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            Salon Albert
            Hallo Kinder, 
             ich freue mich, dass ihr alle gekommen seid! 
              Wahrscheinlich wollt ihr euch einmal so richtig gruseln lassen? 
              Das ist toll!  
              Denn beim Gruseln kann man Dinge erfahren, die unser normaler Alltag 
              durch allerlei Sicherheitsvorkehrungen und vernünftiges Denken 
              längst verdrängt hat.  
              Wer weiß heute beispielsweise noch, wie es ist, nachts ohne 
              Licht durch den Wald zu gehen? Wer kennt das unheimlichen Gefühl, 
              das einen beschleicht, wenn das Käuzchen ruft und damit den 
              Tod des Nachbarn ankündigt? Und wem von euch haben vor Angst 
              und Grusel schon einmal die Zähne aufeinander geklappert oder 
              sich die Haare im Nacken aufgestellt? 
             Wer auch nur eine dieser Fragen beantworten kann, weiß: Wer 
              sich gruselt, lernt neue Gefühle kennen und erfährt etwas 
              über die grundlegenden Eigenschaften, Ängste und (Alp)Träume 
              des Menschen. Wer Angst hat, hat auch Phantasie und entwickelt spannende 
              Bilder und Visionen!
             Trotz dieser großen Grusel-Vorteile bin ich mir nicht sicher, 
              ob die heutige Veranstaltung auch für die Kleinen unter euch 
              geeignet ist. Denn erst vor ein paar Tagen hat mir ein neunjähriges 
              Mädchen gesagt, dass sie das Buch, das ich gleich mit euch 
              besprechen möchte, zu gruselig fand. Zu gruselig 
              ist natürlich nicht gut. Denn zu viel Angst lähmt, anstatt 
              die Phantasie zu beflügeln.  
              Überlegt euch also gut, ob ihr hier bleiben möchtet. Oder 
              ob ihr nicht lieber doch zu Pudding Wackel, zu Rossipottis Leibspeise, 
              dem Fisch oder gleich ganz ins Archiv zu anderen Ausgaben gehen 
              möchtet?! 
             Ihr beiden da vorne wollt gehen? Gut! Und ihr da hinten auch?  
              Prima! Zu gehen ist sicher genau so mutig, wie sitzen zu bleiben! 
              Auf jeden Fall wünsche ich euch noch viel Spaß in den 
              anderen Rubriken von Rossipotti! 
              Möchte sonst noch jemand gehen? Nein?! 
              Dann rückt doch ein bisschen zusammen, damit wir uns besser 
              gemeinsam gruseln können. 
             Das Buch, das ich euch jetzt vorstellen möchte, hat Robert 
              Louis Stevensons geschrieben und heißt 
              Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde.  
              Robert Louis Stevenson hat neben Gedichten und historischen Romanen 
              vor allem viele Reise- und Abenteuergeschichten geschrieben. Sein 
              bekanntestes Buch ist wohl die abenteuerliche Geschichte Die 
              Schatzinsel.  
              Auch die schauerhafte Erzählung Der 
              seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde ist eine 
              Art Abenteuer-Geschichte. Allerdings geht es hier nicht um das Abenteuer 
              Reise, um Schätze und Piraten, sondern um das Abenteuer Psyche 
              oder Seele, um ihre versteckten Wünsche und Abgründe." 
             "Grrr ... Grrr ...Grrr ..." 
             "Was war das?" fragt Palmina verwundert. 
             "Was denn?" fragt Albert nervös und trinkt einen 
              Schluck Wasser aus seiner Flasche. "Ich habe nichts gehört." 
             "Dieses Brummen", sagt Palmina. "Es hat sich wie 
              ein stumm geschaltetes Handy angehört." 
             "Ah, das hast du dir sicher eingebildet", sagt Albert 
              und fährt schnell in seinen Ausführungen fort: "Wir 
              waren bei den Abgründen. Ein beliebter seelischer oder psychischer 
              Abgrund in der Horrorliteratur ist, dass derjenige nicht wirklich 
              der ist, für den man ihn hält. Entweder kippt jemand aus 
              seiner Persönlichkeit, indem er sich plötzlich in ein 
              anderes Wesen verwandelt oder verändert, oder er wird von einem 
              anderen, bösen Wesen fremd bestimmt oder er hat eine in eine 
              helle und dunkle gespaltene Persönlichkeit." 
             "Grrrrrrrr!" 
             "Da wieder!" sagt Palmina. "Habt ihr es dieses Mal 
              gehört?! Dieses Mal hat es sich allerdings eher wie ein Knurren 
              als wie ein Klingelton angehört!" 
             Komischerweise interessiert sich niemand für Palminas Knurren! 
               
              Statt dessen sagt ein Junge mit schwarzen Haaren und bleichem Gesicht: 
              "Aber wenn man sich in ein anderes Wesen verändert oder 
              von jemandem fremd bestimmt wird, hat man doch nicht selbst 
              den seelischen Abgrund in sich, sondern dann das andere Wesen? Der 
              eigentliche Mensch bleibt doch gut und das Böse kommt nur von 
              außerhalb?!" 
             "Was soll dieses Böse denn sein?" fragt Albert, 
              "Glaubst du, dass es ein Böses gibt, das unabhängig 
              von einer Persönlichkeit existieren kann? Denkst du vielleicht 
              an den Teufel?" 
             "Nee, ich glaube nicht an den Teufel!" sagt der bleiche 
              Junge. "Aber trotzdem glaube ich, dass man sich mit dem Bösen 
              infizieren kann wie mit einer Krankheit. Wenn man beispielsweise 
              von einem Vampir gebissen wird, war man davor wahrscheinlich ganz 
              normal nett. Aber danach wird man durch den Biss böse!" 
             "Wie kannst du an Vampire glauben aber nicht an den Teufel?" 
              sagt ein großes dünnes Mädchen spöttisch. "Das 
              ist doch fast das selbe! Beides sind böse Wesen, die dich in 
              ihre dunkle Welt ziehen wollen!" 
             "Der Teufel ist aber schon längst ausgestorben!" 
              sagt bleiche Junge. "Vampire aber nicht!"
             "Außerdem müssen Vampire gar nicht böse sein!" 
              meint ein halbwüchsiges Mädchen mit langen braunen Haaren 
              und rot angemalten Lippen. "Sie können supersüß 
              und lieb sein!" 
