Kamishibai


Bedeutung

Für das Theater werden gemalte Bilder auf Papier vor einem Publikum nacheinander in einen Rahmen oder Bilderkasten gesteckt und durch einen spannenden, mündlichen Vortrag zum Leben erweckt. Bei einem Live-Auftritt wird das Publikum dabei oft mit Fragen, Geräuschen oder kleinen Aktionen miteinbezogen.

Je spannender die Geschichte erzählt wird, umso lebendiger erscheinen die unbewegten Bilder auf Papier. Im besten Fall wird die Fantasie dabei so angeregt, dass die Zuschauer den Eindruck haben, ein echtes Theaterstück anzusehen.

Weil der Vortrag der Geschichte ebenso wichtig ist wie die Bilder selbst, nennt man in Deutschland das Kamishibai meistens „Erzähltheater“. Das macht auch insofern Sinn, da man hier mit „Papiertheater“ eigentlich das Spiel mit ausgeschnittenen Papier-Figuren meint, die man in Schienen von der Seite oder mit Stäben von oben bewegen kann.

 

 

 

Geschichte des Kamishibai

Japan

In Japan hat das Erzählen mit Bildern eine lange Tradition. Schon im 10. Jahrhundert erzählten buddhistische Mönche und Nonnen lehrreiche Bildergeschichten. Die Bilder hingen an der Wand oder wurden, nach chinesischem Vorbild, von Bildrollen abgerollt. Oft kreisten diese Geschichten um Helden, die in Abenteuer verwickelt waren.

In der Edo-Periode (1600-1886) gab es Guckkästen, in denen Stabpuppen vor Bildhintergründen bewegt wurden. Mit Hilfe von Musik wurden dann Klatsch und Tratsch-Geschichten oder bekannte Kabuki-Theaterstücke nachgespielt. Kabuki ist eine in Japan sehr beliebte Theaterform, in der eine Geschichte mit Gesang, Tanz und Pantomime vermischt wird. Die maskenhaft weiß geschminkten Schauspieler führen dabei in prächtigen Kostümen mit überzeichneten Posen historische Geschichten auf, die meistens von Samurais handeln.

Eine direkte Vorform des Kamishibais entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts. Auf dickes Papier gemalte Figuren, die beliebte Helden und Posen des Kabuki-Theaters darstellten, wurden in einem Kasten mit Stäben bewegt. Weil es ein Theater (shibai) mit Puppen aus Papier (kami) war, wurde es Papiertheater, kami-shibai, genannt. Die ersten Stücke wurden in einem Zelt aufgeführt, mit Klanghölzern oder Gongs begleitet und es wurde Eintritt verlangt.

Weil es für die Kamishibai-Erzähler aber bald zu teuer war, die Miete für das Zelt zu bezahlen, verlagerten sie ihre Kunst auf die Straße. Statt Eintrittsgelder von den Passanten zu verlangen, verkauften sie vor dem Spiel Süßigkeiten, um sich so über Wasser halten zu können. Je spannender oder unterhaltsamer sie ihre Stücke erzählten, umso wahrscheinlicher war es, dass sie viele Süßigkeiten verkauften.

Das Kamishibai, wie wir es heute kennen, wurde in den späten 1920er Jahren direkt aus dem Papierpuppen-Theater entwickelt. Da es für einen einzigen Erzähler auf die Dauer zu kompliziert war, gleichzeitig mehrere Papierpuppen zu führen, Klanghölzer oder Gongs zu bedienen und die verschiedenen Rollen mit unterschiedlichen Stimmen zu spielen, wurden die Stabpuppen durch Bilder ersetzt, die nun nur noch aus dem Kasten gezogen werden mussten. Zuerst wurden die Kästen über der Schulter getragen und bei der Vorstellung auf einem Stativ befestigt, später auf dem Gepäckträger eines Fahrrads befestigt.

