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Rossipottis 11 Uhr Termin

* * *

Die Handschuhe

von Charles Dickens

"Das ist 'ne merkwürdige Geschichte", sagte Inspektor Wield von der Geheimpolizei, der uns zusammen mit den Sergeanten Dornton und Mith eines Juniabends abermals einen Besuch abstattete, "Und ich dachte, Sie möchten sie vielleicht hören. -
Sie betrifft den Mord an einem jungen Frauenzimmer, Elisabeth Grimwood, vor ein paar Jahren da drüben in der Waterloo Road. Sie wurde für gewöhnlich die Gräfin genannt wegen ihres hübschen Aussehens und der stolzen Art ihres Benehmens; und als ich die arme Gräfin (ich hatte mit ihr auf Unterhaltungsfuß gestanden) tot mit durchschnittener Kehle daliegen sah, auf dem Fußboden ihrer Kammer, da flog mir so allerlei Nachdenkliches durch den Kopf, was einen wohl traurig machen kann, dürfen Sie mir glauben.


Illustration: Katja Spitzer

Aber das gehört nicht hierher. Ich ging am Morgen nach der Mordtat in das Haus und untersuchte den Körper, stellte auch eine allgemeine Untersuchung der Kammer an, in der er lag. Wie ich so mit der Hand das Kissen im Bett umdrehte, fand ich darunter ein Paar Handschuhe. Ein Paar Herrenhandschuhe, sehr schmutzig; und inner drin die Buchstaben Tr. und ein Kreuz.
Ich nahm die Handschuhe mit und zeigte sie dem Untersuchungsrichter drüben in Union Hall, dem der Fall vorlag. Er sagte: 'Wield', sagte er, 'da ist kein Zweifel, dies ist eine Entdeckung, die zu etwas sehr Wichtigem führen kann, und was Sie zu tun haben, Wield, ist, den Besitzer dieser Handschuhe ausfindig zu machen.'
Dieser Ansicht war ich natürlich auch und machte mich sofort daran. Ich sah mir die Handschuhe recht hübsch genau an und kam zu der Auffassung, sie wären gereinigt. Sie hatten so 'nen Geruch nach Schwefel und Harz an sich, wissen Sie, den gereinigte Handschuhe für gewöhnlich haben, mehr oder weniger. Ich nahm sie also zu einem meiner Freunde mit nach Kennington, der in diesem Fache arbeitet, und legte sie ihm vor. 'Was sagst du dazu? Sind diese Handschuhe gereinigt?' 'Die Handschuhe sind gereinigt', sagte er. 'Hast du 'ne Ahnung, wer sie gereinigt hat?' 'Nicht die geringste', sagte er. 'Ich habe 'ne sehr bestimmte Ahnung, wer sie nicht gereinigt hat, und das bin ich selbst. Aber ich will dir was sagen, Wield, es gibt in London nicht mehr als acht oder neun ordentliche Handschuhreiniger', damals waren es anscheinend wirklich nicht mehr, - 'und ich denke, ich kann dir ihre Wohnungen angeben, und dadurch kannst du denn ja herausfinden, wer sie gereinigt hat.'
Also er machte mir seinen Angaben, und ich ging hierhin, ich ging dahin und besuchte diesen und besuchte jenen; aber wenn sie auch alle übereinstimmten, die Handschuhe wären gereinigt, konnte ich doch weder Mann noch Frau oder Kind herausfinden, der dies besagte Paar Handschuhe gereinigte hatte.
Und wie nun so der eine nicht zu Hause war, und der andere erst nachmittags zurückerwartet wurde und so weiter, kostete mich die Nachforschung drei Tage. Als ich am Abend des dritten Tages ganz tot von der Surrey-Seite des Flusses über die Waterloo-Brücke komme und ganz verärgert und entmutigt bin, da denke ich, ich könnte mir wohl so für 'ne Mark ein kleines Vergnügen im Lyzeum-Theater gönnen, um mich etwas aufzufrischen. Also ging ich ins Parterre, zu halbem Preis, und setzt mich neben einen sehr ruhigen, bescheidenen jungen Mann. Als der sah, dass ich fremd war (ich dachte, es wäre ebenso gut, so zu tun) nannte er mir die Namen der Schauspieler auf der Bühne, und wir kamen in Unterhaltung. Als die Vorstellung aus war, gingen wir zusammen nach draußen, und ich sagte: 'Wir sind so gut miteinander ausgekommen, vielleicht würden Sie nichts gegen einen Kleinen einzuwenden haben?' 'Na, Sie sind sehr freundlich', sagte er. 'Ich hätte nichts dagegen einzuwenden.' Also gingen wir in ein Wirtshaus nahe beim Theater, setzten uns oben im ersten Stock in ein ruhiges Zimmer und bestellten uns jeder einen halben Liter Halb-und-Halb und 'ne Pfeife.
Wir nahmen also unsere Pfeifen an Bord und tranken unser Halb-und-Halb und saßen da und schwatzten sehr behaglich, als der junge Mann sagt: 'Sie müssen entschuldigen, wenn ich nicht sehr lange bleibe', sagt er, 'denn ich muss früh nach Hause. Ich muss die ganze Nacht durcharbeiten.' 'Die ganze Nacht durcharbeiten?' Sage ich: 'Sind Sie Bäcker?' 'Nein', sagt er und lacht; 'Bäcker bin ich nicht.' 'Das dachte ich mir doch, Sie sehen gar nicht aus wie ein Bäcker.' 'Nein', sagte er, 'ich bin Handschuhreiniger!'
In meinem Leben war ich nicht so erstaunt, als wie ich diese Worte über seine Lippen kommen hörte. 'Sie sind Handschhuhreiniger?' sage ich. 'Ja', sagte er, 'das bin ich.' 'Dann', sagte ich und hole die Handschuhe aus meiner Tasche, 'können Sie mir vielleicht sagen, wer diese Handschuhe gereinigt hat? Es ist 'ne sonderbare Geschichte', sagte ich. 'Ich aß neulich drüben in Lambeth zu Abend - 'ne lustige Kneipe war es - ganz gemischt - Zutritt frei - und da ließ ein Herr diese Handschuhe liegen! Nun, sehen Sie, da haben ein anderer Herr und ich um 20 Mark gewettet, dass ich herauskriegen wollte, wem sie gehörten. Sieben Mark habe ich schon ausgegeben bei meinen Versuchen, ihn aufzufinden; aber wenn Sie mir helfen würden, würde ich noch mal sieben Mark ausgeben und das gern. Sehen Sie, da steht Tr. Und ein Kreuz drin.' 'Ich sehe', sagt er. 