             "Gehen wir einmal davon aus, dass es weder Vampire noch Teufel 
              gibt", versucht Albert die Diskussion in eine andere Richtung 
              zu lenken. "Dann muss man sich doch überlegen, was die 
              Bilder von solchen Wesen bedeuten? Was stellen sie dar? Meiner Meinung 
              nach bebildert die Fremdbestimmung einer Persönlichkeit durch 
              ein dunkles Etwas den doppelbödigen Charakter einer einzigen 
              Person. Oder anders ausgedrückt: Die Verwandlung von einem 
              guten in ein schlechtes Wesen ist Symbol dafür, dass die beschriebene 
              Person sowohl eine dunkle oder böse Seite als auch eine helle 
              Seite in sich trägt. Und je nachdem, welches Wesen gerade dargestellt 
              wird, ist gerade die helle oder dunkle Seite an der Oberfläche." 
             "Welche dunkle Seite denn?" meldet sich ein kleines Mädchen 
              zu Wort. "In Wirklichkeit ist der Mensch doch nicht in eine 
              dunkle, böse Seite und eine helle, liebe Seite eingeteilt? 
              Man ist doch immer beides gleichzeitig?!" 
             Das Mädchen ist vielleicht gerade mal acht Jahre alt, und 
              Albert fragt sich, ob sie den literarischen Salon vorhin nicht lieber 
              mit den anderen Kindern verlassen hätte? 
             "Kennst du nicht Comics, in denen Figuren, die uneins mit 
              sich sind, ein Engelchen und ein Teufelchen über sich schweben 
              haben?" fragt das große, dünne Mädchen. 
             "Doch, schon", sagt das kleine Mädchen. "Aber 
              Comics entsprechen ja auch nicht der Wirklichkeit!"
             "Trotzdem können sie in ihren überzeichneten, unrealistischen 
              Bildern Wirklichkeit enthalten!" sagt das große, dünne 
              Mädchen. "Zum Beispiel ist es doch wirklich so, dass jeder 
              von uns ein Engelchen und ein Teufelchen in sich trägt." 
             "Ich nicht!" sagt das kleine Mädchen bestimmt. 
             "Pfff!" macht ein kräftiger Junge. "Du brauchst 
              nur in Gefahr zu kommen, also in echte Gefahr. Jemand hält 
              dir zum Beispiel ein Messer an den Hals. Oder jemand versucht, dich 
              zu kidnappen. Peng! Schon tritt dein Teufelchen auf den Plan, das 
              sich auf den Angreifer wirft und ihn zerkratzen möchte. Das 
              ist dann deine dunkle, in dem Moment fremd bestimmte Seite!" 
             "Du spinnst ja!" sagt das Mädchen "So etwas 
              würde ich nie tun!" 
             "Ach", sagt der kräftige Junge spöttisch. "Heißt 
              das, du bist so schlapp, dass du nicht einmal versuchen würdest, 
              dich zu retten?" 
             "Natürlich!" ruft das kleine Mädchen. "Aber 
              wenn man sich retten will, ist man nicht selber böse! Sondern 
              der, der das Messer an den Hals hält, ist dann böse!" 
             "Trotzdem kommt in so einem Fall auch deine dunkle Seite zum 
              Vorschein!" beharrt der Junge. "Ganz egal, aus welchem 
              Motiv heraus man handelt: Jeder hat eine dunkle Seite. Man muss 
              sie nur heraus zu kitzeln wissen. Das, was du im Allgemeinen von 
              dir denkst, muss noch lange nicht das sein, was du in diesem oder 
              jenem besonderen Augenblick wirklich wünscht und tun willst! 
              Auch du kannst sicher schrecklich böse sein!" 
             Die Mundwinkel des kleinen Mädchens ziehen sich zitternd nach 
              unten. Albert befürchtet, dass sie gleich anfängt zu weinen. 
             "Es gibt sicher Menschen, deren böse Seite auch in schlimmen 
              Situationen von der hellen Seite bestimmt wird", sagt Albert 
              schnell, um das Mädchen zu beruhigen. "Und es gibt sicher 
              Menschen, die viel weniger uneins mit sich sind als andere. In der 
              Horrorliteratur oder im Horrorfilm sind Werwölfe und Menschen 
              mit fremdbestimmter oder gespaltener Persönlichkeit wie gesagt 
              nur Bilder, um diesen seelischen Zwiespalt darzustellen. In Wirklichkeit 
              gibt es solche extremen Fälle gar nicht." 
             "Und was ist mit bösen Vampiren?!" platzt der Junge 
              mit bleichem Gesicht unvermittelt dazwischen. "Die haben keine 
              helle Seite. Für welches Bild stehen denn die?" 
             "Grrrr! Grrr!"
             Palmina zuckt zusammen. Das Knurren war dieses Mal noch etwas lauter 
              geworden!  
              Wie zur Bestätigung sieht sie sich nach den anderen Kindern 
              um. Aber seltsam: Die anderen scheinen immer noch nichts gehört 
              zu haben!  
              Auch Albert sieht ganz konzentiert in die Runde und scheint dem 
              großen dünnen Mädchen an den Lippen zu hängen, 
              wie es sich über moderne Vampire auslässt. Anscheinend 
              haben moderne Vampire die Fähigkeit, auch bei Tageslicht wach 
              zu sein und ihre Gestalt zu wandeln, um sich besser an ihre Opfer 
              schleichen und ihnen das Blut aus den Adern saugen zu können. 
              Palmina interessiert sich im Moment nicht für Vampire. Viel 
              lieber würde sie wissen, woher das Knurren kommt. Soll sie 
              im Zimmer leise nach dessen Ursache suchen?  
              Aber was, wenn sie sich das Knurren nur eingebildet hat? Würden 
              die anderen sie dann allmählich nicht für verrückt 
              erklären? Unruhig bleibt Palmina auf ihrem Stuhl sitzen und 
              hat Angst, jeden Moment wieder ein Knurren zu hören. 
             "Was ist denn jetzt mit Dr. Jekyll und Mister Hyde?" 
              unterbricht ein Junge, der schon öfters im Salon war und Max 
              heißt, die Vampir-Diskussion. "Wollte Albert uns vorhin 
              nicht daraus etwas vorlesen?" 
