Motiv


Bedeutung allgemein

Das Motiv hat grundsätzlich zwei verschiedene Bedeutungen.
Zum einen meint man damit den abstrakten, unsichtbaren Beweggrund oder Anlass einer Handlung oder Haltung. Dieser Definition oder Bestimmung begegnet man im Alltag sehr oft. Denn schon, wenn man jemanden fragt: „Warum hast du dieses oder jenes getan oder gesagt?“, forscht man nach dem Motiv der Tat oder Äußerung.
Besondere Bedeutung hat diese Definition von Motiv für Psychologen, Kommissare, Staatsanwälte und Richter. Psychologen möchten über das Motiv etwas über die Charakterstruktur ihres Patienten erfahren, um ihm helfen zu können. Kommissare, Staatsanwälte und Richter wollen über das Motiv des Täters dagegen etwas über die Struktur des Verbrechens oder Vergehens erfahren, um den Täter überführen und das geeignete Strafmaß finden zu können.

Zum anderen meint man mit Motiv auch einen konkreten, sichtbaren Gegenstand auf einem Foto oder Kunstwerk, der entweder selbst das Wichtigste auf dem Bild ist oder als Einzelteil für den Gesamtzusammenhang eine Bededeutung hat.


Illustration: Halina Kirschner

Macht man beispielsweise ein Foto von einem Baum, so ist in dem Moment der Baum das Wichtigste, das man darstellen will und somit das Motiv des Bildes. Knippst man ein Porträt von jemandem, ist das Porträt das Motiv des Fotos.
Als Einzelteil kann aber auch etwas Nebensächlicheres Motiv sein. Wenn man beispielsweise einen Mädchenkopf fotografiert und dabei gleichgzeitig eine große, blaue Haarschleife fokussiert, kann das Porträt das Hauptmotiv und die Schleife das Nebenmotiv sein.
Genauso ist es in der Malerei. Malt man beispielsweise ein Stilleben mit Wein und Wurst, und daneben einen Hund, der nach der Wurst schnappt, ist sowohl das Stilleben als auch der Hund Motiv. Je nachdem, was im Zentrum der Betrachtung ist, kann das Stilleben oder der Hund Hauptmotiv sein. Das, was nur beiläufige Bedeutung hat, wird zum Nebenmotiv. Und je nachdem, was Haupt- und was Nebenmotive sind, ist das Bild anders aufgebaut oder strukturiert.


Illustration: Halina Kirschner

Übrigens sind nicht nur alle dargestellten Gegenstände oder Objekte, sondern auch Situationen und Formen, die dem Bild hauptsächliche oder auch nebensächliche Bedeutung vermitteln, Motive. Auf einem Foto, bei dem sich zwei Kinder die Hände halten, sind nicht nur die Kinder Motiv, sondern auch die Situation, in der sie sich befinden. Das könnte beispielsweise das Motiv Geschwisterliebe oder Freundschaft sein.

Auch in der Musik wird ein konkreter, hörbarer Gegenstand, allerdings nur die kleinste musikalische Einheit einer Komposition, Motiv genannt. Wird diese öfters wiederholt, wird sie zum Leitmotiv.

Obwohl diese beiden grundsätzlichen Definitionen von abstraktem und konkretem Motiv auf den ersten Blick recht unterschiedlich wirken, haben sie doch einen gemeinsamen Kern.
Denn in beiden Definitionen hängt das Motiv mit dem Einfall, Beweggrund oder Anlass einer Handlung oder Äußerung zusammen. Während das abstrakte Motiv selbst Beweggrund ist, geht dem konkreten Motiv eines bildnerischen, fotografischen oder musikalischen Werks der Beweggrund oder Einfall, genau dieses Motiv abzubilden oder zu gestalten, voraus. Das konkrete Motiv ist sozusagen am Kunstwerk sichtbarer Einfall oder Anlass des Kunstwerks. Das Abstrakte wird im Kunstwerk konkret.
Gemeinsam ist den beiden Definitionen außerdem, dass das Motiv etwas ist, das einer Handlung, Haltung oder dem Kunstwerk insgesamt eine bedeutungsvolle Struktur gibt.

Bedeutung in der Literatur

In der Literatur wurden nun beide Bedeutungen von abstraktem und konkretem Motiv so ineinander verwoben, dass eine dritte Bedeutung entstanden ist. Hier hat das Motiv sowohl abstrakten als auch konkreten Charakter.
Abstrakt ist das Motiv aus zwei Gründen. Erstens, weil man in der Literatur mit Motiv auch den unsichtbaren Anlass oder Beweggrund für die Gestaltung eines Textes meint. Die Absicht des Autors, dieses oder jenes Motiv zu wählen, zählt also auch zum Motiv des Textes. Zweitens ist das Motiv abstrakt, weil es im Text nicht an bestimmte Personen, Namen, Zeiten oder Orte gebunden ist, sondern häufig erst über die Darstellung der Handlung, Figuren und ihre Konflikte entschlüsselt werden kann. Das Motiv ist deshalb mit dem Thema verwandt. Allerdings ist das Motiv eindeutiger und inhaltlich doch gegenständlicher gefasst als das Thema. Beispielsweise wird das abstrakte Thema „Mensch findet sich in seiner Umgebung nicht zurecht“ in dem konkreten Motiv „Einzelgänger“ oder „Sonderling“ veranschaulicht.


