - ist eine typische Verbindung zwischen fremdländisch klingenden Wörtern, die aber keinen erkennbaren Sinn mehr ergeben, und der christlichen Segenformel zum Abschluss.'"

"Warum unterbrichst du den Satz?" frage ich. "Vielleicht steht danach etwas Spannendes?"

"Ich habe nichts unterbrochen. Das steht wirklich so da", sagt Rossipotti enttäuscht. "Die Sprüche sind insgesamt nur Zusammenstellungen und Erklärungen von ein paar früher angewandten Zaubersprüchen. Ich glaube kaum, dass es bei mir ausreicht Simsalabim oder Hokuspokus zu sagen. Auch dann nicht, wenn ich durch das Buch weiß, welchen Ursprung die Wörter haben!"

"Dann versuche es mit den magischen Zahlen!" schlage ich vor. "Graf Grindrachen flüstert auch immer irgendwelche Zahlen vor sich hin, wenn er ein neues Mittel an mir ausprobiert."

"'Zahlenzauber von drei bis dreizehn'", liest Rossipotti vor. "'Jede Zahl lässt sich magisch deuten. Philosophen, Mathematiker und Denker aller Zeiten haben sich mit magischen Zahlen beschäftigt und lange Traktate darüber verfasst. Die bedeutendsten Zahlen - 3,5,7,9,12,13 - lernen wir im folgendne Kapitel näher kennen.' Pah!" macht Rossipotti und schleudert das Buch von sich. "Ich brauche keinen Zahlenzauber von verstaubten Mathematikern, sondern von echten Werwölfen, Vampiren oder Wiedergängern wie Graf Grindrachen!"

"Vielleicht verstehst du das Buch nicht?" wende ich ein. "Vielleicht musst du es genauer lesen, um die Logik hinter den Zahlen und Sprüchen zu erkennen. Dann kannst du dir vielleicht einen eigenen Zauberspruch kreeiren, der funktioniert."

"Solche Bücher rauben einem nur die Zeit!" sagt Rossipotti. "Zeit ist aber genau das, was ich nicht habe!"

"Du bist ungerecht", sage ich. "Auch wenn du mit dem Buch nichts anfangen kannst, ist die Zusammenstellung der magischen Traditionen und abergläubischen Brauchtümer vielleicht für Leute interessant, die gerade erst in das Thema einsteigen und sich einen ersten Überblick machen möchten."

"Und wer sollen diese Leute sein?" fragt Rossipotti und sieht mich wild an. "Wer braucht denn schon Wissen über Zauberei und die Kunst der Verwandlung, wenn nicht wir?"

"Die andere Seite", sage ich, "Leute wie Graf Grindrachen, böse Zauberer und Hexen!"

"Und die sollen mit ein bisschen Hokuspokus zufrieden gestellt werden?" knurrt Rossipotti böse. "Dass ich nicht lache! Nein, ich sage dir, für wen das Buch geschrieben ist: Für irgendwelche esoterischen Tanten, die sich freuen, dass es so etwas gibt, wie auf Holz zu klopfen, um einen Schicksalsschlag abzuwenden! Oder für halbgare Laffen, die sich vor anderen mit ihrem Wissen über ein verloren gegangenes Brauchtum brüsten wollen. Über ein Brauchtum, mit dem sie in ihrer aufgeklärten Welt glücklicherweise nichts mehr zu schaffen haben müssen! Während sie sich bei Tee und Keksen über den Grusel alter Zeiten amüsieren, ist unsere Lage hier bitter ernst!"

"Deine Verwandlung ist schon weit fortgeschritten", sage ich besorgt. "Ich glaube kaum, dass du im Normalfall den konservierenden Nutzen ein solcher Sammlung verkennen würdest!"

"Ja, ich bin gerade nicht richtig bei mir!" knurrt Rossipotti wütend. "Aber wie kannst du behaupten, dass der andere in mir jemals konservativ war?! Dieses Buch werde ich auf jeden Fall nicht mit einem Haps fressen, sondern mit meinen Pranken ohne jedes Mitleid in der Luft zerfetzen! So!"

Und bevor Rossipotti seinen Satz zu Ende gesprochen hat, hat er das Buch in die Luft geworfen und es mit einem einzigen Hieb seiner scharfen Krallen auseinander gerissen!
Mir zittern die Flossen vor Angst!
Was wird Graf Grindrachen mit mir machen, wenn er sieht, dass sein Buch hier zerfetzt auf dem Boden liegt?
Ganz sicher nicht nur "Akrakadabra" oder "toi, toi, toi" sagen!

Dorothea Steinbacher: Abrakadabra und Toi, toi, toi ... Abergläubische Sprüche und Bräuche - und was dahinter steckt. Wilhelm Heyne Verlag. München 2007.