             "Richtig", sagt Albert "Gut, dass du mich daran 
              erinnerst! Die Vampire haben mich völlig abgelenkt. Denn eigentlich 
              wollte ich euch ja nicht von gruseligen Gestaltwandlern und deren 
              Fähigkeit, andere auszusaugen oder auszunutzen, sondern von 
              gespaltenen Persönlichkeiten und ihrer Zerissenheit berichten! 
              Und dafür eignet sich die Erzählung Der 
              seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. 
              Hyde sehr gut, denn sie ist eine grauslig-schaurige 
              Geschichte über das Doppel-Ich." 
              Albert blättert in dem relativ dünnen Erzählband 
                und bleibt ziemlich 
              am Anfang der Geschichte stehen.  
              "Hm, ich denke ich fange an der Stelle an, in der der Ich-Erzähler, 
              Dr. Jekylls Freund und Anwalt, zum ersten Mal von seinem Cousin 
              Mr. Enfield vom unheimlichen Treiben eines gewissen Mr. Hydes erfährt: 
             "Nun es war so", erwiderte Mr. 
              Enfield: "Ich kam gerade von einem Ort am Ende der Welt nach 
              Hause zurück, ungefähr um drei Uhr früh an einem 
              düsteren Wintermorgen, und mein Weg führte mich durch 
              einen Teil der Stadt, wo man buchstäblich nichts anderes als 
              die Straßenlaternen erkennen konnte. Straße auf Straße, 
              und alle Leute schliefen - Straße auf Straße, alle erleuchtet 
              wie für eine Prozession und alle verlassen wie eine Kirche 
              - bis ich schließlich in jenen Gemütszustand geriet, 
              in dem man horcht und horcht und sich nach dem Anblick eines Wachmannes 
              zu sehnen beginnt. Auf einmal gewahrte ich zwei Gestalten: die eine 
              ein kleiner Mann, der zügig ostwärts stampfte, die andere 
              ein vielleicht acht- oder zehnjährigers Mädchen, das, 
              so schnell es nur konnte, eine Querstraße hinunterlief. Also, 
              meine Lieber, natürlich rannten die beiden an der Ecke ineinander; 
              und da wurde die Sache furchtbar; denn der Mann trampelte unbewegt 
              über den Leib des Kindes und ließ es schreiend am Boden 
              liegen. Es klingt zwar nicht so schlimm, aber es war teuflisch anzusehen. 
              Es war nicht wie ein Mensch, es war wie ein abscheulicher Moloch. 
              Ich rief hinter ihm drein, rannte ihm nach, packte den feinen Herrn 
              am Kragen und brachte in dorthin zurück, wo sich bereits eine 
              ganze Menschenansammlung um das schreiende Kind gebildet hatte. 
              Er war vollkommen ruhig und leistete keinerlei Widerstand, warf 
              mir aber einen Blick zu, so grässlich, das mir der kalte Schweiß 
              herunterlief. Die herbei geeilten Leute waren die Angehörigen 
              des Mädchens; und nach kurzer Zeit erschien auch der Doktor, 
              den es hatte holen sollen. Nun, dem Kind fehlte nicht viel, nur 
              war es sehr erschrocken, meinte der Knochensäger; und damit 
              hätte es eigentlich sein Bewenden haben können. Es gab 
              aber noch einen merkwürdigen Umstand. Ich hatte sogleich einen 
              Widerwillen gegen meinen Gentleman gefasst. Ebenso erging es den 
              Verwandten des Kindes, was nur natürlich war. Doch das Verhalten 
              des Doktors ließ mich erstaunen. Er war der übliche angestaubte 
              Pillenverschreiber, von undefinierbarem Alter und Aussehen, mit 
              starkem Edinburgher Akzent und ungefähr so gefühlsbetont 
              wie ein Dudelsack. Nun, mein Lieber, es erging ihm so wie uns; jedesmal, 
              wenn er meinen Gefangenen anstarrte, bemerkte ich, wie jener Knochensäger, 
              vor Verlangen, ihn zu töten, bleich und elend wurde. Ich wusste, 
              was in seinem Kopf vorging, so wie er wusste, was in meinem vorging; 
              und da Töten nicht in Frage kam, taten wir das Nächtsbeste. 
              Wir erklärten dem Mann, wir könnten und würden aus 
              dem Vorfalle einen solchen Skandal machen, dass sein Name vom einen 
              Ende Londons bis zum anderen in üblem Geruche stehen sollte. 
              Falls er Freunde oder Ansehen besäße, wollten wir dafür 
              sorgen, dass er beides verlöre. Und während wir es in 
              grellen Farben ausmalten, hielten wir die Frauen, so gut es ging, 
              von ihm ab, denn sie waren wild wie Harpyien. Nie sah ich je einen 
              Kreis so hasserfüllter Gesichter; und mittendrin der Mann voll 
              finsterer, höhnischer Gleichgültigkeit - zwar erschrocken, 
              das konnte ich sehen - , die er aber, meine Lieber, wahrlich wie 
              Satan zur Schau trug. 'Wenn es Ihnen beliebt, aus diesem Vorfall 
              Kapital zu schlagen', sagte er. 'bin ich natürlich hilflos. 
              Jeder Gentleman sucht eine Szene zu vermeiden', fügte er hinzu. 
              'Nennen Sie mir die Summe.' Nun, wir pressten einhundert Pfund für 
              die Familie des Kindes aus ihm heraus; zweifellos hätte er 
              sich gerne widersetzt; doch war etwas an uns allen, das Unheil versprach, 
              so dass er schließlich nachgab. Als Nächstes war das 
              Geld zu beschaffen; und was meinst du, wohin er uns brachte? Ausgerechnet 
              zu jenem Haus mit der Tür - zog hastig einen Schlüssel 
              hervor, ging hinein und kam auf der Stelle mit dem Betrag von zehn 
              Pfund in Gold und einem Scheck von Coutts Bank für den Rest 
              zurück, zahlbar an den Überbringer und gezeichnet mit 
              einem Namen, den ich nicht zu nennen vermag, obgleich er zu den 
              wesentlichen Punkten in meiner Geschichte gehört, dennoch eine 
              Name, der zumindest wohlbekannt war und oft gedruckt wurde. Die 
              Summe war hoch; aber die Unterschrift war noch für mehr gut, 
              wenn sie nur echt war. Ich nahm mir die Freiheit, meinen Gentleman 
              darauf hinzuweisen, dass die ganze Angelegenheit seltsam gestellt 
              aussähe, dass im wirklichen Leben ein Mann nicht um vier Uhr 
              morgens in eine Kellertür spaziere und mit dem Scheck eines 
              anderen über annährend einhundert Pfunde wieder herauskomme. 