Illustration: Halina Kirschner

Konkret oder sichtbar ist das Motiv insofern, als es einen bildlichen Charakter hat, der im Text offensichtlich wird. Wenn in einem Text beispielsweise ein Mann zwischen zwei Frauen steht, ist „Mann zwischen zwei Frauen“ ein Motiv. Wenn jemand nach jahrelanger Reise nach Hause kehrt, ist „Heimkehr“ das Motiv. Oder wenn jemand auszieht, seinen Vater zu suchen, kann als Motiv die „Vatersuche“ angegeben werden.
Alle drei Motive finden sich übrigens im Stoff Odysseus von Homer. Ein Stoff setzt sich also aus mehreren Motiven zusammen. Das Motiv wird deshalb auch als „kleinere stoffliche Einheit“ beschrieben. Wie der Stoff ändern sich mit der Zeit auch die Wahl der Motive. Oder umgekehrt: Die Wahl der Motive gibt Einblick in die Befindlichkeit der jeweiligen Zeit. Da der Stoff an feststehende Namen und Ereignisse außerhalb des eigentlichen Werkes gebunden ist, das Motiv aber nicht, kann es zwar keine Stoffe ohne Motive, wohl aber Motive ohne Stoff geben.
Wie sich Motive im Lauf der Zeit und deren Bedeutung bei unterschiedlichen Autoren ändern können, untersucht übrigens die Motivgeschichte.

Der Autor überlässt es insgesamt dem Leser, die Motive zu erkennen, zu interpretieren und zu entschlüsseln. Je besser der Leser sowohl die Absicht des Autors versteht, diese oder jene Motive zu verwenden, als auch die einzelnen Motive selbst im Text, umso besser wird er auch die tiefere Bedeutung des Textes verstehen.

Motivtypen

Es gibt verschiedene Sorten von Motiven. Sie können je nach Wichtigkeit, Inhalt und Genre in Gruppen voneinander unterschieden werden. Hier eine Auswahl der wichtigsten Motive:

Unterscheidung nach Wichtigkeit

Hauptmotiv: Das Hauptmotiv wird auch als Zentral- oder Kernmotiv beschrieben. Es gibt die Idee oder auch Thema des Textes an, strukturiert ihn wesentlich und ist damit das wichtigste oder bedeutungsvollste Motiv in einem literarischen Text.

Nebenmotiv: Das Nebenmotiv wird auch als Randmotiv bezeichnet. Es reichert den Text mit weiteren bedeutungsvollen Elementen an und macht den Text und seine Struktur dadurch komplizierter. In einem Text sind also viele Nebenmotive vorhanden.

Leitmotiv: In Anlehnung an Leitmotive in der Musik bezeichnet das Leitmotiv ein Motiv, das innerhalb des Textes in gleicher Form wieder kehrt.

Stumpfes Motiv: Damit meint man ein Motiv, das vom Text abgekapselt oder isoliert ist und den Leser auf die falsche Fährte führt. Bei Krimis machen stumpfe Motive durchaus Sinn, auch in Volks-Märchen kann man viele stumpfe Motive finden. Bei anderen Texten stören sie meistens, weil sie eine Erwartungshaltung erzeugen, die dann nicht gestillt wird.

Blindes Motiv: Das ist ein Motiv, das von der eigentlichen Handlung ablenkt und für die Bedeutung unwichtig ist. Es kann allerdings ausschmückende oder ornamentale Funktion haben und damit den Stil des Autors charakterisieren.

Unterscheidung nach Inhalt

Typus-Motive: Es gibt Motive, die bestimmte, gleich bleibende Typen beschreiben. Beispielsweise Sonderling, Schelm, Spieler.

Situations-Motive: Damit meint man Motive, die eine bleibende Situation schildern. Beispielsweise Dreiecks-Verhältnis, Heimkehr, Bruderkampf.

Raum- und Zeit-Motive: Damit bezeichnet man Motive, die Orte (Höhle, Ruine, Insel) und Tages- oder Jahreszeiten (Geisterstunde, Winter) beinhalten.

Unterscheidung nach Genre

Bestimmte Motive treten in bestimmten Genres oder Gattungen häufiger auf als in anderen. Aus dem Grund ordnet man sie bestimmten Genres zu.
Beispielsweise lyrische Motive (Abschied, unglückliche Liebe, Mond), Märchen-Motive (Magische Helfer, Tierbräutigam, Eroberung der Prinzessin) oder Dramen-Motive (der unerkannte Gegner, Bruderstreit, Verwandtenmord).