* * *

Edward Gorey's Dracula. A toy Theatre

von Edward Gorey

"Wir müssen uns beeilen!" sage ich mit einem dumpfen Gefühl im Bauch.
Nur noch die Beine von Rossipotti müssen sich verwandeln, dann wird von dem alten Rossipotti nichts mehr übrig sein!
Und das heißt, dass ich bald nicht nur vor der Rückkehr von Graf Grindrachen, sondern auch vor Rossipotti Angst haben muss!

"Ja, lange halte ich es nicht mehr aus", knurrt Rossipotti. "In wenigen Minuten werde ich mich wieder vollständig in eine haarige Bestie verwandelt haben. Und auch wenn du nur ein Untoter bist, so bist du doch auch meine Leibspeise, die ich vor der Bestie schützen will! Wenn ich dich nicht ganz zerfetzen will, muss ich gehen, bevor ich ganz verwandelt bin."

"Lass uns etwas Kurzes vorstellen", sage ich schnell, "wie wäre es mit Dracula?"

"Dracula von Bram Stoker?" fragt Rossipotti verwundert. Die Erinnerung an den Vampir Graf Dracula scheint ihn zumindest kurz von seiner schrecklichen Verwandlung abzulenken. "Als Prototyp aller Vampirromane wäre es sicher richtig, hier das unheimlichen, blutsaugenden Treiben des Grafen Dracula in Transsylvanien vorzustellen. Aber würde das nicht viel zu lange dauern?! Außerdem sind die aus der Perspektive von Erwachsenen geschriebenen Tagebuchaufzeichnung und Briefe mit ihren zum Teil gräßlichen Ereignissen auch nicht gerade für Kinder geeignet."

"Edward Gorey hat auch ein Dracula Buch gemacht", sage ich. "Oder eigentlich ist es eher ein aufklappbares Theater-Spiel-Buch mit den zentralen Dracula Szenen. Eine Beschreibung der Szenen liegt dem Buch bei. Und es lässt sich in Nullkommanix vorstellen."

"Heißt das etwa, dass man mit dem Theater nur die beschriebenen Dracula Szenen spielen kann?" fragt Rossipotti.

"Gorey hat drei verschiedene Räume und verschiedene Figuren und Gegenstände wie Sarg oder Teppich gemalt", sage ich. "Damit kannst du natürlich auch völlig andere Szenen oder Stücke spielen!"

"Komisch, dass ich das Theater-Buch noch nie gesehen habe", sagt Rossipotti und kratzt sich mit seinen langen Krallen die behaarte Brust.

"Das Buch erscheint auch nicht auf deutsch, sondern auf englisch", sage ich und hoffe, Rossipotti möglichst bald loszuwerden. "Aber heute kann man sich ja auch alle fremdsprachigen, lieferbaren Titel ganz einfach im Internet bestellen. Und um mit dem Dracula-Theater spielen zu können, braucht man nicht Englisch zu können."

"Wohl kaum", sagt Rossipotti und knackt mit dem Kiefer. "Ich nehme an, dass Goreys Bilder wie immer auch beim Dracula unverwechselbar gut und hintergründig sind?!"

Ich nicke nervös und schiele auf Rossipottis bald restlos veränderten Körper. Wird er mich jetzt gleich anspringen? Oder geht er noch rechtzeitig?

Als hätte er meine Gedanken erraten, heult er: "Es ist Zeit!"
Mit einer dicken Zunge fährt er sich über die Lefzen und sagt: "Mir steht wieder eine herrlich grausame Nacht bevor! Dir rate ich, dich mit ein paar Büchern von deiner unangenehmen Situation abzulenken! Die Nacht wird lang! GGRRRrrrr!"

Ich halte den Atem an und nicke zustimmend mit dem Kopf.
Mit wildem Blick und peitschendem Schwanz springt Rossipotti in letzter Sekunde zur Tür hinaus!
Geschafft!
Ich bin allein.

Edward Gorey: Edward Gorey's Dracula. A toy Theatre. Pomegranate Art Books. 2007.

* * *

Vampire sehen, erkennen, handeln.

