Erzähler & Erzählen


Vom mündlichen und schriftlichen Erzählen


Illustration: Franziska Ludwig

Auf den ersten Blick spielt es keine Rolle, ob jemand ein Geschehen mündlich erzählt oder alleine nieder schreibt. Auf den zweiten Blick bemerkt man schon einen Unterschied. Mündliches Erzählen gibt es nämlich schon seit der Mensch sprechen kann. Mit Witzen, Märchen, Legenden, Sagen und Mythen, die ihrem Ursprung nach mündliche Erzählungen sind, unterhalten sich Menschen gegenseitig.
Schriftliches Erzählen gibt es dagegen erst, seit es die Schrift gibt und der Mensch das Bedürfnis hat, zuerst im Zwiegespräch mit sich selbst, dann einem anonymen Leser Dinge zu berichten. Diese Erzählart nennt man epische Literatur. Die Epik bildet in der gesamten Literatur eine Grundgattung, genau wie die Lyrik und das Drama.
Zur epischen Literatur gehören unter anderem Romane, Erzählungen, Novellen, aber auch Balladen und Anekdoten. Da Märchen, Sagen, Legenden nur noch selten mündlich erzählt und viel öfters aufgeschrieben werden, gehören sie inzwischen auch zur epischen Literatur.
Mit der Zeit wurde das epische Erzählen ganz schön kompliziert. Darum begannen verschiedene Wissenschaftler Anfang des 20. Jahrhunderts es zu erforschen. Sie entwickelten eine ganze Theorie des Erzählens. Dabei wollten sie herausfinden, auf welche Art und Weise man schreibend erzählen kann. Eine wichtige Erkenntnis, die sie gewonnen haben, ist zum Beispiel, dass der Erzähler eines Geschehens meistens nicht gleichzeitig die Person ist, die den Text nieder geschrieben hat. Der Erzähler ist nämlich fast immer eine Art unsichtbare oder fiktive Figur, die sich der Autor ausgedacht hat. Nur in autobiographischen Texten sind Erzähler und Autor ein und dieselbe Person.
Darüber hinaus haben die Wissenschaftler das Erzählen in einem epischen Text noch weiter in Begriffe eingeteilt. Obwohl die unterschiedlichen Wissenschaftler unterschiedliche Theorien haben, hat man sich grob auf ein paar grundlegende Begriffe geeinigt. Zum Beispiel auf die Begriffe Erzählform oder Erzählsituation, Erzählverhalten, Erzählperspektive und die Erzählhaltung.

Erzählform oder Erzählsituation


Illustration: Franziska Ludwig

Eine Geschichte kann ganz direkt mit einem Ich-Erzähler in der Ich-Form oder aus größerem Abstand in der Er- oder Sie-Form erzählt werden.
Der Ich-Erzähler ist eine Figur der Handlung. Das heißt, er spielt in der Geschichte selbst mit und kann nur das erzählen, was er selbst weiß. In dem Kinderbuch Alfons Zitterbacke heißt es dann zum Beispiel: „In der Turnstunde schaffte ich die Bauchwelle am Reck nicht.“ Das „Ich“, das hier spricht, ist in dem Falle Alfons.
Im Gegensatz dazu spielt der Er- oder Sie-Erzähler nicht in der Geschichte mit, sondern er steht neben oder über der Handlung. Die Figuren in der Geschichte kennen ihren Erzähler also nicht, dafür weiß der Erzähler alles über sie und kennt den ganzen Gang der Handlung von Anfang bis zum Schluss.
In dem Fall würde die Szene so erzählt werden: „In der Turnstunde schaffte Alfons die Bauchwelle am Reck nicht.“
Außerdem gibt es auch noch eine Mischform zwischen Ich- und Er-Erzähler. In der gemischten Form wird in Er-Form geschrieben aber trotzdem nur das berichtet, was allein ein Ich-Erzähler weiß. Diese gemischte Erzählform gibt dem Autor die Möglichkeit, die Erzählerfigur auf Abstand zu halten und trotzdem deren Innenleben darzustellen.