Die Hochphase des Kamishibais war zwischen 1929 und 1950. Wie in Deutschland war diese Zeit auch in Japan stark durch Wirtschaftskrise und eine aggressive, nationalistische Politik, die in den 2. Weltkrieg mündete, geprägt. Viele Menschen wurden arbeitslos und einige von ihnen wurden aus der Not heraus Kamishibai-Spieler. Thematisch wurden nun viele Geschichten nicht mehr vom Kabuki-Theater, sondern vom Stummfilm bestimmt. Sehr häufig wurden Abenteuer, Drama und Comicgeschichten erzählt. Die Geschichten hatten oft mehrere Folgen, wobei jede Folge mit 10 Bildkarten erzählt wurde. Häufig wurden Quiz eingebaut, womit die Zuschauer in die Handlung integriert wurden und Süßigkeiten gewinnen konnten. Ende 1931 gab es allein in Tokyo 2000 Erzähler, in Japan etwa 30000 und man geht davon aus, dass in seinen Hochphasen ca. 5 Millionen Kinder und Erwachsene täglich den verschiedenen Kamishibais zusahen.

Ende 1940 kam der Fernseher in die japanischen Wohnungen, der "denki kamishibai" (elektronisches Kamishibai) genannt wurde. Das war der Anfang vom Ende der Kamishibais auf den Straßen. Auch wenn das Fernsehen technisch viel aufwändigere Geschichten erzählen konnte, ging doch auch etwas verloren: die Stimmung vor Ort und der direkte Austausch zwischen Erzählerinnen und Erzähler und dem Publikum. Heute lebt das Kamishibai vor allem in japanischen Kindergärten und Schulen weiter, um Kinder beim Lesen und Schreiben zu helfen, ihre Freude am Erfinden von Geschichten zu unterstützen und sie über das gemeinsame Erleben von Geschichten zusammen zu bringen.

Deutschland

In Deutschland wurde man auf das Kamishibai aufmerksam, nachdem es in den 1970er Jahren auf der Internationale Kinderbuchmesse in Bologna vorgestellt wurde. Im Unterschied zu Japan interessierten sich hier deshalb von Anfang an Vermittlerinnen und Vermittler von Literatur für das Erzähltheater. Das Medium schien sehr gut geeignet, um einem größeren Publikum Bilderbücher vorzulesen oder zu erzählen und Kinder dadurch ans Lesen und Schreiben von Geschichten heran zu führen. Zu der Zeit waren allerdings gerade Dia-Projektoren beliebt, mit denen man Bilder an die Wand werfen und so Geschichten als Bilderbuchkino erzählen konnte. Wahrscheinlich wurden deshalb Kamishibais damals nur vereinzelt eingesetzt.

Im Vergleich zum Kamishibai hat die Dia-Schau allerdings mehrere Nachteile: Zum einen braucht man neben dem Projektor einen abgedunkelten Raum. Zum anderen kann man dafür nicht einfach selbst gemalte Bilder verwenden, sondern muss diese zuerst abfotografieren und auf Dia-Größe verkleinern. Beim Kamishibai kann man dagegen ganz leicht Bilder in Originalgröße präsentieren. Wahrscheinlich sind das wichtige Gründe, warum das Kamishibai gegen Ende des letzten Jahrhundert bei Vermittlerinnen und Vermittlern von Literatur immer beliebter wurde. Im Unterschied zur japanischen Kamishibai-Tradition wurde das Erzähltheater in Deutschland von Anfang an in Innenräumen gespielt. Und statt auf ein Fahrrad, wurde und wird es auf einen Tisch gestellt und davor das Publikum versammelt.

Spätestens seit den 2000er Jahren nutzen immer mehr Illustrator*innen, Autor*innen, Schauspieler*innen, Bibliothekar*innen, Religionspädago*innen und allgemein Literaturvermittler*innen Kamishibais in Vorführungen, Workshops und zur Lese- und Schreibförderung. Zum einen erzählen sie selbst auf diese Weise Geschichten. Zum anderen leiten sie Kinder an, selbst kreativ zu werden und eigene Geschichten zu entwickeln, zu malen und danach dem Publikum vorzustellen. Seit 2011 bietet die Büchereizentrale in Schleswig-Holstein einen besonderen Verleih-Service für Kamishibai-Bildkarten an. Rund 80 Büchereien setzen die Materialien seither in der Praxis ein.