Ich beherzige Rossipottis letzten Rat und versuche, mich mit Büchern durch die Nacht zu retten.
Netterweise hat Rossipotti mir vorhin einen ganzen Stapel mitgebracht und sie in Reichweite neben mich gestellt. Ich fürchte allerdings, dass ich mich mit den Büchern, die Rossipotti für mich ausgesucht hat, weniger ablenken, als viel mehr noch mehr gruseln werde! Denn wie ich schnell sehe, hat Rossipotti mir ausschließlich Gruselbücher mitgebracht. Natürlich hat er bei der Auswahl weniger an meinen nervösen Zustand und viel mehr an das aktuelle Thema der Rossipotti-Ausgabe gedacht.
Ich seufze und denke, dass es trotz allem wohl besser ist, ein gruseliges Buch als gar kein Buch zu lesen.
Ganz oben auf dem Stapel liegt Henry James' Das Durchdrehen der Schraube. Der Titel ist ein Klassiker englischer Spukgeschichten und nimmt sicher vieles vornweg, was man in späteren Horrorgeschichten lesen kann. Aber für meinen Geschmack ist das Buch viel zu trocken und zäh geschrieben und behauptet ständig von sich selber, unheimlich zu sein, wo es - zumindest nach heutigen Maßstäben - gar nicht unheimlich ist.
Danach greife ich mir The Evil Garden von Edward Gorey. Noch ein Buch von Gorey. Rossipotti hatte also die selbe Idee wie ich. Aber das liegt auch nahe. Denn Gorey hat viele gruselige Geschichten geschrieben und gezeichnet!
Das schmale, grüne Bändchen mit den schön gezeichneten Pflanzen auf dem Cover wirkt allerdings eher phantastisch anmutig als gruselig. Voller Erwartung, mich mit diesem schönen Buch doch noch von meiner gegenwärtigen, scheußlichen Situation ablenken zu können, schlage ich es auf.
Hm, auch dieses Buch ist auf englisch geschrieben. Im Unterschied zum Dracula-Theater stehen hier aber jedem Bild englische Verse gegenüber, die ich nicht verstehe, weil ich kein Englisch kann.
Ich frage mich, warum es so viele englische Künstler und dagegen so wenig deutsche Künstler gibt, die echte Grusel- und Horrorgeschichten schreiben? Deutsche Autoren und Illustratoren schreiben und malen dagegen ja meistens oberflächlichen Gruselkitsch. Und warum gibt es so wenige Gruselgeschichten, die ins Deutsche übersetzt werden?
Trauen sich die Deutschen im Allgemeinen nicht, über ihre gruseligen Phantasien tiefgründig nachzudenken und zu schreiben? Oder leben sie ihren Horror lieber in echt aus?
Ich blättere in Goreys Bilderbuch und entdecke auf einem Bild plötzlich deutsche Wörter. Über dem Parkeingang, in den die fröhlichen Protagonisten des Buchs gehen, steht auf deutsch: "Eintritt frei!" Die Schriftform erinnert mich unangenehmerweise sofort an den Slogan "Arbeit macht frei", der im Zweiten Weltkrieg über einigen Eingängen von deutschen Konzentrationslagern hing. Der Spruch macht mir das Büchlein schnell unheimlich, und ich frage mich nun ernsthaft, was "evil" wohl übersetzt heißt?
Ich blättere von Seite zu Seite und ahne allmählich die Bedeutung des kurzen Wortes: Ein Parkbesucher nach dem anderen verschwindet im Park, ertrinkt, wird von Pflanzen gefressen oder von Steinen erschlagen.
Bevor die Pflanzen auch nach mir greifen, klappe ich das Buch lieber zu!
Und erst jetzt fällt mein Blick auf den Untertitel von The Evil Garden: Eduard Blutig's Der Böse Garten!
Schlagartig erkenne ich den ganzen schrecklichen Zusammenhang der Geschichte.
Reflexartig lasse ich das Buch fallen. Bitte verzeiht mir. Aber solange ich selbst in einer Tragödie stecke, bin ich nicht stark genug, um mich um dieses sicher viel schrecklichere Drama zu kümmern!