              Er aber blieb ganz ruhig und grinste höhnisch. 'Beruhigen Sie 
              sich nur,' sagte er, 'ich bleibe bei Ihnen, bis die Banken öffnen, 
              und löse den Scheck selbst ein.' So machten wir uns alle auf 
              den Weg, der Doktor, der Vater des Kindes, unser Freund und ich 
              selber, und verbrachten den Rest der Nacht in meiner Wohnung; am 
              nächsten Tag gingen wir nach dem Frühstück gemeinsam 
              zur Bank. Ich reichte den Scheck selbst ein und sagte, ich hätte 
              allen Grund anzunehmen, dass es sich um eine Fälschung handle. 
              Nichts dergleichen. Der Scheck war echt." 
             
             "Was soll daran denn gruselig sein?" sagt der kräftiger 
              Junge. "Und warum machen die Leute so einen Aufstand, bloß 
              weil einer über ein Mädchen trampelt?" 
             "Was heißt hier 'bloß'?" sagt das kleine 
              Mädchen. "Das hat sicher total weh getan!" 
             "Heile, heile Segen, Baby!" sagt der kräftige Junge. 
              "Ich rangel mich mit meinen Kumpels jeden Tag! Und wenn da 
              eine blöde Pute in uns reinläuft, kriegt die auch einen 
              Dämpfer. Dafür würde ich nie und nimmer hundert Pfund 
              zahlen! Ganz egal wie viel oder wenig das bei uns heute wäre. 
              Die anderen Leute sind doch viel krimineller, dass sie ihn erpressen, 
              ihn bis zum nächsten Tag festhalten und ihn am liebsten sogar 
              töten würden! Und der Erzähler sagt ja selbst, dass 
              er noch nie so hasserfüllte Leute gesehen hat." 
             "Sie hätten ihn sicher nicht festgehalten, wenn er sich 
              nicht so rücksichtslos und gleichgültig verhalten, sondern 
              entschuldigt hätte", sagt Max. "Außerdem steht 
              da ja auch, dass der Mann einen großen Widerwillen bei den 
              anderen auslöste." 
             "Na und?" faucht der kräftige Junge. "Das gibt 
              ihnen noch lange nicht das Recht, ihn zu erpressen. Die haben ihren 
              Hass nicht im Griff und dafür muss der andere bezahlen!" 
             "Ich verstehe auch nicht, warum der Mann so schrecklich sein 
              soll", bemerkt das große, dünne Mädchen. "Er 
              ist wohl rücksichtslos und brutal. Aber wirklich nicht so schlimm, 
              wie man es in einer schaurigen Geschichte erwartet." 
             "Und wer von denen soll jetzt überhaupt der unheimliche 
              Mr. Hyde sein?" fragt der bleiche Junge. "Mr. Enfield 
              kann es ja wohl nicht selbst sein? Aber vielleicht der herbei gerufene 
              Pillenverschreiber von undefinierbarem Aussehen?" 
             "Wie kommst du denn darauf?!" macht Max und fährt 
              überzeugt fort: "Mr. Hyde ist sicher der brutale Mann, 
              der über das Mädchen getrampelt ist." 
             Albert nickt. 
             "Besonders unheimlich finde ich den aber trotzdem nicht", 
              sagt das große, dünne Mädchen. "Da steht zwar, 
              dass er Grauen erregend und wie Satan aussah. Aber warum eigentlich? 
              Was macht ihn denn dazu?" 
             "Hm", macht die Qualle Albert. "Warum er so Grauen 
              erregend auf die anderen wirkt, kann ich euch leider nicht sagen. 
              Mr. Enfield wusste selbst nicht so genau, was ihn eigentlich an 
              Mr. Hydes Anblick störte. Eigentlich weiß er nur, dass 
              die Person irgendwie missgestaltet aussah und in allen umstehenden 
              Betrachtern ein grausiges Gefühl auslöste." 
             "Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen", sagt 
              der kräftige Junge. "Ich habe noch nie jemanden gesehen, 
              der bei mir ein solches Grauen ausgelöst hat! Und wenn die 
              Frauen wie Furien oder Harpyien ausgesehen haben, kann das Gesicht 
              von Mr. Hyde kaum schlimmer gewesen sein!" 
             "Du hast eben keine Phantasie!" sagt Max. "Wenn 
              du im Film jemanden vorgeführt bekommst, der beispielsweise 
              ein verstümmeltes Gesicht hat, bekommst du sicher auch Angst, 
              obwohl du so jemanden auch noch nie im echten Leben gesehen hast?" 
             "Wahrscheinlich hat Mr. Hyde eine vernarbte, zerfetzte Haut, 
              unter der man Muskeln sehen kann?!" phantasiert das große, 
              dünne Mädchen. "Oder er hat einen Skelettkopf mit 
              leeren Augenhöhlen!" 
             "Oder er hat gar kein richtiges Gesicht!" meint der bleiche 
              Junge, "nur eine graue Masse unter der Kapuze!" 
             "Ihh!" Ein paar Kinder stöhnen entsetzt auf.
             "Trotzdem", meint der kräftige Junge. "Für 
              heutige Verhältnisse ist die vorgelesene Szene wirklich pillepalle. 
              Hat Albert vorhin nicht gesagt, dass sich ein neunjähriges 
              Mädchen bei der Geschichte gegruselt hat?" 
             "Die Geschichte hat hier ja gerade erst angefangen", 
              meint Albert. "Sie stimmt den Leser sozusagen auf das Grauenvolle 
              in der Geschichte ein." 
             "Und was ist mit dem Doppel-Ich?" fragt der bleiche Junge. 
              "Hast du vorhin nicht gesagt, dass es in der Geschichte um 
              ein Doppel-Ich geht?"
             "Wahrscheinlich gibt es Mr. Hyde zwei Mal", mutmaßt 
              das große, dünne Mädchen. "Oder Mr. Hyde ist 
              nur ein Spiegelbild von jemand anderem. So eine Geschichte habe 
              ich zumindest einmal gelesen. Da tritt das Spiegelbild aus dem Spiegel 
              und will ein eigenes Leben leben." 