'Lieber Gott, die Handschuhe kenn ich sehr gut! Dutzende habe ich gesehen, die alle demselben Kunden gehörten.' 'Nein?' sagte ich. 'Dann wissen Sie, wer sie gereinigt hat?' sage ich. 'So ziemlich', sagte er. 'Mein Vater hat sie gereinigt.' 'Wo wohnt denn Ihr Vater?' sagte ich. 'Gerade um die Ecke', sagte der junge Mann, 'hier, bei der Exeter-Straße. Der wird Ihnen sofort sagen, wem sie gehören.' 'Würden Sie jetzt gleich mit mir herumgehen?' sagte ich. 'Gewiss'; sagte er, 'aber Sie brauchen meinem Vater nicht sagen, dass Sie mich im Theater getroffen haben, wissen Sie, weil er das vielleicht nicht gern hat.' 'Schön!' Wir gingen also nach der Wohnung und fanden dort einen alten Mann in weißer Schürze, mit zwei oder drei Töchtern, alle in einem Vorderzimmer auf ganze Haufen von Handschuhe drauflos reibend und waschend. 'O, Vater!' sagte der junge Mann, 'hier hat jemand gewettet, wem diese Handschuhe wohl gehörten und ich hab' ihm gesagt, du könntest das feststellen.' 'Guten Abend, Herr', sagte ich zu dem alten Mann. 'hier sind die Handschuhe, von denen Ihr Sohn gesprochen hat. Die Buchstaben Tr., sehen Sie, und ein Kreuz'. 'O ja', sagt er. 'Die Handschuhe kenne ich sehr gut; von denen habe ich Dutzende von Paaren gereinigt. Sie gehören Herrn Trinkle, dem großen Möbelhändler in Cheapside.' 'Haben Sie sie unmittelbar von Herrn Trinkle bekommen', sagte ich, 'wenn Sie die Frage entschuldigen wollen?' 'Nein', sagt er; 'Herr Trinkle schickt sie immer zu Herrn Phibbs, dem Schnittwarenhändler, seinem eigenen Laden gegenüber, und der Schnittwarenhändler schickt sie zu mir.' 'Vielleicht hätten Sie auch nichts gegen einen Kleinen einzuwenden?' sagte ich. 'Ganz und gar nicht!', sagte er.
So nahm ich den alten Herrn mit und unterhielt mich mit ihm und seinem Sohn bei einem Glas, und wir schieden als ausgezeichnete Freunde.
Das war Sonnabendabend spät. Als erstes am Montagmorgen ging ich in den Laden des Schnittwarenhändlers, Herrn Trinkle, dem großen Möbelhändler in Cheapside gegenüber. 'Herr Phibbs zufällig zugegen?' 'Mein Name ist Phibbs.' 'O! ich glaube, Sie haben dieses Paar Handschuhe zum Reinigen geschickt?' 'Ja, das habe ich, für den jungen Herrn Trinkle drüben auf der anderen Seite. Da steht er im Laden.'
'O! Der da im Laden, ist er das? Der in dem grünen Rock?' 'Ganz derselbe.' 'Ja, Herr Phibbs, dies ist 'ne eigentümliche Geschichte; in Wirklichkeit bin ich nämlich Inspektor Wield von der Geheimpolizei und habe diese Handschuhe unter dem Kopfkissen der jungen Person gefunden, die da neulich in der Waterloo Road ermordet wurde.' 'Gerechter Himmel!' sagt er. 'Es ist ein hochachtbarer junger Mann, und wenn sein Vater das zu hören kriegte, den würde das zugrunde richten!'
'Es tut mir furchtbar leid', sagte ich, 'aber ich muss ihn verhaften.' 'Gerechter Himmel', sagte Herr Phibbs abermals; 'kann da nichts gemacht werden?' 'Nichts', sage ich. 'Wollen Sie mir erlauben', sagte er, 'dass ich ihn hier herüberrufe, damit sein Vater nichts davon merkt?' 'Dagegen habe ich nichts einzuwenden', sagte ich. 'Unglücklicherweise aber darf ich keinerlei Unterhaltung zwischen Ihnen gestatten. Wenn das versucht würde, müsste ich sofort einschreiten. Vielleicht können Sie ihn herüberwinken?'
Herr Phibbs ging an die Tür und winkte, und der junge Mensch kam sofort über die Straße; ein aufgeweckter, frischer junger Bursche.
'Guten Morgen, Herr', sagte ich. 'Guten Morgen, Herr', sagte er. 'Würden Sie mir wohl die Frage gestatten', sagte ich, 'ob Sie mit jemand namens Grimwood bekannt sind?' 'Grimwood! Grimwood!' sagte er. ‚Nein!' 'Kennen Sie die Waterloo Road?' 'O, natürlich kenn ich die Waterloo Road!' 'Haben Sie zufällig davon gehört, dass dort ein junges Frauenzimmer ermordet worden ist?' 'Ja, das habe ich in der Zeitung gelesen, und es hat mir sehr leid getan, als ich's las.' 'Hier ist ein Paar Handschuhe, die Ihnen gehören, und ich fand sie am Morgen nachher unter ihrem Kopfkissen.'
Er war in einer schrecklichen Verfassung! 'Herr Wield', sagte er, 'bei meinem heiligen Eid, ich bin nie da gewesen. Soviel ich weiß, habe ich sie nie in meinem Leben gesehen!' 'Es tut mir sehr leid', sagte ich. 'Die Wahrheit zu sagen, ich glaube nicht, das Sie der Mörder sind, aber ich muss Sie in einem Wagen nach Union Hall bringen. Ich glaube indessen, es handelt sich um einen Fall, wo Sie der Untersuchungsrichter, im Augenblick noch, außeramtlich vernehmen wird!'
Eine außeramtliche Vernehmung fand statt, und da kam es denn heraus, dass dieser junge Mann mit einer Kusine der unglücklichen Elisabeth Grimwood bekannt war, und dass er bei einem Besuch bei dieser Kusine zwei oder drei Tage vorher diese Handschuhe dort auf dem Tisch hatte liegen lassen. Wer anders musste gleich darauf hereinkommen, als Elisabeth Grimwood. 'Wem gehören diese Handschuhe?' sagte sie und nahm sie auf. 'Das sind Herrn Trinkle seine', sagte ihre Kusine. 'O', sagte sie, 'sie sind sehr schmutzig und nutzen ihm doch nichts mehr. Ich werde sie mitnehmen und sie meinem Mädchen zum Ofenputzen geben.' Und steckte sie in die Tasche. Das Mädchen hatte sie zum Ofenputzen gebraucht und, wie ich nicht bezweifle, sie auf dem Kamin im Schlafzimmer liegen lassen, oder auf der Kommode, oder sonst wo; und ihre Herrin hatte sie, als sie nachsah, ob das Zimmer in Ordnung wäre, da aufgenommen und unter ihr Kissen gesteckt, wo ich sie dann fand.
Das ist die Geschichte, Herr."