Gibt es denn gar kein Buch, das mir in meiner Situation Linderung verschaffen könnte? Keines, das das Leben ein wenig auf die leichte Schulter nimmt oder das mir wenigstens Tipps in der Not gibt?
Doch! Hier!
Zwischen zwei dicken Wälzern von Stephen King und einem Kurzgeschichtenband von H.P. Lovecraft, entdecke ich tatsächlich ein Buch, das mir vielleicht geben kann, was ich suche: Hoffnung!
Das Buch heißt Vampire sehen, erkennen und handeln! und wird mir sicher erklären, ob das Vampir hier im Burgkeller gefährlich ist. Wenn ich Glück habe, erfahre ich sogar, ob vielleicht auch Graf Grindrachen ein Vampir ist und, falls ja, wie ich gegen ihn vorgehen kann!
Mit vor Aufregung zitternden Flossen schlage ich das Buch auf. Ich überblättere die ersten, einleitenden Seiten und fange gleich mit dem Kapitel Der Vampir im Allgemeinen an. Wie ich vermutet habe, ist es heute gar nicht mehr so einfach, ein Vampir zu erkennen. Graf Grindrachen könnte also durchaus einer sein!
Ich erfahre, dass Vampire früher relativ leicht an ihren langen Fangarmen, zwei bis vier langen Zähnen und Nägeln zu erkennen waren, heute, im Zeitalter des Films und Fernsehens, aber auch die Gestalt von ganz normalen Menschen annehmen können.
Auch das klassische Merkmal, Menschenblut trinken zu wollen oder zu müssen, trifft anscheinend längst nicht mehr auf alle Vampire zu. Da die Autorin des Buchs ihr Wissen mit hieb- und stichfesten Quellen aus Büchern, Film- und Fernsehen belegt, glaube ich ihr jedes Wort!
Und deshalb weiß ich bald, dass das Vampir hier im Keller eindeutig zur Kategorie "Böses Vampir" gehört. Es trägt grauenvoll, altmodische Kleidung und muss regelmäßig Menschenblut trinken. Insofern hatte Rossipotti vorhin Recht: Als fleischloser Fisch brauche ich mich tatsächlich nicht vor ihm zu fürchten. Puh! Wenigstens eine Gefahr weniger.
Was aber ist mit dem modisch angezogenen Graf Grindrachen?
Er kann offensichtlich nicht zu den Bösen Vampiren gehören. Und wenn ich das Buch richtig verstehe, kann er auch kein Romantisches oder Tragisches Vampir sein. Denn Romantische Vampir ist ständig mit seiner Liebe beschäftigt, und das Tragische Vampir zerfließt vor Selbstmitleid. Beides keine Eigenschaften, die zu Graf Grindrachen passen. Aber was ist mit den "Halfies"?
Laut der Autorin befinden sich Halfies zwischen Vampir und Mensch und versuchen ständig, mit Medikamenten und Spezialgetränken gegen ihre vollständige Verwandlung zum Vampir zu kämpfen. Das könnte durchaus zu Graf Grindrachen passen! Wer weiß, vielleicht experimentiert er an mir nur deshalb herum, um ein Mittel gegen seine Verwandlung zu finden?

Hilfe!
Draußen schlägt die Turmuhr zwölf! Und das bedeutet wahrscheinlich, dass Graf Grindrachen mit dem letzten Glockenschlag wieder da ist. Oder bleibt er doch eine Nacht länger auf seiner Versammlung?
Auf jeden Fall muss ich mich beeilen, in dem Buch einen Hinweis zu finden, was man gegen Vampire unternehmen kann. Endlich finde ich ein paar Tipps zur Selbstverteidigung. Doch was schreibt die Autorin denn da?
Ich soll schreien? Das ist wohl ein Witz?! Wer sollte mich hier hören?!
Ich sollte mich am besten unter andere Leute mischen? Guter Tipp! Aber unter wen soll ich mich hier bitte mischen?
Ich soll fliehen? Wie denn?! Ich bin festgekettet!
Ich soll ihnen von vorne herein aus dem Weg gehen? Das hätte ich sehr gerne getan, aber dafür ist es jetzt leider zu spät!
Ich soll sie ins Sonnenlicht locken? Ich sehe Graf Grindrachen nur nachts!

Gibt es in dem Buch denn keinen einzigen Tipp, der sich nicht auf Vampire im ganz normalen menschlichen Alltag, sondern auf meine besonders gefährliche Situation bezieht?
Doch hier! Die Stelle bezieht sich zwar auf den Bösen Vampir, ich hoffe aber, dass sie auch gegen alle anderen Vampiren hilft:

"Sollten Sie sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhalten, bleiben Ihnen kaum Möglichkeiten, sich gegen den Big Bad zu verteidigen. Dies ist der einzige Fall, in dem ich vorschlagen würde, zu alten Abwehrmitteln zu greifen wie Kruzifix, Knoblauch oder Weihwasser. Viele Vampire, die heute herumlaufen, waren in der Lage, eine Immunität gegen sie zu entwickeln, aber vielleicht können Sie damit eine Vampir umnieten, der im Mittelalter stecken geblieben ist und nicht nachgerüstet hat."

Ich kann nur hoffen, dass Graf Grindrachen so ein veraltetes Vampir ist!
Aber selbst wenn: Woher soll ich hier Knoblauch, Weihwasser und einen Pflock bekommen?
Von Rossipotti vielleicht, wenn er morgen wieder kommt?
Und was ist, wenn Graf Grindrachen gar kein Vampir, sondern eine andere Sorte Wiedergänger ist? Auf welche Rettung kann ich dann hoffen? Auf Palmina?

War da gerade nicht ein Geräusch?
Doch!
Ich höre Schritte!
Näher kommende Schritte!
Schrecklich bekannte Schritte!
Ein leichter Schritt, ein schwerer Schritt, ein leichter Schritt, ein schwerer Schritt!

Graf Grindrachen ist wieder da!

Hiiiieeeellffeeee!!!!

 

Meredith Woerner: Vampire sehen, erkennen, handeln. Mit Illustrationen von Jochen Schievink. Sanssouci im Carl Hanser Verlag. München 2011.
 
 © Rossipotti No. 25, März 2012