Anekdote


Bedeutung

Anekdoten plaudern aus dem Nähkästchen meist bekannter Persönlichkeiten. Sie geben vor, dabei zu sein, wenn ein König mit seinen Untertanen eine komische Unterhaltung führt, ein berühmter Wissenschaftler sich seinen Gästen gegenüber merkwürdig verhält oder ein Autor einem lästigen Bewunderer schlagfertig antwortet.
Auf irgend eine Weise finden sie ihren Weg nach draußen und werden dort von Mund zu Mund weiter getragen, dabei möglicherweise sprachlich immer wieder leicht verändert, bis sich vielleicht jemand die Mühe macht, sie aufzuschreiben und zu verbreiten. Sie sind deshalb ihrem Ursprung nach inoffiziell und unveröffentlicht (griechisch anékdota = nicht Herausgegebenes). Und bei vielen Anekdoten ist der Verfasser unbekannt.
Inwieweit die Ereignisse wirklich so passiert sind, weiß niemand so genau. Wie bei Gerüchten kann man bei vielen Anekdoten zwar vermuten, dass sie einen wahren Kern haben oder sich in manchen Fällen vielleicht wirklich so zugetragen haben. Aber im Grunde ist das nicht wichtig. Denn Anekdoten bestechen nicht durch ihren Wahrheitsgehalt, sondern durch ihre verblüffende, treffende und einprägsame Aussage über die beschriebene Person.
Die Anekdote will sich dabei allerdings nicht über die Person lustig zu machen, sondern sie mit der Geschichte kurz und treffend charakterisieren. Dadurch unterscheidet sie sich übrigens von der einfachen Klatschgeschichte, die keinen anderen Zweck hat, als über andere Leute zu tratschen.
Viele Anekdoten gehen bei der Charakterisierung außerdem noch weiter und beschreiben über die Verhaltensweise der Person gleichzeitig einen Menschentyp, eine Gesellschaft oder sogar eine ganze Epoche.

Die folgende Anekdote charakterisiert beispielsweise nicht nur den Mathematiker Gauß, sondern über ihn auch den Typ eines Wissenschaftlers, der sich für nichts anderes als für seine Arbeit und deren Methode interessiert:

Carl Friedrich Gauß hatte keinen Sinn für Musik. Sein Freund Pfaff, der ein großer Musikliebhaber war, versuchte trotzdem immer wieder, den Mathematiker in ein Konzert mit zu nehmen. Endlich hatte er Gauß soweit, dass er mit ihm in ein Beethoven-Konzert ging. Nachdem die Sinfonie zu Ende war und der gewaltige Schlusschor verklungen war, fragte Pfaff seinen Freund Gauß um seine Meinung. Darauf antwortete Gauß: "Und was ist damit bewiesen?"

Eine andere, sehr bekannte Anekdote beschreibt nicht nur die weltfremde Königin Marie Antoinette, sondern wirft auch ein Licht auf die ganze Epoche kurz vor der Französischen Revolution. Hier das arme Volk, dort der überfütterte Adel, der keine Ahnung hat, welche Bedürfnisse sein Volk hat:


Illustration: Katja Spitzer

Marie Antoinette, Ehefrau des französischen Königs Ludwig XVI., soll ihrem Volk sehr distanziert gegenüber gestanden haben. Als man ihr am Vorabend der Revolution erzählte, dass die Armen so arm wären, dass sie kein Brot mehr kaufen könnten, schlug sie so schlagfertig wie hochnäsig vor: „Dann sollen sie Kuchen essen.“

Die selbe Anekdote wurde übrigens auch schon von der Ehefrau Ludwig XIV. erzählt. Anekdoten können also - wie die meisten mündlich verbreiteten Geschichten - wandern und anderen Personen und Situationen angepasst werden.
Die mündlich verbreitete Anekdote ist im allgemeinen literarisch wenig anspruchsvoll. Denn nicht ihre literarische Qualität, sondern die darin vermittelte Botschaft in knapper Form ist wichtig.
Als oft komische, pointierte Geschichte ist sie mit dem Witz und dem Schwank verwandt, als kurze, lehrreiche Geschichte mit dem Aphorismus und dem Epigramm.