Charles Dickens: Die Handschuhe. Übersetzt von Franz Franzius. Lotterie der Internationalen Presse-Ausstellung. Köln 1928.

* * *

Die schwarze Katze

von Edgar Allan Poe:

Dass man den so unheimlichen und doch so natürlichen Geschehnissen, die ich jetzt berichten will, Glauben schenkt, erwarte ich nicht, verlange es auch nicht. Ich müsste wirklich wahnsinnig sein, wenn ich da Glauben verlangen wollte, wo ich selbst das Zeugnis meiner eigenen Sinne verwerfen möchte. Doch wahnsinnig bin ich nicht - und sicherlich träume ich auch nicht. Morgen aber muss ich sterben, und darum will ich heute meine Seele entlasten. Aller Welt will ich kurz und sachlich eine Reihe von rein häuslichen Begebenheiten enthüllen, deren Wirkungen mich entsetzt - gemartert - vernichtet haben. Ich will jedoch nicht versuchen, sie zu deuten. Mir brachten sie die fürchterlichste Qual - anderen werden sie vielleicht nicht mehr scheinen als groteske Zufälligkeiten. Es ist wohl möglich, dass später einmal irgendein besonderer Geist sich findet, der meine anscheinend phantastischen Berichte als nüchterne Selbstverständlichkeiten zu erklären vermag - ein klarer und scharfer Geist, weniger exaltiert als ich, der in den Umständen, die ich mit bebender Scheu enthülle, nichts weiter sieht als die einfache Folge ganz natürlicher Ursachen und Wirkungen.
Seit meiner Kindheit galt ich als ein weichherziger, anschmiegsamer Mensch. Ja, meine hingebende Herzlichkeit trat so offen hervor, dass sie oft den Spott meiner Kameraden herausforderte. Da ich eine ganz besondere Zuneigung für die Tiere empfand, beglückten mich meine Eltern gern mit allerlei Lieblingen. Mit diesen verbrachte ich all meine freie Zeit, und nie war ich glücklicher, als wenn ich sie fütterte und liebkoste. Diese Liebhaberei wuchs mit mir heran, und noch im Mannesalter war sie mir eine Hauptquelle meiner Freuden. Wer jemals für einen treuen und klugen Hund wahre Zärtlichkeit hegte, den brauch ich nicht auf die innige Dankbarkeit, die das Tier uns dafür entgegenbringt, hinzuweisen. In der selbstlosen und opferfreudigen Liebe eines Tieres ist etwas, das jedem tief zu Herzen gehen muss, der je Gelegenheit hatte, die armselige "Freundschaft" und geschwätzige Treue des "erhabenen" Menschen zu erproben.
Ich heiratete früh und war herzlich froh, in meinem Weib ein mir verwandtes Gemüt zu finden. Als sie meine Liebhaberei für allerlei zahmes Getier erkannt hatte, versäumte sie keine Gelegenheit, solche Hausgenossen der angenehmsten Art anzuschaffen. Wir besaßen Vögel, Goldfische, einen schönen Hund, Kaninchen, einen kleinen Affen und - eine Katze.
Diese letzte war ein auffallend großes und schönes Tier, ganz schwarz und erstaunlich klug. Wenn wir auf ihre Intelligenz zu sprechen kamen, gedachte meine Frau, die übrigens nicht im geringsten abergläubisch war, manchmal des alten Volksglaubens, dass Hexen oft die Gestalt schwarzer Katzen anzunehmen pflegen. Nicht, dass sie damit jemals eine ernstliche Anspielung hätte machen wollen - ich erwähne es nur, weil ich gerade jetzt daran dachte.
Die Katze war mein bevorzugter Freund und Spielkamerad. Ich selbst fütterte sie, und wo ich im Hause stand und ging, was sie bei mir. Nur schwer konnte ich sie davon zurückhalten, mir auch auf die Straße zu folgen.
So bestand und bewährte sich unsere Freundschaft mehrere Jahre lang. In dieser Zeit aber hatte mein Charakter infolge meiner teuflischen Trunksucht - ich erröte bei diesem Bekenntnis - eine völlige Wandlung zum Bösen durchgemacht. Ich wurde von Tag zu Tag mürrischer, reizbarer, rücksichtsloser gegen die Gefühle anderer. Ich erlaubte mir selbst meiner Frau gegenüber rohe Worte. Schließlich schlug ich sie sogar. Meine Tiere mussten unter meiner Verkommenheit selbstverständlich ganz besonders leiden. Ich vernachlässigte sie nicht nur, sondern misshandelte sie auch. Auf die Katze indessen nahm ich noch immer so viel Rücksicht, dass ich sie nicht ebenso schlecht behandelte wie die Kaninchen, den Affen und auch den Hund, die ich bei jeder Gelegenheit misshandelte, wenn sie mir zufällig oder aus alter Anhänglichkeit in den Weg liefen. Doch mein Leiden wuchs - denn welches Leiden ist lebenszäher als der Hang zum Alkohol! - und endlich musste selbst die Katze, die jetzt alt und daher etwas grämlich zu werden begann, die Ausbrüche meiner Übellaunigkeit fühlen.
Eines Nachts, als ich schwer betrunken aus einer meiner Schnapsspelunken nach Hause kam, schien es mir so, als ob die Katze mir auswiche. Ich packte sie - und da, wahrscheinlich erschreckt durch meine Heftigkeit, riss sie mir mit den Zähnen einen leichte Schramme über die Hand. Im Augenblick geriet ich in wahnsinnige Wut. Ich war nicht mehr ich selbst. Mein wahres Wesen war plötzlich entflohen und an seiner Stelle spannte eine viehische, trunkene Bosheit jeden Nerv in mir. Ich nahm aus der Westentasche ein Federmesser, öffnete es, riss das arme Tier am Halse empor und bohrte bedachtsam eines seiner Augen aus seiner Höhle heraus! - Die brennende Glut der Scham und kalte Schauer des Entsetzens überfallen mich jetzt, da ich jener höllischen Verruchtheit gedenke.
Am anderen Morgen, nachdem ich meinen Rausch verschlafen hatte und mir die Vernunft zurückgekehrt war, empfand ich halb Grauen, halb Reue über das Verbrechen, dessen ich mich schuldig gemacht hatte; aber es war nur ein schwaches, oberflächliches Gefühl, und meine Seele blieb unbewegt. Ich stürzte mich aufs neue in wüste Ausschweifungen, und bald war im Wein jede Erinnerung an meine Untat ersäuft.
Inzwischen erholte sich die Katze langsam. Die leere Augenhöhle bot allerdings einen schrecklichen Anblick, aber Schmerzen schien das Tier nicht mehr zu haben. Wie früher ging es im Hause umher, floh aber, wie nicht anders zu erwarten war, in wahnsinniger Angst davon, sobald ich in seine Nähe kam. Es war mir noch immer so viel von meinem Gefühl geblieben, dass ich diese offenbare Abneigung eines Geschöpfes, das ich vordem so geliebt hatte, anfangs als schmerzlich empfand. Doch dieses Empfinden wich bald einem anderen - der Erbitterung.
Und dann kam, wie zu meiner endgültigen und unaufhaltsamen Vernichtung, noch der Geist des Eigensinns hinzu,. Diesen Geist beachtet die Philosophie nicht, und dennoch bin ich wie von dem Leben meiner Seele davon überzeugt, dass Eigensinn eine der ursprünglichsten Regungen des menschlichen Wesens ist - eine der elementaren, primären Eigenschaften oder Empfindungen, die dem Charakter des Menschen seine Richtung geben. Wer hat nicht schon hundertmal eine gemeine oder dumme Handlung begangen, einzig und allein, weil er wusste, dass er eigentlich nicht so handeln solle! Haben wir nicht eine beständige Neigung, das Gesetz zu übertreten, nur weil wir eben wissen, dass es "Gesetz" ist? Ich sage, dieser Geist des Eigensinns war es, der mich endgültig umwarf. Es war jene unergründliche Gier der Seele, sich selbst zu quälen und im Trotz gegen ihre erhabene Reinheit allein um des Bösen willen das Böse zu tun, die mich antrieb, meine Schuld an der wehrlosen Katze noch zu erweitern, soweit nur eben möglich. So legte ich ihr eines Morgens eine Schlinge um den Hals und knüpfte sie an einem Baumast auf; ich erhängte sie unter strömenden Tränen und bittersten Gewissensqualen; erhängte sie, eben will ich wusste, dass sie mich geliebt hatte, und weil ich fühlte, dass sie mir keinen Grund zu dieser Greueltat gegeben hatte; erhängte sie, weil ich wusste, dass ich damit eine Sünde beging - eine Todsünde, die meine unsterbliche Seele so befleckte, dass, wenn irgendeine Sünde nicht vergeben werden könnte, die unendliche Gnade des allbarmherzigen Gottes sich meiner Seele nicht erbarmen könnte.
In der auf diese grausame Tat folgenden Nacht wurde ich durch Feuerlärm aus dem Schlafe aufgeschreckt. Meine Bettvorhänge brannten. Das ganze Haus stand in Flammen. Mit knapper Not entrannen wir, meine Frau, unsere Magd und ich, dem Feuertode. Alles wurde vernichtet. Meine ganze irdische Habe war dahin, und ich überließ mich von nun an haltloser Verzweiflung.