             "Hm", macht Albert wieder. "Eigentlich möchte 
              ich euch gar nicht verraten, was es mit dem Doppel-Ich auf sich 
              hat. Denn ich finde, dass ihr es selbst heraus bekommen sollt. Aber 
              ich kann euch einen Hinweis geben, den die meisten von euch vorhin 
              wohl übersehen haben: Es ist gar nicht so sehr die äußere 
              Gestalt und das rücksichtsloses Verhalten des gräßlichen 
              Mannes gegenüber dem Mädchen, das Mr. Enfield so beunruhigt 
              hat. Sondern es ist viel mehr die Tatsache, dass dieser Mann auf 
              der Bank einen Scheck einlösen kann, der von einem anderen, 
              wohlbekannten Mann unterschrieben und offensichtlich nicht gefälscht 
              wurde!" 
             "Und dieser wohlbekannte Mann ist Dr. Jekyll!" vermutet 
              Max. "Der Freund des Ich-Erzählers." 
             Wieder nickt Albert.
             "Aber was ist denn daran schlimm, dass Dr. Jekyll Mr. Hyde 
              einen Scheck ausstellt?" hakt das kleine Mädchen nach. 
              "Es ist doch gut, wenn Dr. Hyde den Scheck nicht gefälscht 
              hat?! So bekommt die Familie von dem Mädchen auch wirklich 
              das viele Geld!" 
             "Schon", sagt Albert. "Aber stell dir vor, du erfährst 
              plötzlich, dass deine beste Freundin dem schlimmsten Prügelheini 
              in eurer Schule ihr Taschengeld gibt. Würdest du das nicht 
              gruselig finden?" 
             "Doch schon", sagt das kleine Mädchen. "Wahrscheinlich 
              würde sie ihm nur Geld geben, damit sie von ihm nicht geschlagen 
              wird. Oder irgend etwas anderes Schlimmes." 
             "So etwas Ähnliches vermutet auch der Ich-Erzähler 
              Mr. Utterson", sagt Albert. "Denn nachdem Mr. Enfield 
              ihm die Geschichte von Mr. Hyde erzählt hat, weiß er 
              sofort, dass der Mann, der Mr. Hydes Scheck ausgestellt hat, sein 
              Freund Dr. Jekyll sein muss. Und zwar deshalb, weil Dr. Jekyll ihn 
              selbst beauftragt hat, Dr. Jekylls Testament zu beglaubigen und 
              'seinen Freund und Wohltäter Edward Hyde' 
              als Alleinerben einzusetzen ..." 
             "Aber dann wird Dr. Jekyll ja gar nicht von Mr. Hyde bedroht", 
              unterbricht das kleine Mädchen. "Sondern die beiden sind 
              befreundet!" 
             "Gruselig!" sagt das große, dünne Mädchen. 
              "Wenn meine Freundin mit so einem gräßlich aussehenden 
              Typen befreundet wäre, würde mich das schon nachdenklich 
              machen. " 
             "Eben!" sagt Albert. "Auch für Mr. Utterson 
              ist es unvorstellbar, dass ein ehrbarer, in der Gesellschaft hoch 
              geachteter Arzt wie sein Freund Dr. Jekyll einen unbekannten, skrupellosen 
              Widerling zum Freund und Helfer haben kann. Er denkt deshalb, dass 
              Dr. Jekyll in Wirklichkeit in irgendeiner unguten Abhängigkeit 
              von Mr. Hyde steht und ihn deshalb schützt." 
             "In welcher Abhängigkeit denn?" fragt Max. "Wird 
              er erpresst oder ist er Mr. Hyde wegen irgend etwas in seiner Vergangenheit 
              schuldig? Vielleicht hat er Mr. Hyde oder einen Angehörigen 
              von ihm schlecht behandelt?" 
             "Oder ist Mr. Hyde vielleicht doch das herunter gekommene 
              Spiegelbild von Dr. Jekyll?" überlegt der bleiche Junge. 
             "Oder Dr. Jekyll ist womöglich das Spiegelbild, und Mr. 
              Hyde der von Dr. Jekyll verdrängte, echte Mensch?" sagt 
              das große, dünne Mädchen. "Dann könnte 
              er Dr. Jekyll damit erpressen, dass er der Öffentlichkeit verraten 
              wird, dass der ehrbare Dr. Jekyll nur ein Spiegelbild ist. Welch 
              ein Skandal!" 
             "Ist es wirklich so?" fragt das kleine Mädchen die 
              Qualle Albert. 
             "Das bekommt Mr. Utterson zu dem Zeitpunkt nicht heraus", 
              sagt Albert ausweichend. "Er stellt Dr. Jekyll zwar zur Rede, 
              aber der möchte keine Auskunft geben. Statt dessen bittet er 
              Mr. Utterson, ihm und Mr. Hyde zu vertrauen. Die Lage ändert 
              sich allerdings schlagartig, als Mr. Hyde nachts auf der Straße 
              jemanden auf grauenhafte Weise ermordet ..." 
             Palmina richtet sich erschrocken in ihrem Stuhl auf.  
              Nach längerer Pause, in der sich ihre Nerven beinahe wieder 
              beruhigt hatten, hat sie nun doch wieder das "Grrr" gehört! 
              Außerdem war dem Knurren eine Art Klirren wie von einer Kette 
              beigemischt! War hier im Raum irgendwo ein Gespenst?  
              Da! Jetzt hörte sie wieder diese leise Ketten-Klirren! 
             "Was ist denn mit Palmina?" fragt das kleine Mädchen 
              und zeigt auf Palmina. "Palmina ist ganz bleich!" 
             Die Köpfe der Kinder drehen sich zu Palmina. Tatsächlich: 
              Palmina sitzt mit käseweißem Gesicht und vor Schreck 
              geweiteten Augen auf ihrem Stuhl!  
              Ein Junge, der direkt neben ihr sitzt, sieht, dass auf ihrer Stirn 
              mehrere Schweißperlen glitzern. Fragend sehen die Kinder Palmina 
              an. 
             "Es ist nichts", lügt Palmina.  
              In Wirklichkeit hört sie gerade in diesem Moment wieder das 
              Knurren!  