Erzählverhalten

Ein Erzähler kann ein Geschehen von einer oder mehreren Figuren aus berichten. Wenn der Erzähler dabei nur das berichtet, was jeweils diese Personen betrifft – wie in der Originalszene bei Alfons Zitterbacke – nennt man das personales Erzählverhalten.
Es gibt verschiedene Mittel, das personale Erzählen zu unterstreichen. Ein oft verwendetes Mittel ist der innere Monolog. Der innere Monolog wird häufig im Präsens oder Perfekt geschrieben und mit Formulierungen wie „er dachte“ eingeleitet. Er eignet sich deshalb gut, um die Gedanken der Figuren mitzuteilen.
Wenn der Erzähler dagegen allwissend ist, weil er nicht nur weiß, was eine einzelne Person macht, fühlt und denkt, sondern auch alle Figuren kennt und weiß, was sie warum tun, heißt dieses Erzählverhalten auktorial. Der allwissende Erzähler hält also von Anfang bis Ende alle Fäden in der Hand. Wäre die Szene in Alfons Zitterbacke auktorial erzählt worden, hätten wir sicher noch erfahren, warum Alfons die Bauchwelle nicht schafft und was die anderen Schüler dabei denken.

Erzählperspektive und Erzählhaltung

Neben der Erzählform und dem Erzählverhalten ist beim Erzählen auch der Blickwinkel wichtig, aus dem berichtet wird – die Erzählperspektive – und die Meinung, die der Erzähler zu den Geschehnissen hat – die Erzählhaltung.


Illustration:
Franziska Ludwig

Für die Erzählperspektive gib es zwei Möglichkeiten: Entweder berichtet der Erzähler aus dem Inneren der Handlung heraus oder als Außenstehender. Wenn aus der Innenperspektive heraus erzählt wird, erfährt der Leser die Handlung aus der Sicht dieser Figuren und damit auch ihre Gefühle, Beobachtungen und Gedanken. Die Turnszene könnte dann so erzählt werden: „In der Turnstunde schaffte Alfons die Bauchwelle am Reck nicht. Er fühlte sich miserabel und es kam ihm vor, als würden ihn alle anstarren und auslachen.“
Berichtet der Erzähler aber aus der Außenperspektive, dann kann er diese Szene nicht so wiedergeben. Er ist kein Teil der handelnden Welt, und darum erfährt der Leser von ihm nur das, was man von außen sehen kann, aber nichts von den Empfindungen der Figuren.

Die Erzählhaltung wiederum zeigt dem Leser an, welche Einstellung der Erzähler zu den Geschehnissen der Handlung hat. Der Leser merkt dabei zum Beispiel durch eingestreute Kommentare des Erzählers, ob er eine neutrale Einstellung dazu hat, ob es ihm also egal ist, was da passiert, ob er sie kritisiert, ob er das alles gut findet, oder ob er sich vielleicht durch ironische Bemerkungen darüber lustig macht.
Kritisch erzählt, könnte die Szene mit Alfons so klingen: „In der Turnstunde schaffte Alfons die Bauchwelle am Reck nicht. Kein Wunder, denn er hatte sich lieber ausgeruht, als die anderen Schülern übten.“

Erzählzeit und erzählte Zeit


Illustration:
Franziska Ludwig

Beim Lesen kann man oft alles um sich herum vergessen – auch die Zeit. In einer Erzählung spielt die Zeit aber eine wichtige Rolle, und wenn man genauer nachdenkt, liest man die Zeit immer mit. Denn jedes Ereignis erstreckt sich über einen bestimmten Zeitraum. Dabei unterscheidet man in die erzählte Zeit und die Erzählzeit.
Die Erzählzeit ist die Zeit, die ein Erzähler braucht, um die Handlung darzustellen bzw. die der Leser braucht, um die dargestellte Handlung zu lesen.
Dagegen ist die erzählte Zeit für die Dauer der Handlung verantwortlich. Wenn nun von Alfons' Versuch erzählt wird, eine Bauchwelle zu machen, dann kann dieser Vorgang gerafft, also verkürzt, dargestellt werden. Der Leser braucht dann nur wenige Sätze oder auch nur einen Satz zu lesen, bis Alfons damit fertig ist. Das dauert nur wenige Sekunden – aber im echten Leben bestimmt mehrere Minuten. Der Erzähler hat in dem Fall einen Teil der Bewegungsabfolge weggelassen, damit er schneller weitererzählen kann und uns nicht langweilig wird.
Will er diese Szene aber sehr realistisch gestalten, dann wird der Erzähler Alfons' Versuch so lange beschreiben, wie dieser in „Echtzeit“ dafür braucht. Er passt also die Erzählzeit der erzählten Zeit an. Der Leser muss nun viel mehr Sätze und Minuten darüber lesen.
Findet der Erzähler die Szene aber besonders interessant, wird er jede Kleinigkeit erwähnen und jede Bewegung länger beschreiben als sie tatsächlich dauert. Die erzählte Zeit wird dabei gedehnt. Alfons scheint dann, die Bauchwelle wie in Zeitlupe zu machen. Und das kann ewig und viele Seiten lang dauern.