Ich habe nicht die Schwäche, zwischen meiner Schandtat und diesem Unglück einen Zusammenhang, wie etwa Ursache und Wirkung, suchen zu wollen. Da ich aber eine Kette von Tatsachen anführe, so glaube ich, auch das allerkleinste Glied nicht unerwähnt lassen zu dürfen. Am Tage nach dem Brande besichtigte ich die Trümmerstätte.
Die Mauern waren bis auf eine eingestürzt. Dies war eine nicht sehr starke Scheidewand, ungefähr aus der Mitte des Hauses, an der das Kopfende meines Bettes gestanden war. Sie hatte die Einwirkung des Feuers hartnäckig überdauert, eine Tatsache, die ich dem Umstande zuschrieb, dass dort der Bewurf erst kürzlich erneuert worden war. Vor dieser Mauer stand eine dichte Menschenmenge, und einzelne Personen schienen eine bestimmte Stelle eingehend und aufmerksam zu untersuchen. Die Worte "sonderbar!" "seltsam!" und andere ähnliche Ausrufe erregten meine Neugier. Ich trat heran - und sah auf die helle Fläche eingedrückt das Reliefbild einer großen Katze. Der Abdruck war erstaunlich naturgetreu. Um den Hals des Tieres lag ein Strick.
Als ich zuerst diesen Höllenspuk erblickte - denn für etwas anderes konnte ich es nicht halten -, geriet ich außer mir vor Staunen und Entsetzen. Schließlich aber kam die Überlegung zu Hilfe. Der Garten, in dem ich die Katze erhängt hatte, lag dicht bei dem Hause. Auf den Feuerlärm hin war sofort eine Menschenmenge in den Garten eingedrungen, und irgendeiner musste dort das Tier abgeschnitten und durch das offenstehende Fenster in mein Zimmer geworfen haben, wahrscheinlich in der guten Absicht, mich dadurch aus dem Schlaf zu wecken. Durch stürzendes Mauerwerk war das Opfer meiner Grausamkeit in die Masse des frisch aufgetragenen Bewurfs eingedrückt worden, und der Kalk dieses letzteren, in Verbindung mit der Brandglut und dem Ammoniak des Kadavers, hatte dann das Reliefbild so wunderbar geprägt, wie es nun zu sehen war.
Obgleich ich dieser eigenen, vernünftigen Erklärung bereitwillig Glauben schenkte, konnte mein Gewissen sich nicht so leicht beruhigen, und das Ereignis lastete schwer auf meiner Seele. Monatelang beschäftigte sich meine Phantasie mit der Katze, und es erwachte in mir ein Gefühl, das beinahe Reue sein konnte. Es kam so weit, dass ich den Verlust des Tieres bedauerte und mich in den Spelunken, in denen ich mich jetzt meistens herumtrieb, nach einer anderen Katze umsah, die der gemordeten möglichst ähnlich sein und deren Platz bei mir ausfüllen sollte.
Als ich einmal in der Nacht halb stumpfsinnig vor Trunkenheit in einer ganz gemeinen Schnapskneipe saß, wurde ich plötzlich auf einen schwarzen Gegenstand aufmerksam, der oben auf einem riesenhaften Oxhoft Branntwein oder Rum, dem Hauptmöbel der dunstigen Höhle, thronte. Da ich schon einige Minuten lang stier auf die Höhe des Fasses geblickt hatte, war ich jetzt erstaunt darüber, dass ich den Gegenstand dort oben nicht schon früher bemerkt hatte. Es war eine schwarze Katze - eine sehr große - gerade so groß wie die ermordete und dieser auch in allem ähnlich - bis auf eins: die meine hatte nicht ein einziges weißes Haar am ganzen Körper, diese Katze aber hatte einen großen, allerdings nicht scharf abgegrenzten weißen Fleck, der fast die ganze Brust bedeckte.
Als ich sie berührte, erhob sie sich sofort, schnurrte laut, rieb sich an meiner Hand und schien von der Beobachtung, die ich ihr schenkte, entzückt zu sein. Das war also ganz ein Geschöpf wie ich es suchte. Ich bot dem Wirt sofort an, ihm das Tier abzukaufen; der aber erhob keinen Anspruch auf die Katze: er kenne sie gar nicht - habe sie nie vorher gesehen.
Ich liebkoste das Tier, und als ich mich zum Heimgehen anschickte, zeigte es Lust, mich zu begleiten. Das erlaubte ich ihm. Unterwegs beugte ich mich manchmal zu ihm nieder und streichelte es. In meinem Hause fühlte sich die Katze sofort heimisch, und auch mit meiner Frau war sie vom ersten Tage an sehr befreundet.
In mir aber regte sich bald eine Abneigung gegen die Katze; das war gerade das Gegenteil dessen, was ich erwartet hatte, aber - ich weiß nicht, wie und weshalb es so kam - ihre aufdringliche Liebe zu mir war mir unangenehm, ja sogar zuwider. Nach und nach steigerte sich das Gefühl der Abneigung und des Ekels bis zu bitterstem Hass. Ich ging dem Vieh aus dem Wege; was mich davon zurückhielt, es zu misshandeln, waren allein ein gewisses Schamgefühl und die Erinnerung an meine frühere Greueltat. Einige Wochen lang konnte ich mich noch so weit beherrschen, die Katze weder zu schlagen noch sonst wie absichtlich schlecht zu behandeln, aber allmählich - mit jedem Tage mehr - sah ich sie nur noch mit unaussprechlichem Abscheu und floh bei ihrem unerträglichen Anblick so entsetzt davon wie vor dem Gifthauch der Pestilenz.
Was meinem Hass gegen das Katzenvieh zweifellos genährt hatte, war eine Entdeckung gewesen, die ich sofort, nachdem ich es zu mir genommen, gemacht hatte - die Entdeckung, dass es, wie einst die erste Katze, um eins seiner Augen beraubt war. Für meine Frau hingegen, die, wie ich schon sagte, jene unendliche Herzensgüte besaß, die auch mich einst auszeichnete und mir viel reine und harmlose Freuden gebracht hatte, war dies nur ein Grund mehr, das Tier zu lieben.
Mit meiner Abneigung gegen die Katze schien deren Vorliebe für mich nur zu wachsen. Sie folgte meinen Schritten mit einer unbeschreiblichen Beharrlichkeit, von der man sich kaum einen Begriff machen kann. Wenn ich mich setzte, kroch sie unter meinen Stuhl oder sprang auf meine Knie und belästigte mich mit ihren widerwärtigen Liebkosungen. Wenn ich aufstand, um fortzugehen, lief sie mir zwischen die Beine, so dass ich in Gefahr geriet, hinzufallen, oder sie hing sich mit ihren langen und scharfen Krallen in meine Kleider und kletterte mir bist zu Brust herauf. Trotzdem ich mich dann stets versucht fühlte, sie mit einem Faustschlag umzubringen, schreckte ich doch davor zurück, teils im Gedenken an mein früheres Verbrechen, hauptsächlich aber - ich will es nur gleich bekennen - aus sinnloser Angst vor der Bestie.
Diese Angst war nicht gerade Furcht davor, dass mir das Tier irgendeine Verletzung zufügen könnte, aber ich wüsste auch nicht, wie ich sie anders erklären sollte. Ich kann nur mit Beschämung gestehen - ja, selbst in dieser Verbrecherzelle schäme ich mich dessen -, dass die Gefühle des Schreckens und Entsetzens, die das Tier in mir hervorrief, durch ein Hirngespinst, wie man sich kaum eins närrischer denken kann, maßlos gesteigert wurden. Meine Frau hatte mich mehr als einmal auf die Form des weißen Brustfleckes aufmerksam gemacht, von dem ich bereits gesprochen habe und der das einzig sichtbare Unterscheidungsmerkmal zwischen dieser fremden und der von mir umgebrachten Katze bildete. Man wird sich meiner obigen Beschreibung entsinnen, wonach dieser Fleck, obschon er ziemlich groß war, ursprünglich nur undeutlich hervortrat; doch nach und nach, in kaum merklich fortschreitendem Wachstum - einem Vorgang, den meine Vernunft lange Zeit als reine Augentäuschung zu verwerfen strebte - wurde dieses Zeichen in scharfen Umrissen deutlich sichtbar. Es hatte nun die Form eines Gegenstandes, den ich nur mit Grausen nenne und dessen Abbild mich mehr als alles andere schreckte und entsetzte, so dass ich das Scheusal am liebsten umgebracht hätte, wenn ich nur den Mut dazu hätte finden können. Es war das Bild - so sei es denn herausgesagt - eines unheimlichen, eines fürchterlichen Dinges - eines Galgens! - O schrecklich drohendes Werkzeug des greuelhaften Mordens - des martervollen Todes!
Und jetzt war ich wirklich elend - elend weit über alles Menschenelend hinaus. Und ein vernunftloses Vieh - von dessen Geschlecht ich eines verächtlich umgebracht hatte - ein vernunftloses Vieh konnte mich - mich, den Menschen, das Ebenbild Gottes - so unsäglich elend machen! Ach, ich kannte nicht mehr den Segen der Ruhe, weder bei Tag noch bei Nacht! Bei Tage ließ das Tier mich nicht einen Augenblick allein, und in der Nacht fuhr ich fast jede Stunde aus qualvollen Angstträumen empor, um den heißen Atem des Viehes über mein Gesicht wehen zu fühlen und den Druck seines schweren Gewichts - wie die Verkörperung eines grässlichen Alpgespenstes, das ich nicht abzuschütteln vermochte - auf meiner Brust zu tragen.