              Und jetzt glaubt sie sogar zu sehen, wie sich ein haariges, grässliches 
              Maul mit blutigen Zähnen hinter Alberts Lesekommode langsam 
              vorschiebt! 
            
             "Ahhh!" 
             "Sag doch endlich, was los ist?!" sagt ihr Sitznachbar 
              besorgt. "Ist dir schlecht?" 
             Palmina schüttelt den Kopf und starrt weiter in die Richtung, 
              in der sie das haarige Etwas sieht.  
              Der Junge folgt ihrem Blick, kann aber von seinem Platz aus nichts 
              sehen. Er steht auf und geht ein paar Schritte auf die Kommode zu 
              ...
             "Hilfe!" kreischt der Junge und 
              macht einen Satz rückwärts. "Was ist 
              denn das?!" 
             Die Kinder springen von ihren Stühlen auf. Einige rennen Schutz 
              suchend zur Tür, die anderen neugierig vor zur Kommode. 
             "Geht wieder auf eure Plätze!" ruft Albert. Er schwimmt 
              aufgeregt in seiner Flasche und ist offensichtlich verärgert, 
              dass die Kinder das Wesen entdeckt haben.  
              "Ich kann es nicht riskieren, dass er euch anspringt, wenn 
              ihr eine - in seinen Augen - falsche Bemerkung macht oder ihm einen 
              Bissen streitig machen möchtet!", sagt Albert. "Auch 
              wenn er nicht wirklich gefährlich ist, wenn man mit ihm umzugehen 
              weiß. Wie ihr seht, habe ich ihn außerdem in Ketten 
              gelegt. " 
              Die Kinder hören nicht auf Albert. Sie kreischen und stellen 
              sich ängstlich rangelnd in einem großen Kreis um das 
              seltsame Wesen. 
             Vor ihnen liegt ein gefährlich aussehendes, wolfsartiges Biest 
              mit rotem Borstenfell und giftig aussehendem Zackenschwanz. Um seinen 
              starken, sehnigen Nacken ist ein Ring gelegt, an dem eine starke 
              Kette befestigt ist. Seine scharfen, langen Krallen sehen aus, als 
              hätte er damit schon viele Tiere zerfetzt. Als er mit den Lefzen 
              fletscht, kann man blutige Zähne in seinem Kiefer sehen. 
              Seine Augen scheinen dagegen nicht richtig in dieses Wesen zu passen: 
              Klug und traurig sehen sie die Kinder an. So, als gefiele ihnen 
              nicht, was sie sehen müssen. 
             Palmina ist erleichtert. Endlich sehen und hören auch die 
              anderen Kinder das Klirren und Knurren! Sie hat es sich also nicht 
              die ganze Zeit eingebildet. Und sie ahnt nun, dass Albert vorhin 
              das Knurren absichtlich überhört hatte, um die Kinder 
              nicht auf das Biest aufmerksam werden zu lassen! 
              Ihr wäre es trotzdem lieber gewesen, wenn Albert ihr gleich 
              erklärt hätte, woher das Knurren kommt. Denn wie sie jetzt 
              feststellt, ist ein echtes Monster wesentlich harmloser als ein 
              eingebildetes! Am liebsten würde sie aufstehen und das gräßliche 
              Tier dafür umarmen, dass es sich endlich gezeigt hat! Aber 
              es ist sicher klüger, nicht in seine Nähe zu kommen. Es 
              sieht wirklich sehr gefährlich aus!
             "Ich wollte ihn nicht hier haben", sagt Albert und seine 
              Stimme hört sich beinahe kleinlaut an. "Das müsst 
              ihr mir glauben! Aber ausgerechnet heute wollte er unbedingt dabei 
              sein. Er hat mir versprochen, dass er nur zuhören und sich 
              die ganze Zeit still hinter der Kommode versteckt halten würde. 
              Weiß der Teufel, warum er so dringend hier sein will!" 
             Die Kinder starren das Wesen an und sagen nichts. Vielleicht haben 
              sie Angst, das Biest mit einer falschen Bemerkung zu reizen?
             "Weiß jemand, was das für ein Wesen ist?" 
              fragt Albert nach einer Weile.
             "Ein tollwütiges Wildschwein!" ruft ein Junge, der 
              etwas abseits in sicherer Entfernung steht.
             "Hä? Ein Wildschwein? Das ist doch kein Wildschwein!" 
              traut sich das große, dünne Mädchen zu sagen. "Sieh 
              dir doch mal seinen zackigen Schwanz an! Und wo ist der Rüssel?!" 
             "Dann ist das eben ein mutierter Hund!" antwortet der 
              Junge. "Vielleicht ein besonders hässlicher Wolfshund?"
             "Ja, eher ein Wolfshund!" stimmen ein paar Kinder zu.
             "Irgendwo habe ich so etwas schon einmal gesehen!" meint 
              Max.
             "Wahrscheinlich in dem Werwolf-Film, den wir neulich bei Taron 
              gesehen haben", sagt sein Freund Jonas neben ihm. "Das 
              ist sicher ein Werwolf!" 
             "Und warum sieht er dann so lieb aus?" fragt das kleine 
              Mädchen.
             "Lieb?!" sagt Jonas. "Der sieht doch nicht lieb 
              aus! Sieh dir mal sein Maul und seine Klauen an!" 
             "Ich glaube, sie hat irgendwie trotzdem Recht", sagt 
              Max nachdenklich und fährt nach einer Weile fort: "Weißt 
              du was? Ich glaube, das ist Rossipotti!" 
             "Rossipotti?!" sagt Jonas entsetzt. "Bist du bekloppt? 
              Rossipotti ist ein Krokodil und kein Werwolf!" 
             "Selber bekloppt!" sagt Max. "Der ist genauso rot 
              wie Rossipotti und seine Augen erinnern mich auch an ihn!" 
             Bevor die beiden weiter mit Schimpfwörtern um sich werfen, 
              schaltet sich Albert ein: "Ihr habt beide Recht! Zum einen 
              ist dieses Wesen hier tatsächlich Rossipotti, zum anderen aber 
              auch ein Wolf. Insgesamt ist das Wesen also tatsächlich eine 
              Art Werwolf. Allerdings nennt er sich selbst nicht Werwolf 
              sondern Wolpot." 