Bauform

Kamishibais haben meistens zwei Flügeltüren, die vor dem Stück geöffnet werden. Hinter diesen Flügeltüren kann zusätzlich ein echter oder gemalter Vorhang sein. Um die Zuschauenden neugierig zu machen, kann man dann die Flügeltüren schon öffnen, den Vorhang aber erst vor dem eigentlichen Spiel wegziehen. Ob der Spiel-Kasten eher an einen Bilderrahmen oder einen Pappkarton erinnert, geschmückt oder schlicht ist, ist für ein Kamishibai nicht so wichtig. Ebenso ist es nicht so wichtig, ob die Bildkarten nach links oder rechts oder nach oben aus dem Kasten gezogen werden. Hauptsache ist, dass die Bilder vom Publikum gut erkannt werden können, also groß und wenig detailliert gemalt sind, und die Geschichte spannend erzählt wird.

Sonderbauformen

In Deutschland gibt es Kamishibais, an deren Seiten Halterungen für eine Papierrolle angebracht sind. So kann die jeweilige Geschichte Bild für Bild abgerollt werden. Außerdem gibt es die Möglichkeit, das Bildtheater auch mit standfesten Papierfiguren, die vor den Bildern in Schienen geführt werden, oder mit Stabpuppen zu kombinieren. Die Übergänge zum Figurentheater sind dann fließend.

In Japan wurde das Kamishibai früher meistens draußen auf der Straße gespielt. Dazu wurde der Bilderkasten auf dem Gepäckträger eines Fahrrads befestigt und von hier aus dem Publikum vorgestellt. Nach dem Spiel konnte der Spieler, selten auch die Spielerin, den Kasten schließen und sich mit dem Fahrrad schnell und unkompliziert einen neuen Vortragsort suchen. Durch den Gepäckträger war die Größe für den Bilderkasten in etwa vorgegeben. Obwohl Kamishibais heute häufig in Innenräumen gespielt und der Kasten dabei auf den Tisch gestellt wird, ist die Größe des Kastens in etwa gleich geblieben.

Heute gibt es in Japan auch Kamishibais, deren Bildkarten durch digitale Bilder in Tablets ersetzt wurden und so dem Publikum vor Ort präsentiert werden. Diese Form liegt heute insofern nahe, als viele Bilder und Illustrationen gar nicht mehr mit Stift oder Pinsel auf Papier gebracht, sondern gleich mit digitalen Zeichenstiften und Bildbearbeitungsprogrammen erstellt werden. Das Kamishibai von Rossipotti geht noch einen Schritt weiter. Hier wird das digitale Gerät nicht mehr in einen Rahmen gestellt, sondern selbst als Kamishibai genutzt. Dadurch kann es nicht nur einem Publikum vor Ort, sondern im World Wide Web vorgestellt werden. Trotz dieser Erweiterung wäre es natürlich wünschenswert, wenn auch das Rossipotti-Kamishibai zu Live-Performances im echten Raum genutzt werden würde. Denn wie jedes Kamishibai, so lebt auch das Rossipotti-Kamishibai vom interaktiven, direkten Austausch mit dem Publikum. Auf diese Weise wird der Vortrag direkt zum gemeinsamen Erlebnis und kann Menschen viel besser zusammen bringen.

Einsatz des Kamishibais

Jedes Jahr wird weltweit am 7. Dezember der Tag des Kamishibais mit verschiedenen Veranstaltungen gefeiert. Neben dem Ziel, Menschen mit dem Erzähltheater zu unterhalten und zusammen zu bringen, wird das Kamishibai heute vor allem im pädagogischen Bereich als Instrument des bildgestützten Erzählens eingesetzt. Insgesamt soll durch den Einsatz das Verständnis für (Bild)-Sprache und Literatur, die Vorstellungskraft und Kreativität gefördert werden. Außerdem soll das freie mündliche Erzählen oder Vortragen unterstützt werden.

Je nach Altersgruppe gibt es zwar spezifische Einsatzbereiche. Aber in allen Altersstufen werden durch den Einsatz des Kamishibais die Kompetenzen Lesen und Schreiben, Sprechen und Zuhören, Darstellen und Gestalten, Produzieren und Präsentieren gestärkt. Bei gemeinsamen Projekten werden zudem die Kompetenzen Kommunizieren und Kooperieren gefördert.