Unter der Wucht solcher Qualen erlag in mir der schwache Rest des Guten. Böse Gedanken wurden die vertrauten meiner Seele - schwarze, ekle Höllengedanken! Meine bisherige Stimmung schwoll an zu bösem Hass gegen alles in der Welt und gegen die ganze Menschheit; und meistens war es, ach! mein schweigend duldendes Weib, das nun das unglückliche Opfer meiner häufigen, plötzlichen und zügellosen Wutausbrüche wurde.
Eines Tages begleitet sie mich irgendeines häuslichen Geschäftes wegen in den Keller des alten Gebäudes, das wir in unserer Armut zu bewohnen genötigt waren. Die Katze folgte mir die Stufen der steilen Treppe hinab und war mir dabei so hinderlich, dass ich beinahe kopfüber hinuntergestürzt wäre. Das machte mich rasend. In sinnlosem Zorn vergaß ich die kindischen Furcht, die meine Hand bisher zurückgehalten hatte, ergriff eine Axt und führte einen Hieb nach dem Tier, der augenblicklich tödlich gewesen wäre, wenn er sein Ziel getroffen hätte. Aber meine Frau fiel mir in den Arm. Diese Einmischung brachte mich in wahrhaft teuflische Wut. Ich entwand mich ihrem Griff und schlug die Axt tief in ihren Schädel ein. Sie brach lautlos zusammen.
Nachdem dieser grässliche Mord geschehen war, machte ich mich sogleich und mit voller Überlegung daran, den Leichnam zu verbergen. Ich wusste, dass ich ihn weder am Tage noch in der Nacht aus dem Hause schaffen konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, von den Nachbarn beobachtet zu werden. Mancherlei Pläne schossen mir durch den Sinn. Zuerst dachte ich daran, den Körper in kleine Stücke zu zerhacken und sie durch Feuer zu vernichten. Dann beschloss ich, ihm im Boden des Kellers ein Grab zu graben. Ich überlegte mir aber auch, ob ich ihn nicht lieber im Hof in den Brunnen werfen sollte - oder ob ich ihn wie eine Ware in eine mit unauffälligen Aufschriften versehene Kiste packen und diese durch einen Träger fortschaffen lassen sollte. Endlich kam ich auf einen Gedanken, der mir der richtige Ausweg zu sein schien: Ich entschloss mich, die Leiche im Keller einzumauern - ganz so, wie es alten Erzählungen zufolge die Mönchen des Mittelalters mit ihren Opfern gemacht haben mochten.
Zur Ausführung gerade dieses Planes war der Keller sehr geeignet. Die Mauern waren leicht gebaut und erst kürzlich mit einem groben Mörtel beworfen worden, der infolge der Feuchtigkeit der Kellerluft noch nicht hart geworden war. Überdies war an einer der Mauern ein Vorsprung, hinter dem sich ein unbenutzter Rauchschlot oder eine Feuerstelle befand und der neuerdings wieder ausgefüllt und den übrigen Wänden des Kellers gleichgemacht worden war. Ich zweifelte nicht daran, dass es mir leicht möglich sein würde, an dieser Stelle die Ziegelsteine herauszunehmen, den Leichnam in die Höhlung hineinzubringen und die Wand wieder zuzumauern, so dass kein Mensch etwas Verdächtiges entdecken könnte.
Und diese Berechnung täuschte mich nicht. Mit Hilfe eines Brecheisens gelang es mir mühelos, die Steine zu lockern, nachdem ich den Leichnam mit aller Vorsicht aufrecht gegen die innere Wand gelehnt hatte, stützte ich ihn in dieser Stellung fest und füllte das Mauerloch ohne Schwierigkeit wieder aus, genau so, wie es zuvor gewesen war. Ich hatte mir in aller Stille Mörtel, Sand und Haar zu verschaffen gewusst und stellte daraus einen Bewurf her, der von dem der anderen Wände nicht zu unterscheiden war; mit ihm bestrich ich sehr sorgfältig die neue Vermauerung. Als ich damit fertig war, fand ich zu meiner Befriedigung, dass nun alles in Ordnung sei. Man sah der Mauer nicht im geringsten an, dass sie aufgebrochen worden war. Den Schutt am Boden hatte ich mit peinlichster Sorgfalt entfernt. Triumphierend sah ich auf mein Werk und sagte zu mir selbst: "Hier wenigstens ist deine Arbeit nicht umsonst gewesen."
Das nächste, was ich nun tat, war, mich nach der Bestie umzusehen, die so viel Elend veranlasst hatte, denn ich hatte ihr inzwischen längst das Urteil gesprochen: sie musste sterben! Hätte sie sich jetzt vor mir blicken lassen, so wäre es zweifellos sofort um sie geschehen gewesen; aber es schien, als ob das verschlagene Tier, noch beunruhigt durch meinen heftigen Wutausfall, es mit Absicht vermied, mir in meiner gegenwärtigen Stimmung vor die Augen zu kommen. Es ist unmöglich, zu beschreiben oder auch nur sich vorzustellen, wie tief beruhigend das Gefühl der Erlösung war, das ich über die Abwesenheit der verhassten Katze empfand. Auch in der Nacht ließ sie sich nicht blicken - und so schlief ich, seitdem ich sie in mein Haus gebracht hatte, wenigstens eine Nacht hindurch tief und ruhig; ja, ich schlief, selbst mit der Last des Mordes auf der Seele.
Der zweite und der dritte Tag vergingen, ohne dass mein Quälgeist zurückkehrte. Ich atmete wieder auf wie ein Befreiter. Der Schrecken hatte das Ungeheuer für immer vertrieben. Ich sollte es nie mehr erblicken! Meine Seligkeit war grenzenlos! Das Bewusstsein meiner schwarzen Tat störte mich nur wenig. Ein paar Nachfragen, die erhoben worden waren, hatte ich schlagfertig beantwortet. Selbst eine Haussuchung hatte stattgefunden - aber natürlich war nichts zu entdecken gewesen. Ich brauchte also für die Zukunft nichts mehr zu befürchten.
Am vierten Tage nach dem spurlosen Verschwinden meiner Frau kam ganz unerwartet eine Polizeikommission und begann von neuem alle Räumlichkeiten gründlich zu durchsuchen. Ich war jedoch nicht im geringsten darüber beunruhigt, da ich sicher war, dass die Leiche in ihrem geheimen Versteck nicht entdeckt werden konnte. Die Beamten forderten mich auf, sie bei der Durchsuchung zu begleiten. Sie übersahen keinen Winkel, kein Versteck. Schließlich stiegen sie zum dritten- oder viertenmal in den Keller hinab. Ich blieb ruhig wie Stein. Mein Herz schlug so friedlich wie das eines Menschen, der in Unschuld schläft. Ich folgte den Herren von einem Ende des Kellers bis zum andern. Die Arme über der Brust verschränkt, ging ich festen Schrittes einher. Die Beamten waren vollkommen beruhigt und schickten sich an, fortzugehen. Die Freude meines Herzens war zu groß - ich musste sie irgendwie äußern! Ich brannte darauf, wenigstens ein Wort des Triumphes auszurufen, das zugleich aber auch die Herren in ihrer Überzeugung von meiner Unschuld bestärken sollte.
"Meine Herren", sagte ich, als sie bereits wieder die Kellerstufen emporstiegen, "ich bin entzückt, Ihren Verdacht zerstreut zu haben. Ich wünsche Ihnen viel Glück und ein wenig mehr Höflichkeit. Nebenbei bemerkt, meine Herren, dies - dies ist ein sehr gut gebautes Haus", (in dem verrückten Wunsch, irgend etwas Herausforderndes zu sagen, wusste ich kaum, was ich überhaupt redete), "ich möchte sagen, ein hervorragend gut gebautes Haus. Diese Mauern - gehen Sie schon, meinen Herren? - diese Mauern sind solide aufgeführt." Und hier - rein aus tollem Übermut - schlug ich mit einem Stock, den ich gerade bei der Hand hatte, kräftig auf die Stelle des Mauerwerks, hinter der sich die Leiche meines einst so geliebten Weibes befand.
Aber - möge Gott mir gnädig sein und mich retten aus den Krallen des Erzfeindes! - kaum war der Schall meiner Schläge verhallt, als eine Stimme aus dem Grabe mir Antwort gab. Es war ein Schreien, zuerst erstickt und abgebrochen wie das Weinen eines Kindes, dann aber schwoll es an zu einem ununterbrochenen, durchdringenden und unheimlichen Gekreisch, das keiner menschlichen Stimme mehr zu vergleichen war - zu einem bald jammervoll klagenden, bald höhnisch johlenden Geheul, wie es nur aus der Hölle kommt, wenn das Wehklagen der zu ewiger Todespein Verdammten sich mit dem Frohlocken der Höllengeister zu einem Schall vereint.