             "Was?!" fragt Max. "Wieso ist Rossipotti plötzlich 
              ein Wolpot?! Das ist doch albern!" 
             "Albern?" knurrt der Wolpot 
              und überrascht alle damit, dass ein so wild aussehendes Biest 
              reden kann. Mit böse klingender Stimme fährt der Wolpot 
              fort: "Dass ich ein Wolpot geworden bin, 
              ist nicht albern, sondern das einzig richtige, was mir passieren 
              konnte! Noch nie habe ich so aufregende Jagdgelüste gehabt 
              wie jetzt! Noch nie habe ich so delikates Fleisch gekostet! Und 
              weißt du was? Am liebsten würde ich euch alle auf der 
              Stelle zerfetzen und mich in eurem Blut suhlen!" 
             Max und Jonas treten erschrocken einen Schritt zurück und 
              sehen hilfesuchend zu Albert. Doch Albert zuckt nur mit den Schultern. 
             "Albert hat Recht", zischt 
              der Wolpot. "Ich wollte heute unbedingt 
              hier sein. Aber nicht, um still in der Ecke zu sitzen, sondern um 
              ihm ordentlich ins Handwerk zu pfuschen! Ich habe nur auf den richtigen 
              Augenblick gewartet, um ihm sein fades Geschwätz über 
              Bücher um die Ohren zu hauen. Aber leider ist mir diese jämmerliche 
              Palmina dazwischen gekommen, die mir mit ihrem bleichen Gesicht 
              alles verdorben hat. Aber egal. Dann sage ich euch eben hier und 
              jetzt, was ich als Wolpot gelernt habe: Glaubt mir, Bücher 
              sind das Geschmacklosestes, was ihr essen könnt! 
              Mein Hirn muss umnebelt gewesen sein, als ich Bücher als Leckerbissen 
              bezeichnet habe! Was ist erfundene Dichtung gegen echtes Fleisch! 
              Phantasie und Literatur bringt dich nur auf ängstliche Gedanken, 
              die dich am Ende nicht mehr aus dem Haus gehen lassen, vor Angst, 
              dir könnte ein Meteorit auf den Kopf fallen! Wirkliches Fleisch 
              dagegen stärkt deinen Körper und stählt deine Muskeln. 
              Übrigens schmeckt mir persönlich frisches Fleisch am besten! 
              Das Blut spritzt dann so schön und läuft einem warm die 
              Lefzen runter!" 
             "Argh!" macht Palmina und würgt sich.  
              Ein Fehler, denn so wird der Wolpot wieder auf sie aufmerksam. 
             "Palmina", herrscht der 
              Wolpot sie an, "komm her! Damit ich deinen 
              Angstschweiß besser riechen kann!" 
             Palmina denkt nicht daran, zum Wolpot zu gehen!
              "Palmina, du bist mir etwas schuldig!" 
              knurrt der Wolpot. "Du hast meine große Show vermasselt!" 
              Und bevor Palmina richtig reagieren kann, zerrt der Wolpot einmal 
              kräftig an der Kette und springt auf Palmina zu! 
              "Hilfe!" Die Kinder schreien entsetzt auf und 
              rennen auseinander.
             Palmina bleibt erschrocken vor dem Wolpot stehen. Komischerweise 
              kann sie ihre Glieder nicht bewegen. Was ist nur mit ihr los? 
              Voller Angst fällt ihr Blick auf die Augen des Wolpots. Und 
              da entspannt sie sich etwas. Denn in den Augen erkennt sie Rossipotti! 
              Plötzlich hat sie keine Angst mehr.
             Auch in dem Wolpot geht eine Wandlung vor.  
              "Palmina?" sagt der Wolpot 
              mit veränderter Stimme. "Was tust 
              du hier? Du solltest nicht hier sein! Ich möchte dich nicht 
              in Gefahr bringen! Wenn du länger bleibst, werde ich dich in 
              tausend Stücke reißen. Lauf weg!" 
             Palmina nickt und plötzlich kann sie ihre Beine wieder bewegen. 
              Sie dreht sich um und will gehen. Doch da wimmert der Wolpot auf 
              einmal: "Palmina bleib! Du musst mir 
              helfen! Ich leide schreckliche Qualen! Ich weiß nicht mehr, 
              wer ich bin: Rossipotti oder ein böses Etwas? Das Wesen in 
              mir reißt und zerrt an mir und flüstert mir ein, dass 
              ich eigentlich nur das Gefährliche, Wilde will, alles andere 
              sei unangenehme Verpflichtung und Disziplinierung! Sag, Palmina, 
              hat der Wolpot Recht und Rossipotti ist nur eine Fiktion? Ist der 
              Wolpat dagegen Wirklichkeit?" 
             Palmina zuckt mit den Schultern und dreht sich wieder um. Lange 
              sieht sie den schrecklichen, schrecklichen Wolpot an. Seinen starker 
              Nacken, der wahrscheinlich schon viele Tiere zu Tode geschleudert 
              hat, seine gelben langen Zähne, die stellenweise noch blutig 
              von ihrem letzten Opfer sind. Seine scharfen Krallen, die wohl bei 
              der bloßen Berührung Risse in die Haut ritzen konnten! 
               
              Nur das Rot seines Fells und der kluge, traurige Blick erinnern 
              Palmina noch ein wenig an Rossipotti. Und die Stimme, die sie gerade 
              um Hilfe bat.  
              Aber wer ist dieses Wesen wirklich?  
              Vielleicht hat sich Rossipotti in den letzten Jahren tatsächlich 
              nur zu Kultur und Literatur vergewaltigt und diszipliniert? Vielleicht 
              hätte er in Wirklichkeit schon immer lieber alle zerfetzt? 
              Vielleicht ist Rossipotti eine Fiktion und der Wolpot die wahre 
              Gestalt des roten Krokodils? Woher sollte sie die Antwort 
              wissen? 
             "Du musst mir glauben, Palmina" 
              sagt das doppelzüngige Wesen vor ihr, "ich 
              wollte nicht so werden, wie jetzt. Du musst mir helfen, wieder der 
              zu werden, der ich davor war!" 
             "Und wie soll das gehen?" presst Palmina zwischen den 
              Lippen hervor. "Wie bist du denn so geworden?"