Die Anekdote in der Literatur

Neben der mündlich überlieferten Anekdote, wie wir sie heute vor allem kennen,  gab es seit der griechischen Antike auch immer schriftlich fixierte, anekdotenhafte Geschichten.
Plutarch, ein griechischer Philosoph und Autor mehrere Biographien, charakterisierte beispielsweise die von ihm vorgestellten Persönlichkeiten gerne, indem er über halb öffentliche, halb privat ereignete Vorfälle plauderte.
Ihren heutigen Namen erhielt die Anekdote allerdings erst einige Jahrhunderte später im oströmischen Reich durch die Schrift Geheimgeschichte des Kaiserhofs von Byzanz. Anekdota des Historikers Prokopios von Cäsarea (6. Jahrhundert nach Christus). Die Anekdota waren nicht offizielle, geheime, kritische Berichte, die den byzantinischen Hof bloßstellten und im Gegensatz zu den offiziellen Schriften Prokopios von Cäsarea standen.
Wieder einige Jahrhunderte später, im Mittelalter, erzählte man Anekdoten gerne, um in Predigten die Wahrheit eines Satzes hervorzuheben. Außerdem wurden Anekdoten auch in Exempeln, also lehrreichen Beispielsgeschichten, in Chroniken oder Geschichtsschilderungen verwendet.
Einen Boom erlebte die Anekdote im 17. und 18. Jahrhundert in der französischen Memoirenliteratur, die Erinnerungen bedeutender Politiker, Künstler und Wissenschaftler aufzeichnete.

Die Anekdote als selbständig literarische Form findet man seit dem 15. Jahrhundert. Die Autoren schmückten dabei vorhandene, mündlich oder schriftlich überlieferte Anekdoten aus, gestalteten sie um oder erfanden sie ganz neu. Giovanni Boccaccio spickte seine Novellen mit vielen saftigen Anekdoten, die gesellschaftliche Missstände oder persönliche Schwächen zeigten. Und auch Grimmelshausens bereicherte seinen barocken Roman mit vielen Anekdoten über seinen Helden Simplicissimus.
Seit dieser Zeit fing man auch an, Anekdoten in Büchern zu sammeln. Einige Jahrzehnte später tauchten sie dann in Zeitschriften und Kalenderblättern auf.

Zur richtig anerkannten Kunstform wurde die Anekdote durch Heinrich von Kleist, der 1810/1811 einige Anekdoten in den Berliner Abendblättern veröffentlichte. Heute immer noch bekannt ist seine Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege, in der ein Soldat sich ganz in Ruhe mit einem Wirt unterhält, Schnaps trinkt und Pfeife raucht und danach zwischen Tür und Angel drei französische Soldaten nieder streckt.
Nach Kleist machte sich auch Johann Peter Hebel mit seinen anekdotischen Kalendergeschichten einen Namen. Heute gerne zitiert wird seine anekdotenhafte Kalendergeschichte Kannitverstan. In dieser Anekdote reist ein deutscher Handwerker in das niederländische Amsterdam. Immer wieder fragt er Einheimische, was dieses oder jenes zu bedeuten habe, bekommt aber jedes Mal nur ein „Kannitverstan“ als Antwort. Da der deutsche Reisende offensichtlich nicht weiß, dass man in Amsterdam eine andere Sprache spricht, reimt er sich die Antworten so zusammen, dass dort alles und jedes mit dem Herrn Kannitverstan zusammen hängen müsse. Er bewundert und beneidet diesen Herrn Kannitverstan schon aus vollem Herzen, bis ein Leichenwagen vor ihm vorbei fährt. Er fragt einen Mann, der hinter dem Sarg herläuft, wer denn da gestorben wäre? Als dieser ihm wieder mit einem „Kannitverstan“ antwortet, kommt der Handwerker zu dem weisen Schluss, dass es ihm doch wesentlich besser ginge, als dem jetzt offensichtlich toten Herrn Kannitverstan.

http://www.rossipotti.de/ausgabe13/11uhr_termin.html#hebel
http://www.anekdoten-online.de
http://www.schule-bw.de/unterricht/faecheruebergreifende_themen/landesku...