Illustration: Katja Spitzer

Es ist wohl überflüssig, noch davon zu sprechen, was ich in diesem Augeblick empfand. Ohnmächtig taumelte ich an die gegenüberliegende Mauer. Die Leute auf der Treppe standen regungslos, von Schreck und Entsetzen gelähmt. Im nächsten Moment aber arbeitete ein Dutzend kräftiger Hände daran, die Mauer einzureißen. Sie fiel. Der schon stark in Verwesung übergegangene und mit geronnenem Blut bedeckte Leichnam stand aufrecht vor den Augen der Männer. Auf seinem Kopf saß, mit weit aufgesperrtem rotem Rachen und dem einen glühenden Auge, die fürchterliche Katze, deren teuflische Gewalt mich zum Mörder gemacht hatte und deren Stimme mich nun den Henkern überlieferte. Ich hatte das Scheusal in das Grab mit eingemauert.

Edgar Allan Poe: Die schwarze Katze. In: Edgar Allan Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen. Dritter Band: Verbrecher Geschichten. Hrsg. von Theodor Etzel. Übersetzt von Gisela Etzel. Propyläen-Verlag. Berlin 1922.

* * *

 

Mord eines Kindes
aus Schwermut und Lebens-Überdruss

Erzählung des Tatbestands:
Am 22. Juni 1775 zeigte sich das Dienstmädchen Agnes B., das in den Diensten der Kanzlei-Tochter P. zu A. war, freiwillig beim Stadtamt an, und gibt an, Schuld am Todes des jüngst begrabenen P'schen Kindes zu sein.


§ 1
Erstes Geständnis von Agnes B.:
Vor 14 Tagen, also am Donnerstag, den 8. Juni, ging die P. um 9 Uhr aus dem Haus. Ich blieb bis viertel vor zehn Uhr auf und habe dann das aus dem Schlafe erwachte Kind von P., weil es geschrieen hat, eine Zeitlang in der Stube herumgetragen. Als das Kind dann gegen 10 Uhr wieder eingeschlafen war, habe ich es in die Wiege zurück gelegt und mich selbst in das Bett neben der Wiege gelegt. Viertel vor 11 Uhr ist das Kind wieder erwacht und hat abermals geschrieen. Das hat mich zornig gemacht, und ich habe das Kind, während es andauernd geschrieen hat, in die Wiege hineingeworfen. Dann habe ich es mit meiner rechten Hand vorn an dem Hals stark gepackt und fest gedrückt, so dass es nicht mehr schreien konnte. Als ich nun nach ungefähr einer viertel Stunde meine Hand wieder vom Hals des Kindes genommen habe und bemerkt habe, dass es noch schnappt, habe ich mit meiner rechten Hand, und zwar mit geballter Faust, dem Kind zwei starke Stöße auf die Brust gegeben und ihm das Herz eingestoßen. Da es sich nun nicht mehr gerührt hat, habe ich es liegen lassen, mich auch in mein Bett gelegt und bin eingeschlafen.
Um viertel vor 11 Uhr ist die P. heimgekommen und hat sogleich bemerkt, dass ihr Kind tot war. Sie rief die Hausleute zusammen; die haben geglaubt, das Kind sei an einem Schlagflusse gestorben. Ich habe vor der P., dem Drechsler F. und dem Kalkant standhaft geleugnet, dem Kinde etwas getan zu haben. Zwei Tage darauf ist das Kind begraben worden.
Ich bin durch das Schreien des Kindes in maßlosen Zorn geraten, dass ich mich dann am Kind vergriffen habe. Ich habe aber bis auf die letzte Minute keine bösen Gedanken gehabt, und meine Tat sogleich bereut und ich habe gedacht, wenn das herauskommt, kostet es mein Leben. Mein Gewissen ließ mir aber keine Ruhe, weshalb ich mich selbst angezeigt habe.