             "Ich habe verschiedene Vermutungen", 
              schnauft der Wolpat mit großer Anstrengung. "Zum 
              einen kann es an den vielen Horrorgeschichten liegen, die ich gelesen 
              habe. Zum anderen habe ich auf der Reise in Graf Grindrachens Burg 
              Wasser aus einem Wolfspfotenabdruck getrunken, weil ich so durstig 
              gewesen bin. Vielleicht bin ich deshalb zum Werwolf geworden? 
              - So ein Quatsch!" fuhr der Wolpot 
              nun wieder mit veränderter, grimmiger Stimme fort: "Wen 
              interessiert schon dieser alte Volksglaube mit der Wolfspfote! Weißt 
              du nicht mehr, wie du verzweifelt versucht hast, einen Drunk herzustellen, 
              der beweisen würde, dass es möglich sei, die dunkle Seite 
              in dir zum Vorschein zu bringen? Eines Tages war es so weit und 
              du hast dir den richtigen Drunk eingeflößt. Dafür 
              bin ich dir sehr dankbar! Und weißt du was?! Zum Dank werde 
              ich uns einen Drunk brauen, der verhindern wird, dass du jemals 
              wieder zu diesem lächerlichen Rossipotti wirst!" 
             Der Wolpot reißt an der Kette und versucht, sich auf Palmina 
              zu stürzen. 
             "Gehe in die Geisterburg und mische 
              einen geeigneten Gegendrunk für mich", krächzt 
              die helle Seite des Wolpats verzweifelt. "Bitte, 
              Palmina, du musst mir helfen!" 
              Die dunkle Seite knurrt gefährlich und fährt die krallenbewehrte 
              Pranke nach Palmina aus. 
             "Das reicht jetzt wirklich!" sagt Albert und zieht mit 
              aller Kraft an der Kette.  
              Der Wolpot knurrt gewaltig, lässt sich erstaunlicherweise aber 
              doch von Albert wieder hinter die Kommode ziehen. Wahrscheinlich 
              ist der schreckliche Wolpot doch noch nicht so stark, wie er es 
              gerne hätte?  
              "Kinder, es tut mir wirklich leid, dass es so weit kommen musste", 
              sagt Albert. "Ich hätte nicht gedacht, dass der Wolpot 
              euch wirklich anfallen will. Ich habe ihm vertraut!" 
             Die Kinder schweigen betreten. Manche nehmen ihre Jacken und gehen 
              wortlos aus dem Raum. Andere stehen in kleinen Grüppchen und 
              fangen an, miteinander zu tuscheln. 
             Vom Wolpot hört man nur noch ein leises Knurren. Wenigstens 
              er scheint sich wieder beruhigt zu haben. 
             Albert schwimmt in seiner Flasche und ist ratlos. Was soll er jetzt 
              mit dem angefangenen literarischen Salon machen? 
              Er glaubt kaum, dass sich die Kinder nach diesem Erlebnis wieder 
              auf den Text konzentrieren wollen. 
              Es war ein großer Fehler gewesen, dem Wolpot zu erlauben, 
              hier her zu kommen! Er hatte zu sehr den Beteuerungen des Wolpots 
              geglaubt, sich still zu verhalten. Er war zu einfältig gewesen. 
              Dabei hätte er es wirklich besser wissen können!  
              Denn aus der Geschichte von Dr. Jekyll 
              und Mr. Hyde wusste er bereits, dass man der dunklen 
              Seite und ihren Einflüsterungen nicht trauen durfte! Auch Dr. 
              Jekyll hatte fälschlicherweise geglaubt, den künstlich 
              herauf beschworenen Mr. Hyde im Griff zu haben! Doch wer war am 
              Ende stärker? Nicht der kluge Dr. Jekyll, sondern der triebhafte, 
              dunkle Mr. Hyde! 
              Albert seufzte. Noch ließ sich der Wolpot von ihm in seine 
              Schranken weisen. Aber wie lange noch?  
              Im Unterschied zu Dr. Jekyll war es für ihn allerdings noch 
              nicht zu spät, klare Konsequenzen zu ziehen! Deshalb würde 
              er jetzt gleich etwas gegen den Wolpot unternehmen! Und er wusste 
              auch schon was ... 
              Zuerst würde er allerdings die Kinder wegschicken, damit sie 
              ihn nicht stören würden.  
              Feierlich sagte er: "Kinder, der literarische Salon ist für 
              heute beendet! Geht bitte nach Hause! Entschuldigt bitte nochmals 
              das Auftauchen des Wolpots! Ich gebe euch mein Ehrenwort, dass ich 
              auf dieser Welt nichts mehr mit ihm zu schaffen habe. Es ist alles 
              vorbei. Ich werde ihn an einen sicheren Ort bringen lassen. Dort 
              ist er in Sicherheit, in völliger Sicherheit; denkt an meine 
              Worte: man wird nie wieder von ihm hören." 
             Palmina schluchzt auf und Max sieht Albert betreten an.  
              Wie wunderlich Albert plötzlich sprach! Und was bedeutete es, 
              dass er den Wolpot "in Sicherheit" bringen würde? 
              Hieß das etwa, dass sie auch Rossipotti nie wieder sehen würden? 
               
              Oder will und kann Albert nur den Wolf in Rossipotti wegsperren? 
              Aber wie will ihm das gelingen? 
              Max würde Albert gerne diese Fragen stellen, aber die Qualle 
              sieht nicht so aus, als ob sie heute noch irgendwelche Erklärungen 
              abgeben würde. 
             Langsam verlassen deshalb schließlich auch Palmina und Max 
              den Salon. 
              Kurz bevor sie durch die Türe treten, hören sie hinter 
              sich den Wolpot grausam lachen: "Kinder, 
              glaubt Albert kein Wort!"  
              Und dann sagt der Wolpot zu Albert etwas, was den beiden das Blut 
              in den Adern gefrieren lässt:  
              "Albert, weißt du nicht mehr, dass 
              Dr. Jekyll mit fast genau deinen Schluss-Worten Mr. Utterson davon 
              überzeugen wollte, Mr. Hyde sei in Sicherheit? Und weißt 
              du nicht mehr, wer von beiden hat am Ende Recht behalten? Dr. Jekyll 
              war es nicht!" 
             * * *
             Die grün markierte Textstelle ist ein Auszug 
              aus: 
             Robert Loius Stevenson: Dr. Jekyll und Mr Hyde. 
              Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1992.  
            
              
              
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