§ 2
...

§3
Um nun diese Sache in ein helles Licht zu setzen, und herauszubekommen, ob das Kind vorsätzlich oder tatsächlich im Affekt getötet wurde, vernimmt das Fraischamt [Hochgerichtsbezirk; zuständig für Verbrechen, die die Todesstrafe nach sich ziehen] sowohl die Mutter der Angeklagten, als auch alle diejenigen Personen, bei welchen solche sich bisher, und über das, was ihnen von deren Gemütsbeschaffenheit und bisherigen Lebenswandel bekannt war; wovon man auch weiter unten das Nötige anführen wird.

Auszug aus der Aussage der Mutter von Agnes B:
Seit der Hinrichtung der beiden Übeltäterinnen im Frühjahr, habe ich an meiner Tochter eine große Schwermut bemerkt. Agnes hat sehr oft gesagt, dass sie ihres Lebens überdrüssig sei. Sie hat vor der Hinrichtung immer wieder die Übeltäterinnen besucht und diese waren ihr seitdem immer im Kopfe gewesen.

Auszug aus der Aussage der Mutter des ermordeten Kindes:
Die Angeklagte hat mich an dem Abend sehr dazu angetrieben, dass ich mit der St'schen Tochter mitgehen solle, obwohl ich erst kurz davor bei ihr war. Außerdem hat mein Kind schon einmal 3 Tage vor seinem Tod, so ungefähr um 12 Uhr nachts einen lauten Schrei getan. In der Mordnacht bin ich schon um halb 11 Uhr zu Hause gewesen.

Auszug aus der Aussage des Drechslers F.:
Ich habe mich schon um halb zehn in meine Stube gelegt. Meine Schlafkammer liegt neben der Stube der P. Gegen 10 Uhr habe ich jemand in die Küche und wieder zurück gehen hören. Dann bin ich eingeschlafen. Etwa um halb 11 Uhr bin ich aber durch das Geschrei der P. wieder aufgewacht. Davor war es aber in der Stube ganz still gewesen, und ich habe nicht das geringste Geschrei gehört, sonst wäre ich ja wohl aufgewacht?

Auszug aus der Aussage der Schneiderin N.N.:
Die Angeklagte hat mir am Donnerstag, als das Kind der P. gestorben ist, beim Waschen geholfen. Als das Sünder-Glöcklein der Übeltäterinnen zu uns herüber geschallt hat, sagte mir die Angeklagte, dass "diese Leute recht freudig sterben und in den Himmel eingehen können".

Auszug aus der Aussage der Kranken M.:
Die Angeklagte hat seit der Hinrichtung der zwei Übeltäterinnen öfters mit mir davon geredet und unter anderem gesagt, dass die Hinrichtung wie der Wind vorbei gewesen sei.


Aus allen diesen Umständen zusammengenommen, entstand nun, wie gedacht, die begründete Vermutung, dass die Angeklagte diesen Mord nicht im Zorne, sondern vorher durch Schwermut, Überdruss des Lebens und durch die eingesogene schwärmerische Grundsätze: von der Freudigkeit des Sterbens bei öffentlichen Hinrichtungen, wegen der erbaulichen und rührenden Vorbereitung etc. dazu verleitet worden sein.

§ 4


Illustration: Katja Spitzer

Zweites Geständnis von Agnes B.:

Die St. hat von mir verlangt, ich solle der P. sagen, dass sie sobald sie ginge, zu ihr käme. Ich habe allerdings der P. geraten, bald dorthin zu gehen.
Als die P. dann um 9 Uhr fortgegangen ist, habe ich das Kind noch gewiegt und bin bis viertel 11 Uhr herumgegangen. Dann habe ich mich niedergelegt, aber bevor ich eingeschlafen bin, hat das Kind wieder geschrieen, daher habe ich es wieder herumgetragen und auf die Kommode gelegt. Ich bin in die Küche gegangen und habe einen Kochlöffel geholt, mit dem ich das Kind zwei Mal auf den Rücken geschlagen habe. Als das Kind immer weiter geschrieen hat, wurde ich so zornig, dass ich es auf die schon erzählte Weise umgebracht habe. Allerdings ist das Kind schon hin gewesen, als ich ihm die Stöße auf die Brust gegeben habe.


Agnes B. wird gefragt, ob sie die P. nicht vielmehr bloß deswegen angetrieben habe, zu St. zu gehen, um ihren schon vorher gefassten mörderischen Vorsatz an deren Kind ausführen zu können. Darauf hin verändert die Angeklagte ihre ganze bisherige Aussage und bekennt:

Drittes Geständnis von Agnes B.:

Ja, ich habe deshalb zur P. gesagt sie solle zur St. gehen, weil ich vorgehabt habe, ihr Kind zu ermorden; ich habe das schon drei Wochen vorher im Sinn gehabt und drei Tage vorher habe ich es schon einmal ausführen wollen, aber dann hat es mich doch wieder gereut.
Aber dafür, dass das Kind vor drei Tagen geschrieen hat, kann ich nichts.
Ich habe bisher immer etwas anderes erzählt, weil ich nicht das Herz gehabt habe, die Wahrheit zu sagen.
Ich habe das Kind ermordet, weil mich die P. betrogen hat. Eine gewisse Dirne, namens Kitt. hat nämlich meiner Dienstherrin P. einige Kleider gestohlen. Als ich die Dirne überführt habe, die Dirne verhaftet wurde und die P. ihre Kleider wieder bekommen hat, hat sie mir ein Geschenk versprochen. Aber die P. hat ihr Versprechen nie erfüllt, sondern mich im Gegenteil noch verspottet und so lange als "Stadtknechtin" beschimpft, bis endlich alle Leute auf der Gasse mich auch so gerufen haben. Darüber bin ich so böse geworden und ich habe mir vorgenommen, der P. auch wieder einen Possen anzutun und ihr Kind umzubringen.
Übrigens habe ich mich über die Hinrichtung der beiden Verbrecherinnen nicht gefreut. Ich habe zwar mit der Schneiderin über die Verbrecherinnen gesprochen, aber deswegen habe ich sicher nicht das Kind der P. umgebracht.


Aus allen diesen Umständen erhellte sich, dass Agens B. die Tat bloß aus dem Grunde begangen hat, um sich dadurch die Todesstrafe zuzuziehen. Als man ihr dieses Ergebnis mitteilt, bekennt sie tatsächlich, dass ihr ihr Leben schon lange zuwider sei, weil sie keine Kleider gehabt hatte. Ihre Mutter hatte alles versetzt und verkauft und sie geschlagen und geplagt. Außerdem habe der böse Geist eben auch immer bei ihr zugeschürt.

Die Angeklagte wird mit der Aussage des Drechsler F. konfrontiert, der gar kein Geschrei gehört haben will. Darauf hin verändert die Angeklagte abermals ihr Geständnis und sagt:

Viertes Geständnis von Agnes B.:

Das Kind hat tatsächlich nicht geschrieen, sondern beständig geschlafen. Da ich aber schon drei Wochen vorher den Vorsatz gehabt habe, es umzubringen, und es auch schon drei Tage vorher habe ausführen wollen, so habe ich an dem gedachten Donnerstag es in die Tat umgesetzt. Ich habe dem Kind um 10 Uhr mein Strumpfband um den Hals gebunden, und mit einer Schleife oder Knopf vorne zugezogen. Das Kind hat dann einen Schrei getan und ich habe das Strumpfband dann wieder herunter genommen. Dann habe ich das Kind zuerst mit meiner rechten und dann mit der linken Hand an den Hals gefasst und sieben Minuten lang zugedrückt. Dann habe ich dem Kind zwei Stöße auf die Brust gegeben. Alle anderen von mir vorher angegebenen Umstände sind falsch. Allerdings stimmt es, dass ich das Kind zum Possen der P. umgebracht habe. Und ich habe es getan, weil ich auch ums Leben kommen wollte, mir ist das Leben zuwider, weil ich keine Kleider habe.

Auf die Frage, warum sie ihr Leben erst jetzt beenden wolle, schließlich habe ihre Mutter ihr schon vor zwei Jahren die Kleider abgenommen, legt Agnes B. ihr letztes Geständnis ab:

Letztes Geständnis der Agnes B.:

Mir ist mein Leben eben schon lange zuwider gewesen. Ich habe schon immer gedacht, dass ich einmal eine Mordtat tun werde, damit ich dadurch ums Leben komme. Aus keinem anderen Grund habe ich das Kind der P. umgebracht. Das Kind hat nicht geschrieen und ich habe es nicht im Zorne umgebracht, sondern nur deshalb, um selbst zu Tode zu kommen. Natürlich habe ich gewusst, dass auf Totschlag die Todesstrafe steht. Jetzt bereue ich mein Verbrechen und bitte Sie aus ganzen Herzen um Gnade.

Urteilsfindung:

§ 5
Den Gemütszustand der Angeklagten betreffend:
Eine andere Dienstfrau der P. sagt, dass die Angeklagte immer lustig gewesen sei und immer gelacht habe, auch die ehemalige Dienstherrin der Angeklagten, der Schulmeister und die Schneiderin, die M'sche Tochter und der Kalkant bezeugen, dass sie nicht schwermütig gewesen sei und sich immer ordentlich und vernünftig betragen habe.

§6
Bemerkenswert ist aber, dass die Angeklagte sich während ihrer Verhaftung selbst umbringen wollte. Nachher gab sie an, dass sie es bloß aus Spaß getan habe, um die Stadtknechte zu erschrecken. Das Gericht bemerkt überdies, dass sie sich während ihrer Verhaftung in den Verhören äußerst roh, unüberlegt, frech, boshaft, verstockt und unempfindlich gezeigt habe. Auf einige Fragen war trotz aller Mühen keine Antwort von ihr herauszubringen, die übrigen antwortete sie so ziemlich ordentlich und vernünftig.

§7
...

§8
Was nun die Bestimmung der Strafe selbst betrifft, so kommt es - da die Angeklagte das von ihr begangene Verbrechen freiwillig eingestanden und sogar selbst eingestanden hat - einzig darauf an, ob dieses Geständnis alle in den Gesetzen erforderte Eigenschaften hat.
Wird diese Frage bejaht, so ist auf die Todesstrafe zu erkennen.
Die Gesetze verlangen:
1. Dass das Bekenntnis nicht im Irrsinn und in der Schwermut gehalten ist.
2. Dass das Bekenntnis wie die Umstände klar und evident sein müssen.
3. Dass die Bekenntnisse wahrscheinlich wahr sind.


Zu 1.
Nach der einstimmigen Aussage aller hat sie noch bis zum letzten Tag als eine vernünftig und ordentliche Person sich betragen und ihre Verrichtungen besorgt, ist auch vielmehr stets munter und aufgeräumt gewesen. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage ihrer Mutter, sie sei wegen der Hinrichtungen schwermütig gewesen, nicht hinlänglich.

Zu 2.
Trifft zu. Die Angeklagte hat die Tat auf das deutlichste mit allen möglichen auch den geringfügigsten Umständen mit der größten Genauigkeit und Ordnung angegeben.

Zu 3.
Gerade das letzte Bekenntnis ist sehr wahrscheinlich und kommt mit allen vorhandenen Anzeigen auf das Genaueste überein.
Alle Umstände zusammengenommen, bringen ihr freiwilliges Bekenntnis, dass sie das P'sche Kind auf die angegebene Art vorsätzlich umgebracht habe, zu einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit, der der Gewissheit nahe kommt.

§ 9-11
...

§ 12

Es ist ein trauriger, aber nur zu gewisser Satz, dass die juristischen Wahrheiten überhaupt selten oder wohl nie zu einer mathematischen Gewissheit gebracht werden können. Müssten nicht, wenn dieses gefordert werden wollte, die meisten Verbrechen ungestraft bleiben?

§ 13

Allein die gegenteilige Entscheidungsgründe sind folgende:
- Erstens hat die Angeklagte die Tat selbst bei dem Amt angezeigt und gütlich einbekannt.
- Zweitens ist nicht zweifelsfrei, ob das Kind nicht doch eines natürlichen Todes gestorben ist. Denn da das Kind erst einige Tage nach seinem Tod von der Gerichtsmedizin untersucht wurde und es schon stark verwest war, konnten die Zeichen der Gewaltanwendung nicht mehr überprüft werden.
Möglich ist durchaus auch, dass das Kind an einem Schlag- oder Steckfluss gestorben sein kann, denn nach Aussage der F. ist das Kind immer etwas kränklich gewesen, hat ein dickes Leiblein gehabt und öfters stark gerasselt, so dass sie oft gefürchtet, es möchte an einem Steckflusse sterben.

§ 14

Es machen auch verschiedene andere Umstände das Bekenntnis der Angeklagten sehr unwahrscheinlich:
Sie hat selbst bekannt, dass sie aus bloßem Überdruss des Lebens diese Tat begangen habe. Lässt dies nicht mit Grunde vermuten, dass sie auch fälschlich sich zu der Urheberin des Todes des P'schen Kindes angegeben hat, um nur ihr Leben wieder zu verlieren?
Auffallend war außerdem, dass die Angeklagte einige Dinge nur generell zu beantworten wusste, wenn man ihr aber einzelne Umstände nannte, sie diese sogleich bekannte.

§ 15

Überdies, wenn auch die Angeklagte nicht im eigentlichen Sinne melancholisch ist, so scheint sie doch melancholische Anwandlungen und einen Lebensüberdruss zu haben, weshalb sie denn, wegen ihrer Jugend und ihres Unverstands umso mehr Mitleid und Entschuldigung verdient.

§16

Aus allen diesen Gründen ist das Gericht der rechtlichen Meinung: Dass die Angeklagte nur mit einer außerordentlichen Strafe, allerdings nicht mit der Todesstrafe zu beurteilen ist.
Die Angeklagte wird zu einer 10 jährigen Zuchthaus-Arbeit verurteilt.

Mord eines Kinds aus Schwermut und Lebens-Überdruss. Aus: Merkwürdige Kriminal und Civil-Rechtsfälle. Bearbeitet von einem Juristischen Privatvereine. Hrsg. v. Julius Grafen von Soden. Nürnberg und Altdorf 1825.
Gekürzt und sprachlich leicht verändert von Rossipotti.

 © Rossipotti No. 16, Oktober 2007